Zweieinhalb Tage nach der Attacke der Schlange, als sie erneut durch einen endlosen Wasserkanal stakten, fiel Tom auf, dass der Sumpf heller wurde und Sonnenschein durch die Wipfel fiel. Dann ließen die beiden Einbäume den Meambar-Sumpf mit verblüffender Schnelligkeit hinter sich. Es war, als kämen sie in eine andere Welt. Sie befanden sich am Rand eines riesigen Sees, dessen Wasser so schwarz war wie Tinte. Die Sonne des Spätnachmittags brach durch die Wolken, und Tom spürte eine Woge der Erleichterung, weil sie endlich im Freien waren und das grüne Gefängnis des Dschungels sie ausgespuckt hatte. Eine frische Brise vertrieb die Schwarzfliegen. Tom erblickte am anderen Ufer blaue Hügel und dahinter die verschwommene Linie einer sich in die Wolken windenden Bergkette.
Don Alfonso richtete sich am Bug des Bootes auf und breitete die Arme aus. Die in seiner faltigen Faust sichtbare Maiskolbenpfeife ließ ihn wahrhaftig wie eine Vogelscheu-che wirken. »Die schwarze Lagune!«, rief er. »Wir haben den Meambar-Sumpf durchquert! Ich, Don Alfonso Boswas, habe uns den Weg gewiesen!«
Chori und Pingo ließen die Motoren zu Wasser und schal-teten sie ein. Die Boote fuhren auf das gegenüberliegende Seeufer zu. Tom lehnte sich gegen den Ausrüstungsstapel und genoss den köstlichen Luftstrom, während Kniich, das Äffchen, aus seiner Hemdtasche kletterte und auf seinem Kopf thronend mitfuhr. Dabei schloss er die Augen, schnalzte mit der Zunge und schnatterte zufrieden vor sich hin. Tom hatte fast vergessen, wie sich kühle Luft auf der Haut anfühlte.
Sie lagerten an einem Sandstrand auf der anderen Seite des Sees. Chori und Pingo gingen auf die Jagd und kehrten eine Stunde später mit einem ausgenommenen und zerlegten Hirschen zurück. Die blutigen Teile hatten sie in Palmwedel gewickelt.
»Ausgezeichnet!«, rief Don Alfonso. »Heute Abend essen wir Hirschkoteletts, Tomas. Alles Übrige räuchern wir für den Rest der Reise!«
Er briet die Lendenstücke über dem Feuer, während Pingo und Chori gleich nebenan über einem zweiten Feuer ein Räuchergestell bauten. Tom schaute interessiert zu, als sie mit den Macheten fachmännisch lange Fleischstreifen ab-schnitten und aufhängten. Dann stapelten sie feuchtes Holz auf das Feuer und erzeugten so wohlriechende Rauchwol-ken.
Die Koteletts waren bald fertig. Don Alfonso verteilte sie.
Als sie aßen, brachte Tom eine Frage auf, die er schon lange hatte stellen wollen: »Wie geht es von hier aus weiter, Don Alfonso?«
Don Alfonso warf einen Knochen hinter sich in die Dunkelheit. »Fünf Flüsse strömen in die Schwarze Lagune. Wir müssen herauskriegen, welchen Ihr Vater hinaufgefahren ist.«
»Wo entspringen sie?«
»Ihre Quellen liegen in den Bergketten im Landesinnern.
Einige kommen aus der Cordillera Entre Rios, manche aus der Sierra Patuca und manche aus der Sierra de la Neblinas.
Der Macaturi ist der längste Fluss. Er entspringt in der Sierra Azul, die auf halbem Weg zum Pazifik liegt.«
»Kann man Boote auf den Flüssen navigieren?«
»Angeblich in den unteren Abschnitten.«
»Angeblich?«, fragte Tom. »Dann waren Sie also noch nicht dort?«
»Keiner aus meinem Volk war je dort. Das Land da drüben ist sehr gefährlich.«
»Wieso?«, fragte Sally.
»Die Tiere dort fürchten keine Menschen. Dort gibt es Erdbeben, Vulkane und böse Geister. Und außerdem eine Dämonenstadt, aus der nie jemand zurückkehrt.«
»Eine Dämonenstadt?«, fragte Vernon plötzlich interessiert.
»Ja. La Ciudad Bianca. Die Weiße Stadt.«
»Was ist das für eine Stadt?«
»Die Götter haben sie erbaut. Ist lange her. Jetzt besteht sie nur noch aus Ruinen.«
Vernon nagte an einem Knochen, dann warf er ihn ins Feuer. Schließlich sagte er ernst: »Das ist die Antwort.«
»Auf welche Frage?«
»Auf die Frage, wo Vater hingegangen ist.«
Tom schaute ihn an. »Du machst ziemlich große Sprünge.
Woher willst du das wissen?«
»Ich weiß es nicht. Aber das ist genau der Ort, an den Va-
ter gehen würde. Eine solche Geschichte würde ihm gefallen. Er würde sie bestimmt überprüfen. Außerdem basieren solche Geschichten oft auf der Wahrheit. Ich wette, er hat dort eine versunkene Stadt gefunden, irgendeine große alte Ruine.«
»Aber in diesem Gebirge gibt es angeblich keine Ruinen.«
»Wer sagt das?« Vernon nahm ein weiteres Kotelett von den Palmwedeln und ließ es sich schmecken.
Tom fielen die Worte des rotgesichtigen Derek Dunn ein: Dass Anakondas angeblich keine Menschen fraßen. Er wandte sich Don Alfonso zu. »Ist die Existenz der Weißen Stadt allgemein bekannt?«
Don Alfonso nickte langsam. Sein Gesicht verzog sich zu einer faltigen Maske. »Man redet darüber.«
»Und wo liegt sie?«
Don Alfonso schüttelte den Kopf. »Sie liegt nicht an einem bestimmten Ort. Sie wandert über die höchsten Gipfel der Sierra Azul, ist stets an einem anderen Ort und verbirgt sich im Bergnebel.«
»Dann ist sie ein Mythos.« Tom schaute Vernon an.
»Oh, nein, Tomas, es gibt sie wirklich. Es heißt, man kann sie nur erreichen, indem man eine bodenlose Schlucht überquert. Wer ausrutscht und stürzt, stirbt vor Angst, und dann stürzt der Körper weiter ab, bis er nur noch aus Knochen besteht, die immer weiter in die Tiefe fallen, bis sie sich voneinander lösen. Und am Ende ist dann nur noch eine Wolke aus Knochenstaub übrig, die dann eine Ewigkeit lang in die Finsternis fällt.«
Don Alfonso schob ein Holzscheit in die Flammen. Tom schaute zu, wie er anfing zu qualmen und Feuer fing. Die Flammen verzehrten ihn von allen Seiten. Die Weiße Stadt.
»Heutzutage gibt es keine versunkenen Städte mehr«, sagte Tom.
»Da irren Sie sich«, sagte Sally. »Es gibt Dutzende, vielleicht sogar Hunderte. Sie liegen in Kambodscha, Burma, in der Wüste Gobi - und besonders hier, in Mittelamerika. Wie die Ausgrabungsstätte Q.«
»Die Ausgrabungsstätte Q?«
»Aus ihr strömt die Beute seit dreißig Jahren nur so heraus und treibt die Archäologen in den Wahnsinn. Man weiß, dass es sich um eine große Stadt der Mayas handeln muss, die irgendwo im guatemaltekischen Tiefland liegt, aber man kann sie nicht finden. Inzwischen nehmen Räuber sie Stein für Stein auseinander und verkaufen sie auf dem Schwarzmarkt.«
»Vater hat sich in Bars rumgetrieben«, sagte Vernon. »Er hat für Indianer, Holzfäller und Goldprospektoren Runden geschmissen und ihrem Tratsch über Ruinen und versunkene Städte gelauscht. Er hat sogar mehrere indianische Sprachen gelernt. Weißt du noch, Tom, dass er sie auf Din-nerpartys manchmal gesprochen hat?«
»Ich hab immer geglaubt, er hätte sie erfunden.«
»Hör mal«, sagte Vernon. »Denk doch einen Augenblick nach. Vater würde doch nicht selbst eine Grabkammer bauen, um sich darin bestatten zu lassen. Er würde einfach eine von denen nehmen, die er längst ausgeraubt hat.«
Eine Weile sagte niemand ein Wort. Dann meinte Tom:
»Vernon, das ist genial.«
»Und er hat die einheimischen Indianer dazu bewegt, ihm zu helfen.«
Das Feuer knisterte. Es herrschte Totenstille.
»Aber Vater hat nie etwas über eine Weiße Stadt erzählt«, warf Tom ein.
Vernon lächelte. »Genau. Und weißt du warum? Weil es die Stadt ist, in der er seine große Entdeckung gemacht hat
-weil es die Stadt ist, in der alles anfing. Als er hier ankam, war er pleite, und als er zurückkehrte, hatte er eine Bootsla-dung voller Schätze bei sich und hat dann seine Galerie aus dem Boden gestampft.«
»Es klingt logisch.«
»Da hast du verdammt Recht. Ich wette alles, was ich habe, dass er dorthin zurückgekehrt ist, um sich bestatten zu lassen! Der Plan ist perfekt. In dieser so genannten Weißen Stadt muss es jede Menge vorhandene Grabkammern geben. Vater wusste, wo sie sind, weil er sie selbst ausgeplündert hat. Er brauchte nur zurückzukehren und sich mit Hilfe einheimischer Indianer in einer dieser Kammern nieder-zulassen. Die Weiße Stadt existiert wirklich, Tom.«
»Ich bin davon überzeugt«, sagte Sally.
»Ich weiß sogar, wie Vater sich die Hilfe der Indianer erkauft hat«, sagte Vernon mit einem breiter werdenden Lächeln.
»Und wie?«
»Erinnerst du dich noch an die Quittungen, die der Polizist aus Santa Fe in Vaters Haus für diese schönen französischen und deutschen Kochtöpfe gefunden hat? Vater hat sie vor seinem Verschwinden bestellt. Damit hat er die Einheimischen bezahlt - mit Kochtöpfen!«
Don Alfonso räusperte sich laut und demonstrativ. Als er die Aufmerksamkeit der anderen auf sich gezogen hatte, sagte er: »Das ist doch alles albern.«
»Und wieso?«
»Weil niemand die Weiße Stadt betreten kann. Ihr Vater hätte sie nie finden können. Und selbst wenn er sie gefunden hätte - sie wird von Dämonen bewohnt, die Menschen töten und ihnen die Seele rauben. Dort gibt es Winde, die einen zurückwehen, und Nebel, die Auge und Geist verwirren. Und eine Quelle, die die Erinnerung auslöscht.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Nein, das ist unmöglich.«
»Welchen Fluss muss man nehmen, um dorthin zu gelangen?«
Don Alfonso runzelte die Stirn. Seine großen Augen hinter den verschmutzten Brillengläsern schauten überaus unglücklich drein. »Was wollen Sie mit diesem nutzlosen Wissen anstellen? Ich habe doch gesagt, dass es unmöglich ist.«
»Es ist nicht unmöglich. Außerdem wollen wir dorthin.«
Don Alfonso verbrachte eine geraume Weile damit, Tom anzustarren. Dann seufzte er. »Der Macaturi wird Sie einen Teil des Weges bringen, aber weiter als zu den Wasserfällen kommt man nicht. Die Sierra Azul liegt viele Tage hinter den Fällen, hinter Bergen, Tälern und noch mehr Bergen.
Man kann unmöglich dorthin reisen. Auch Ihr Vater kann es nicht geschafft haben.«
»Sie kennen unseren Vater nicht, Don Alfonso.«
Don Alfonso stopfte seine Pfeife. Sein besorgter Blick wanderte über das Feuer. Er schwitzte. Die Hand, mit der er die Pfeife hielt, zitterte.
»Morgen«, sagte Tom, »fahren wir den Macaturi hinauf und machen uns auf den Weg in die Sierra Azul.«
Don Alfonso stierte in die Flammen.
»Kommen Sie mit, Don Alfonso?«
»Es ist mein Schicksal, mit Ihnen zu kommen, Tomas«, erwiderte er leise. »Natürlich werden wir alle sterben, bevor wir die Sierra Azul erreichen. Aber ich bin ein alter Mann.
Ich bin bereit zu sterben und vor den heiligen Petrus zu treten. Aber es wird mich traurig stimmen zu sehen, dass Chori und Pingo sterben - und Vernon und die Curandera, die so hübsch ist und noch viele Jahre der Liebe vor sich hat. Und es wird sehr traurig für mich sein, Sie sterben zu sehen, Tomas, weil Sie nun mein Freund sind.«