Zwei Tage lag eine dichte, schützende Dunsthülle über dem Fluss. Tom und Sally stakten flussaufwärts, folgten sich dahinschlängelnden Seitenarmen und hielten eine strenge Politik des Schweigens ein. Sie waren Tag und Nacht unterwegs und wechselten sich beim Schlafen ab. Außer Sallys zwei Schokoriegeln hatten sie wenig zu essen, deswegen wurden sie rationiert. Unterwegs pflückten sie etwas Obst.
Von den sie verfolgenden Soldaten sahen sie keine Spur.
Tom hoffte allmählich, dass sie aufgegeben hatten und nach Brus zurückgekehrt waren. Vielleicht waren sie ja auch irgendwo stecken geblieben. Der Fluss wimmelte von Sand-und Schlammbänken sowie versunkenen Baumstämmen, an denen Boote hängen bleiben konnten. Waono hatte Recht gehabt.
Am Morgen des dritten Tages hob sich der Dunst allmählich und enthüllte die beiden tröpfelnden Wände aus wild wuchernder Dschungelvegetation, die den Schwarzwasser-Fluss säumten. Kurz darauf erspähten sie einen über dem Wasser aufragenden Pfahlbau mit geflochtenen Wänden und Reetdach. Dahinter tauchte ein Ufer mit Granitfindlin-gen und einem steilen Uferdamm auf - das erste trockene Land, das sie seit Tagen zu sehen bekamen. Am Ufer des Flusses wurde ein Anlegeplatz wie in Brus erkennbar - eine wackelige Plattform aus Bambusstäben, die an schlanken, in der Erde versunkenen Baumstämmen befestigt war.
»Was meinen Sie?«, fragte Tom. »Sollen wir anhalten?«
Sally stand auf. Auf der Plattform angelte ein Junge mit Pfeil und Bogen.
»Pito Solo?«
Doch der Junge hatte sie gesehen. Er rannte schon davon und ließ seine Rute zurück.
»Machen wir einen Versuch«, sagte Tom. »Wenn wir nichts zu essen kriegen, sind wir erledigt.« Er stakte zum Anlegeplatz.
Sie sprangen aus dem Boot, und die Plattform knackte und wankte beängstigend. Dahinter führte eine wackelige Planke auf eine steile Anhöhe, die aus dem überfluteten Urwald ragte. Kein Mensch weit und breit. Sie kletterten den schlüpfrigen Uferdamm hinauf, wobei sie ständig im Schlamm ausrutschten. Alles war klitschnass. Ganz oben befand sich eine kleine offene Hütte, in der ein Feuer brannte. Ein alter Mann saß in einer Hängematte und briet auf einem Holzspieß ein Tier. Tom beäugte es, wobei ihm der köstliche Duft des bratenden Fleisches in die Nase stieg.
Sein Appetit ließ etwas nach, als er feststellte, dass es sich um einen Affen handelte.
»Hola«, grüßte Sally.
»Hola«, sagte der Mann.
Sally sprach Spanisch. »Ist das hier Pito Solo?«
Langes Schweigen machte sich breit. Der Mann maß sie mit leerem Blick.
»Er spricht kein Spanisch«, sagte Tom.
»Wie kommen wir zum Dorf? Dónde? Wo?«
Der Mann deutete in den Dunst. Ein lauter tierischer Schrei ertönte, der Tom zusammenzucken ließ.
»Da ist ein Pfad«, sagte Sally.
Sie gingen den Pfad hinauf und erreichten kurz darauf den Ort. Er lag auf einer Anhöhe oberhalb des über-schwemmten Regenwaldes und war eine bunt zusammen-gewürfelte Ansammlung von Lehmflechtwerkhütten mit Blech- oder Reetdächern. Hühner ergriffen die Flucht, als sie sich näherten. Magere Hunde pirschten an den Haus-wänden entlang und beäugten sie mit argwöhnischen Blik-ken. Sie schlenderten durch das Dorf, das einen verlassenen Eindruck machte und ebenso plötzlich, wie es angefangen hatte, an einer soliden Dschungelmauer endete.
Sally schaute Tom an. »Was jetzt?«
»Wir klopfen.« Tom wählte willkürlich eine Tür aus und klopfte an.
Stille.
Tom hörte ein Rascheln und schaute sich um. Zuerst sah er nichts, dann wurde ihm klar, dass ihn hundert dunkle Augen aus dem Blättergewirr des Urwaldes musterten. Es waren ausnahmslos Kinder.
»Wenn ich doch noch Süßigkeiten hätte«, sagte Sally.
»Nehmen Sie einen Dollar.«
Sally zückte einen Dollar. »Hallo? Möchte jemand einen amerikanischen Dollar haben?«
Ein Schrei ertönte, dann stürmten hundert Kinder aus dem Dschungelgewoge hervor. Sie schrien und johlten und streckten die Hände aus.
»Wer spricht Spanisch?« Sally hob den Dollar in die Luft.
Alle krakeelten gleichzeitig auf Spanisch los. Ein älteres Mädchen trat aus dem Gewimmel hervor. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte es mit großartiger Körperhaltung und Würde. Sie war etwa dreizehn, hübsch, trug ein T-Shirt mit ineinander verlaufenden Farben, Shorts und goldene Ohrringe.
Dicke braune Zöpfe fielen auf ihre Schultern.
Sally gab ihr den Dollar. Ein lautes und enttäuschtes Ahhh ging durch die Menge. Doch die Kinder schienen es mit Humor zu nehmen. Endlich war das Eis gebrochen.
»Wie heißt du?«
»Marisol.«
»Was für ein schöner Name.«
Das Mädchen lächelte.
»Wir suchen Don Orlando Ocotal. Kannst du uns zu ihm bringen?«
»Er ist vor über einer Woche mit den Yanquis weggegan-gen.«
»Mit welchen Yanquis?«
»Mit einem großen wütenden Gringo. Er hatte überall Stiche im Gesicht. Und mit einem anderen. Er hat immer gelä-chelt und hatte goldene Ringe an den Fingern.«
Tom fluchte und schaute Sally an. »Offenbar hat Philip unseren Führer vor uns erwischt.« Er wandte sich Marisol zu. »Haben sie gesagt, wohin sie wollen?«
»Nein.«
»Gibt es Erwachsene hier im Dorf? Wir wollen flussaufwärts und brauchen einen Führer.«
»Ich kann Sie zu meinem Großvater bringen«, sagte das Mädchen. »Don Alfonso Boswas. Er ist der Bürgermeister hier. Er weiß alles.«
Sie folgten ihr. Marisol wirkte sehr selbstbewusst und fähig, ein Eindruck, den ihre aufrechte Körperhaltung noch verstärkte. Als sie an den schiefen Hütten vorbeigingen, drangen Kochdünste in Toms Nase, die ihn vor Hunger beinahe ohnmächtig werden ließen. Marisol führte sie zur mehr oder weniger schlimmsten Hütte des Dorfes, einem windschiefen Haufen aus dünnen Stämmen, zwischen denen sich fast kein Lehm mehr befand. Sie ragte an einer erdigen Fläche auf, die als Dorfplatz diente. In der Mitte wuchsen einige verwahrloste Zitronen- und Bananenbäu-me.
Vor der Tür machte Marisol ihnen Platz, und sie traten ein. In der Mitte der Hütte saß ein alter Mann auf einem für ihn zu niedrigen Hocker. Seine knochigen Knie durchsta-chen die riesigen Löcher in seiner Hose. Auf seinem fast kahlen Schädel standen ein paar Strähnen weißen Haars in alle Richtungen ab. Er rauchte eine Maiskolbenpfeife, deren Qualm die Hütte mit einem teerartigen Geruch erfüllte.
Neben ihm lag eine Machete auf dem Boden. Er war klein und trug eine Brille, die seine Augen so sehr vergrößerte, dass er wie ständig überrascht wirkte. Es war kaum zu fassen, dass er der Ortsvorstand sein sollte. Er sah eigentlich eher aus wie der ärmste Dorfbewohner.
»Don Alfonso Boswas?«, fragte Tom.
»Wer?«, schrie der Greis. Er riss die Machete an sich und schwenkte sie vor Toms Nase herum. »Boswas? Dieser Lump? Er ist weg. Man hat ihn längst aus dem Dorf gejagt.
Dieser Tunichtgut lebt schon viel zu lange. Er hat den ganzen Tag lang nur rumgesessen, Pfeife geraucht und den Mädchen hinterhergeschaut, die an seiner Hütte vorbeige-gangen sind.«
Tom musterte den Mann überrascht, dann drehte er sich um und suchte nach Marisol. Sie stand im Türrahmen und unterdrückte ein Grinsen.
Der Greis legte die Machete hin und lachte. »Kommen Sie rein, kommen Sie rein. Ich bin Don Alfonso Boswas. Setzen Sie sich. Ich bin nur ein alter Mann, der gern Witze erzählt.
Ich habe zwanzig Enkel und sechzig Urenkel, aber die kommen nie vorbei, um mich zu besuchen. Also muss ich den Fremden Witze erzählen.« Er sprach ein eigenartig gesto-chenes und altmodisches Spanisch.
Tom und Sally zogen sich zwei wacklige Hocker heran.
»Ich bin Tom Broadbent«, sagte Tom. »Und das ist Sally Colorado.«
Der Greis stand auf, verbeugte sich vornehm und setzte sich wieder hin.
»Wir suchen einen Führer. Wir wollen den Fluss hinauf.«
»Hm«, machte Don Alfonso. »Urplötzlich sind alle Yanquis verrückt darauf, flussaufwärts zu fahren und sich im Meambar-Sumpf zu verlaufen, wo sie von Anakondas gefressen werden. Warum?«
Tom zögerte. Die unerwartete Frage verblüffte ihn.
»Wir wollen seinen Vater finden«, sagte Sally. »Maxwell Broadbent. Er ist vor etwa einem Monat mit einer Gruppe von Indianern mit Einbäumen hier durchgekommen. Sie hatten vermutlich viele Kisten bei sich.«
Der Greis schaute Tom aus zusammengekniffenen Augen an. »Kommen Sie her, mein Junge.« Er streckte seine leder-artige Hand aus, packte Toms Arm mit einem schraub-stockähnlichen Griff und zog ihn an sich. Er musterte ihn eingehend, wobei die Brillengläser seine Augen grotesk vergrößerten.
Tom hatte das Gefühl, der Greis blicke in seine Seele.
Nachdem Don Alfonso ihn eine Weile begutachtet hatte, ließ er ihn los. »Ich sehe, dass Sie und Ihre Gattin hungrig sind. - Marisol!« Er sagte etwas in der Sprache der Indianer.
Marisol verschwand. Don Alfonso wandte sich wieder Tom zu. »Dann war das also Ihr Vater, der hier vorbeigekommen ist, was? Sie sehen eigentlich gar nicht verrückt aus.
Normalerweise ist nämlich ein Junge, der einen verrückten Vater hat, ebenfalls verrückt.«
»Meine Mutter war normal«, erklärte Tom.
Don Alfonso lachte brüllend und schlug sich aufs Knie.
»Das ist gut! Sie sind also auch ein Witzbold. Ja, sie haben hier angehalten, um Proviant zu kaufen. Der Weiße war wie ein Bär. Seine Stimme trug fast einen Kilometer weit.
Ich habe ihm gesagt, dass es verrückt ist, sich in den Meambar-Sumpf zu wagen, aber er hat nicht auf mich gehört. Er muss in Amerika ein großer Häuptling sein. Wir haben einen lustigen Abend miteinander verbracht und viel gelacht. Dann hat er mir das hier geschenkt.«
Er griff hinüber, wo einige zusammengefaltete Jutesäcke lagen, kramte mit den Händen darin herum und hielt Tom und Sally dann etwas hin. Die Sonne beleuchtete den Gegenstand. Er glitzerte in der Farbe von Taubenblut. Ein vollkommener Stern erstrahlte in ihm. Don Alfonso legte Tom den Gegenstand in die Hand.
»Ein Sternrubin«, keuchte Tom. Es war ein Edelstein aus der Sammlung seines Vaters. Er war ein kleines, wenn nicht gar ein großes Vermögen wert. Tom empfand plötzlich einen Ansturm von Gefühlen: Es war typisch für seinen Vater, jemanden zu beschenken, den er gut leiden konnte.
Einst hatte er einem Bettler fünftausend Dollar geschenkt, weil dieser ihn mit einer witzigen Bemerkung erheitert hatte.
»Ja, ein Rubin. Er wird es meinen Enkeln ermöglichen, nach Amerika auszuwandern.« Don Alfonso versteckte den Stein sorgfältig wieder zwischen den schmutzigen Jutesäk-ken. »Warum macht Ihr Vater so etwas? Als ich es aus ihm rauskriegen wollte, war er so ausweichend wie ein Coati.«
Tom warf Sally einen kurzen Blick zu. Wie sollte er es nur erklären? »Wir wollen ihn finden. Er ist ... krank.«
Bei diesen Worten riss Don Alfonso die Augen auf. Er nahm die Brille ab, polierte sie mit einem schmutzigen Lumpen und setzte sie schmutziger als zuvor wieder auf.
»Krank? Ist es etwas Ansteckendes?«
»Nein. Er ist, wie man in Ihrer Sprache sagt, ein bisschen loco, mehr nicht. Es geht um ein Spiel, das er mit seinen Söhnen spielt.«
Don Alfonso dachte eine Weile nach, dann schüttelte er den Kopf. »Ich habe Yanquis viele eigenartige Dinge tun sehen, aber dies hier ist mehr als eigenartig. Ich habe das Gefühl, dass Sie mir etwas verschweigen. Doch wenn ich Ihnen helfen soll, müssen Sie mir alles erzählen.«
Tom seufzte und schaute Sally an. Sie nickte. »Er hat nicht mehr lange zu leben. Er ist mit seinem gesamten Besitz flussaufwärts gefahren, um sich bestatten zu lassen. Und er hat uns die Aufgabe gestellt, sein Grab zu finden, wenn wir unser Erbe haben wollen.«
Don Alfonso nickte, als sei dies die natürlichste Sache der Welt. »Ja, ja, so etwas haben wir Tawahka-Indianer früher auch gemacht. Wir haben uns mit unserem Besitz bestatten lassen und unsere Söhne verärgert. Aber dann kamen die Missionare und haben uns erklärt, dass Jesus uns im Himmel neue Dinge schenkt und wir die Toten ohne Beigaben bestatten sollen. Also haben wir den Brauch aufgegeben.
Aber ich glaube, dass die alte Methode besser war. Außerdem weiß ich nicht genau, ob Jesus wirklich alles für die Verstorbenen hat. Die Bilder, die ich von ihm gesehen habe, zeigen einen armen Mann ohne Kochtöpfe, Schweine, Hühner und Schuhe. Er hatte nicht einmal eine Ehefrau.«
Don Alfonso zog laut die Nase hoch. »Aber vielleicht ist es auch besser, wenn man seinen Besitz mit ins Grab nimmt, weil sich die Söhne dann nicht darum streiten. Sie streiten sich doch schon darum, wenn man noch lebt. Deswegen habe ich alles, was mir gehört, meinen Söhnen und Töchtern geschenkt und lebe wie ein armer Hund. Es ist respek-tabel, so zu leben. Nun haben meine Söhne keinen Grund, sich um etwas zu streiten und ... Was noch wichtiger ist: Sie wollen gar nicht, dass ich sterbe.«
Er beendete seine Rede und klemmte sich die Pfeife wieder zwischen die Zähne.
»Sind noch andere Weiße hier vorbeigekommen?«, fragte Sally.
»Vor zehn Tagen haben zwei Einbäume mit vier Männern hier Rast gemacht. Es waren zwei Weiße und zwei Bergindianer. Ich dachte, der Jüngere könnte vielleicht Jesus Christus sein, aber in der Missionsschule habe ich erfahren, dass er nur ein Hippie ist. Sie sind einen Tag geblieben und dann weitergefahren. Dann sind vor einer Woche vier Einbäume mit Soldaten und zwei Gringos hier angekommen. Sie haben Don Orlando als Führer eingestellt und sind weitergezogen. Deswegen frage ich mich, warum plötzlich all diese verrückten Yanquis in den Meambar-Sumpf wollen. Suchen sie alle nach dem Grab Ihres Vaters?«
»Ja. Es sind meine beiden Brüder.«
»Warum suchen Sie nicht zusammen?«
Tom antwortete nicht.
»Sie haben die Bergindianer erwähnt«, sagte Sally, »die mit dem ersten Weißen hier waren. Wissen Sie, woher sie kamen?«
»Es waren nackte Wilde aus dem Hochland, die sich rot und schwarz anmalen. Sie sind keine Christen. Wir hier in Pito Solo sind ein bisschen christlich. Nicht sehr, aber es reicht, um als Christen durchzugehen, wenn die Missionare mit ihrem nordamerikanischen Essen und den Medikamen-
ten da sind. Dann singen und klatschen wir für Jesus. So bin ich zu meiner neuen Brille gekommen.« Don Alfonso nahm sie ab und hielt sie Tom hin, damit er sie begutachten konnte.
»Don Alfonso«, sagte Tom, »wir brauchen einen Führer, der uns flussaufwärts bringen kann. Außerdem brauchen wir Proviant und Ausrüstung. Können Sie uns helfen?«
Don Alfonso stieß ein Rauchwölkchen aus, dann nickte er.
»Ich bringe Sie hin.«
»Oh, nein«, sagte Tom und schaute den schwachen Greis erschrocken an. »Darum habe ich nicht gebeten. Wir können Sie doch nicht aus dem Dorf entführen, wo man Sie braucht.«
»Mich soll jemand brauchen? Hier würden sich alle freuen, wenn sie den alten Don Alfonso endlich los wären!«
»Aber Sie sind doch der Häuptling.«
»Häuptling? Pah!«
»Es wird eine sehr lange Reise werden«, meinte Tom.
»Das ist doch nichts für einen Mann Ihres Alters.«
»Ich bin noch immer so stark wie ein Tapir! Ich bin jung genug, um noch mal zu heiraten. Offen gesagt, ich brauche dringend eine Sechzehnjährige, die den leeren Platz in meiner Hängematte einnimmt und mich jeden Abend mit leisen Seufzern und Küssen in den Schlaf bumst ...«
»Don Alfonso ...«
»Ich brauche eine Sechzehnjährige, die mich scharf macht und mir die Zunge ins Ohr schiebt, damit ich morgens mit den Vögeln aufstehe. Sie brauchen sich jetzt keine Sorgen mehr zu machen: Ich, Don Alfonso Boswas, werde Sie durch den Meambar-Sumpf führen.«
»Nein«, sagte Tom so entschlossen, wie er nur konnte.
»Das werden Sie nicht tun. Wir brauchen einen jüngeren Führer.«
»Es ist unvermeidlich. Ich habe geträumt, dass Sie kommen und dass ich mit Ihnen gehe. Es ist so beschlossen. Ich spreche Englisch und Spanisch, aber Spanisch ist mir lieber.
Ich habe Angst vor dem Englischen. Die Sprache klingt so, als würde jemand erwürgt.«
Tom schaute Sally wütend an. Der Greis war unmöglich.
In diesem Moment kehrte Marisol mit ihrer Mutter zurück. Beide trugen mit Palmwedeln belegte Schneidebretter aus Holz, auf denen frische heiße Tortillas, gebratene Bananen, geröstetes Fleisch, Nüsse und frisches Obst lagen.
Tom war noch nie im Leben so hungrig gewesen. Er und Sally fingen gleich an zu schlemmen, wobei Don Alfonso ihnen half und Marisol und ihre Mutter in zufriedenem Schweigen zuschauten. Während des Essens erstarb das Gespräch. Als Tom und Sally fertig waren, nahm die Frau schweigend die Teller an sich, füllte sie erneut, und dann noch ein drittes Mal.
Als sie satt waren, lehnte Don Alfonso sich zurück und wischte sich den Mund ab.
»Hören Sie«, sagte Tom so amtlich wie möglich. »Ob Sie es nun geträumt haben oder nicht, Sie kommen nicht mit. Wir brauchen einen jüngeren Mann.«
»Oder eine Frau«, sagte Sally.
»Ich nehme zwei junge Männer mit: Chori und Pingo. Ich bin außer Don Orlando der Einzige, der den Weg durch den Meambar-Sumpf kennt. Ohne Führer werden Sie sterben.«
»Ich muss Ihr Angebot ablehnen, Don Alfonso.«
»Sie haben nicht mehr viel Zeit. Die Soldaten sind hinter Ihnen her.«
»Sie waren hier?«, fragte Tom erschrocken.
»Sie waren heute Morgen da. Und sie kommen zurück.«
Tom schaute Sally an, dann wandte er sich wieder Don Alfonso zu. »Wir haben nichts Schlimmes getan. Ich kann Ihnen erklären ...«
»Sie brauchen nichts zu erklären. Die Soldaten sind böse.
Wir müssen sofort Maßnahmen ergreifen. - Marisol?«
»Ja, Großvater?«
»Wir brauchen Planen, Zündhölzer, Benzin, Zweitakter-Maschinenöl, Werkzeug, eine Bratpfanne, einen Kochtopf, Bestecke und Feldflaschen.« Er ratterte eine ganze Liste von Gegenständen herunter.
»Haben Sie Medikamente?«, fragte Tom.
»Dank der Missionare haben wir viele nordamerikanische Medikamente. Wir haben Jesus eifrig beklatscht, um an sie heranzukommen. - Marisol, sag den Leuten, sie sollen uns die Sachen zu einem angemessenen Preis verkaufen.«
Marisol eilte hinaus. Ihre Zöpfe flogen. Kaum zehn Minuten später kehrte sie zurück und führte eine Gruppe alter Männer, Frauen und Kinder an, die alle irgendetwas dabei-hatten. Don Alfonso blieb in der Hütte. Niedere Tätigkeiten wie Handel waren unter seiner Würde. Marisol hielt die Menge in Schach.
»Kauft, was ihr wollt, und sagt den anderen, sie sollen gehen«, empfahl Marisol. »Sie werden euch den Preis nennen.
Feilscht nicht herum; das ist bei uns nicht üblich. Sagt nur Ja oder Nein. Die Preise sind angemessen.«
Sie sprach laut auf die zerlumpten Menschen ein, die sich in einer Linie aufbauten und sich reckten.
»Die wird mal hier Häuptling werden«, sagte Tom auf Englisch zu Sally, als sein Blick auf die ordentlich ausge-richtete Warteschlange fiel.
»Ist sie jetzt schon.«
»Wir sind so weit«, erklärte Marisol. Sie deutete auf den ersten Mann in der Reihe. Er trat vor und hielt ihnen fünf alte Jutesäcke hin.
»Vierhundert«, sagte Marisol.
»Dollar?!«
»Lempiras.«
»Wie viele Dollar sind das?«, fragte Tom.
»Zwei.«
»Wir nehmen sie.«
Der nächste Mann trat mit einem großen Sack Bohnen, einem Sack losem trockenem Getreide und einem unbeschreiblich zerbeulten Aluminiumtopf mit Deckel vor. Der ursprüngliche Griff fehlte, doch an seiner Stelle befand sich ein wunderschön geschnitzter und eingeölter Ersatz aus Hartholz. »Einen Dollar.«
»Wir nehmen alles.«
Der Mann legte die Gegenstände ab und zog sich zurück.
Dann trat der nächste vor und bot ihnen zwei T-Shirts, zwei schmutzige Shorts, eine Trucker-Mütze und ein nagelneues Paar Turnschuhe der Marke Nike an.
»Na, endlich hab ich was zum Wechseln«, meinte Tom. Er schaute sich die Schuhe an. »Zufällig ist das sogar meine Größe. Das muss man sich mal vorstellen: Da findet man ausgerechnet hier ein nagelneues Paar Air Jordans.«
»Die werden hier hergestellt«, erklärte Sally. »Haben Sie den Schwitzbuden-Skandal schon vergessen?«
»Keineswegs.«
Die Warenprozession ging weiter: Kunststoffplanen, Säk-ke mit Bohnen und Reis, getrocknetes und geräuchertes Fleisch, über das Tom sich Fragen zu stellen verbiss; Bananen, ein 150-Liter-Benzinfass, eine Tüte Salz. Eine ganze Reihe von Leuten war mit Dosen eines besonders starken, vorzüglichen Insektenabwehrmittels aufgetaucht, das Tom höflich ablehnte.
Plötzlich verstummte die Menge. Tom hörte in der Ferne das Summen eines Außenbordmotors. Marisol ergriff sofort das Wort: »Kommen Sie mit in den Wald. Schnell!«
Die Menge löste sich rasch auf. Im Dorf wurde es still, es wirkte wieder wie ausgestorben. Marisol ging ihnen ruhig in den Wald voraus, wobei sie einem fast unsichtbaren Pfad folgte. Zwischen den Bäumen waberte zwielichtiger Dunst dahin. Rings um sie her war überall Sumpf, doch der Pfad schlängelte sich hier und da entlang und blieb stets auf festem Boden. Hinter ihnen verstummten die Geräusche aus dem Dorf, dann hüllte der Schutz des Waldes sie ein. Nach einer zehn Minuten langen Wanderung blieb Marisol stehen.
»Wir warten hier.«
»Wie lange?«
»Bis die Soldaten weg sind.«
»Was ist mit unserem Boot?«, fragte Sally. »Werden sie es nicht erkennen?«
»Wir haben Ihr Boot schon versteckt.«
»Das war eine gute Idee. Danke.«
»Gern geschehen.« Das selbstbewusste Mädchen richtete den Blick seiner dunklen Augen wieder auf den Pfad und wartete so reglos und still wie ein Reh.
»In welche Schule gehst du?«, fragte Sally kurz darauf.
»In die der Baptisten. Sie liegt flussabwärts.«
»Eine Missionsschule?«
»Ja.«
»Bist du Christin?«
»Aber ja«, sagte Marisol und schaute Sally mit einem erns-ten Blick an. »Sie nicht?«
Sally errötete. »Nun ... ähm ... Meine Eltern waren Christen.«
»Das ist gut«, sagte Marisol lächelnd. »Würde mir nicht gefallen, wenn Sie in die Hölle kämen.«
»Tja«, sagte Tom in die unbehagliche Stille hinein. »Marisol, ich würde gern wissen, ob es außer Don Alfonso noch jemanden im Dorf gibt, der den Weg durch den Meambar-Sumpf kennt.«
Marisol schüttelte ernst den Kopf. »Er ist der Einzige.«
»Ist der Sumpf schwierig zu durchqueren?«
»Und wie.«
»Warum ist er so sehr darauf aus, uns zu führen?«
Marisol schüttelte nur den Kopf. »Das weiß ich nicht. Er hat Träume und Visionen, und davon hat er auch geträumt.«
»Er hat wirklich geträumt, dass wir kommen?«
»Aber ja. Als der erste Weiße kam, hat er gesagt, bald kämen auch seine Söhne. Und jetzt sind Sie da.«
»Vielleicht hat er's ja nur vermutet und einen Glückstref-fer gelandet«, sagte Tom auf Englisch.
In der Ferne fiel ein Schuss und warf sein Echo durch den Urwald. Dann noch einer. Er rollte wie Donner, da der Dschungel ihn auf eigenartige Weise verzerrte. Es dauerte lange, bis das Echo verhallte. Die Auswirkungen des Geräusches auf Marisol waren schrecklich. Sie wurde bleich, zitterte und wankte. Aber sie sagte nichts und rührte sich nicht von der Stelle. Tom empfand Bestürzung. War jemand erschossen worden?
»Die erschießen doch da niemanden?«, fragte er.
»Ich weiß nicht.«
Tom sah, dass Marisols Augen sich mit Tränen füllten.
Doch sie verriet kein Gefühl.
Sally tastete nach Toms Hand. »Vielleicht erschießen sie jemanden, weil sie uns nicht finden können. Vielleicht sollten wir uns stellen.«
»Nein«, sagte Marisol jäh. »Vielleicht schießen sie nur in die Luft. Wir können jetzt nur abwarten.« Eine einzelne Träne lief ihr über die Wange.
»Wir hätten nie hier anhalten sollen«, sagte Sally und wechselte wieder ins Englische. »Wir haben kein Recht, diese Leute in Gefahr zu bringen. Tom, wir müssen ins Dorf zurück und uns den Soldaten stellen.«
»Sie haben Recht.« Tom wandte sich zum Gehen.
»Wenn Sie zurückkehren, werden sie uns erschießen«, sagte Marisol. »Gegen die Soldaten sind wir machtlos.«
»Damit kommen sie nicht ungestraft durch«, sagte Sally mit bebender Stimme. »Ich melde es der amerikanischen Botschaft. Die Soldaten werden ihrer Strafe nicht entgegen.«
Marisol schwieg. Sie stand nun wieder still da, wie ein Reh, und zitterte kaum merklich. Aber sie weinte nicht mehr.