Tom, der sich gerade noch rechtzeitig umdrehte, sah den brennenden menschlichen Meteor namens Hauser mit einem matten Aufflackern absolut still durch die Dunst-schichten segeln, bevor er schließlich verschwand und nur eine schwache Rauchfahne hinterließ.
In der Mitte der Brücke, wo Hauser sich befunden hatte, stand alles in Flammen.
»Von der Brücke runter!«, schrie Tom. »Lauft!«
Sie rannten, so schnell sie konnten, stützten ihren Vater und näherten sich den Soldaten, die sich zwar rasch auf festen Boden zurückzogen, doch weiterhin das Ende der Brücke blockierten. Sie wirkten verwirrt und unsicher und hatten die Gewehre erhoben. Ihnen war alles zuzutrauen.
Zwar hatte Hausers letzter Befehl gelautet, sie passieren zu lassen, aber würden sie sich daran halten?
Der Anführer der Truppe, ein Leutnant, hob seine Waffe und schrie: »Halt!«
»Lasst uns vorbei!«, rief Tom auf Spanisch. Sie eilten weiterhin auf die Soldaten zu.
»Nein. Zurück!«
»Hauser hat befohlen, uns passieren zu lassen!« Tom merkte, wie die Brücke bebte. Das brennende Tau würde jede Sekunde reißen.
»Hauser ist tot«, sagte der Leutnant. »Ich erteile jetzt die Befehle.«
»Die Brücke brennt, um Himmels willen!«
Ein Lächeln legte sich auf das Gesicht des Leutnants. »Ja.«
Wie aufs Stichwort fing die Brücke an zu schaukeln. Tom, sein Vater und seine Brüder wurden auf die Knie geschleudert. Ein Tau war gerissen und warf einen Funkenschauer in den Abgrund. Die Brücke wippte unter der plötzlich nachlassenden Spannung.
Tom rappelte sich auf und half seinen Brüdern, ihren Vater wieder auf die Beine zu hieven.
»Ihr müsst uns vorbeilassen!«
Der Leutnant antwortete mit einer dicht über ihnen da-hinfliegenden Salve. »Ihr sterbt mit der Brücke. Das ist mein Befehl! Die Weiße Stadt gehört jetzt uns!«
Tom schaute sich um. Rauch und Flammen stiegen vom Mittelteil der Brücke auf. Sie wurden vom Aufwind ge-speist. Dann sah er, dass das zweite Haltetau bereits im Begriff war, sich aufzudröseln. Schon spuckte es brennende Fasern in die Luft.
»Festhalten!«, schrie er und packte seinen Vater.
Das Tau riss mit einem gewaltigen Ruck, und der gesamte Brückenboden sank wie ein herabgelassener Vorhang nach unten. Sie klammerten sich an die beiden verbliebenen Taue und gaben sich alle Mühe, ihren geschwächten Vater festzuhalten. Die Brücke peitschte wie eine Sprungfeder hin und her.
»Ob's nun Soldaten sind oder nicht«, sagte Tom. »Wir müssen von hier runter, verdammt noch mal.«
Mit den Füßen auf dem unteren und den Händen am oberen Tau hangelten sie sich voran und halfen ihrem Vater, so gut sie nur konnten.
Der Leutnant und die Soldaten traten zwei Schritte vor.
»Fertig machen zum Feuern!« Die Männer knieten sich in eine stabile Schussposition und legten an.
Tom und seine Familie waren nun noch sieben oder acht Meter von festem Boden entfernt. Die Soldaten konnten sie eigentlich nicht verfehlen. Er wusste: Sie hatten keine andere Wahl. Sie mussten weitergehen, auf die Männer zu, die sie gleich töten würden.
Das dritte Tau riss wie eine Sprungfeder. Der Rückstoß der Brücke hätte sie beinahe alle in die Tiefe geschleudert.
Jetzt hingen die Trümmer nur noch an einem Tau und schwangen hin und her.
Der Leutnant richtete sein Schießeisen auf sie. »Ihr sterbt jetzt«, bellte er auf Englisch.
Ein Knall ertönte, doch er kam nicht aus seiner Waffe. Auf dem Gesicht des Leutnants war ein erstaunter Ausdruck.
Dann schien er vor ihnen eine Verbeugung zu machen. Ein langer Pfeil steckte in seinem Hinterkopf. Unter den Soldaten brach mit einem Schlag größte Verwirrung aus. Im gleichen Moment kam vom Waldrand ein Heulen, das Tom das Blut in den Adern gefrieren ließ. Dem Geheul folgte eine heftige Pfeilsalve. Tara-Krieger ergossen sich aus dem Dschungel. Sie rannten und sprangen laut schreiend über das flache Gelände und feuerten im Laufen noch mehr Pfeile ab. Die restlichen Soldaten, von diesem unerwarteten Flankenangriff völlig überrascht, warfen panisch ihre Waffen fort, um zu fliehen. Sie wurden jedoch auf der Stelle in menschliche Nadelkissen verwandelt, da Dutzende von Pfeilen sie trafen. Bevor sie zu Boden fielen, taumelten sie wie trunkene Stachelschweine umher.
Kurz darauf erreichten Tom und seine Brüder festen Boden - exakt in dem Moment, in dem das letzte Tau in einer riesigen Funkenwolke riss. Die beiden brennenden Brük-kenenden flogen träge auf die Wände der Schlucht zu, um wie ein brennender Trümmerregen gegen sie zu knallen.
Es war vorbei. Die Brücke war nicht mehr.
Tom schaute nach vorn und sah Sally, die sich gerade aus den Büschen erhob und auf sie zulief. Sie stützten ihren Vater und gingen ihr entgegen, wobei die Tara-Krieger ihnen halfen. Als sie Sally erreichten, schloss Tom sie in die Arme. Sie umarmten sich, und Kniich, der nun wieder sicher in Toms Tasche saß, quäkte ungehalten, da er sich zwischen ihnen großem Druck ausgesetzt sah.
Tom schaute zurück. Die beiden im Abgrund hängenden Brückenhälften brannten noch. Ein halbes Dutzend Männer waren nun in der Weißen Stadt gefangen. Sie standen am Rand des Abgrundes und stierten die herabhängenden Reste an. Dann stiegen wieder Dunstschwaden auf und verhüllten nach und nach die schweigenden, bestürzt dreinblickenden Gestalten.