Eine halbe Stunde später sah Tom Bewegung im Urwald.
Eine alte Frau mit Kopftuch schlenderte über den Pfad. Marisol eilte mit einem Schluchzen zu ihr hin, dann sprachen sie schnell in ihrer eigenen Sprache miteinander.
Marisol wandte sich mit einem deutlich erleichterten Blick zu Tom und Sally um. »Es ist, wie ich gesagt habe. Die Soldaten haben nur in die Luft geschossen, um uns Angst zu machen. Dann sind sie gegangen. Wir haben sie überzeugt, dass Sie nicht bei uns im Dorf waren und nicht vorbeigekommen sind. Sie sind wieder flussabwärts gefahren.«
Als sie zur Hütte kamen, stand Don Alfonso im Freien, schmauchte seine Pfeife und wirkte so unbekümmert, als sei nichts geschehen. Sobald er sie sah, verzog sich sein Gesicht zu einem Lächeln. »Chori! Pingo! Kommt her. Kommt raus und begrüßt unsere neuen Yanqui-Bosse! - Chori und Pingo sprechen kein Spanisch. Sie sprechen nur Tawahka, aber ich brülle sie immer auf Spanisch an, um meine Autorität zu demonstrieren. Das müssen Sie übrigens genauso machen.«
Zwei prächtig gebaute Kerle kamen geduckt aus der Hütte. Sie waren von der Taille aufwärts nackt, und ihre muskulösen Leiber glänzten ölig. Die Arme des Mannes, der Pingo hieß, wiesen westlich wirkende, sein Gesicht indianische Tätowierungen auf. Er hielt eine meterlange Machete in der Hand. Chori trug ein altes Springfield-Gewehr über der Schulter. In der Hand hielt er eine Pulaski-
Feuerwehraxt.
»Wir werden das Boot jetzt beladen. Wir müssen das Dorf so schnell wie möglich verlassen.«
Sally schaute Tom kurz an. »Offenbar ist Don Alfonso doch unser Führer.«
Als Chori und Pingo die Vorräte und die Ausrüstung zum Flussufer brachten, leitete Don Alfonso sie schreiend und gestikulierend an. Ihr Einbaum war wieder da und sah aus, als habe man ihn nie von der Stelle bewegt. Eine halbe Stunde später war alles eingeladen. Die Ausrüstung ruhte als großer Haufen in der Mitte des Bootes und war unter einer Kunststoffplane festgezurrt. Inzwischen hatte sich eine Menschenmenge am Ufer versammelt. Kochfeuer wurden angezündet. Sally wandte sich an Marisol. »Du bist ein wunderbares Mädchen«, sagte sie. »Du hast uns das Leben gerettet. Ist dir eigentlich klar, dass du noch viel im Leben erreichen kannst?« Marisol schaute sie ruhig an. »Ich möchte nur eines erreichen.«
»Und zwar?«
»Amerika.« Sonst sagte sie nichts. Sie schaute Sally nur mit ernster, intelligenter Miene an.
»Ich hoffe, du schaffst es«, erwiderte Sally. Marisol lächelte zuversichtlich und richtete sich auf. »Ich werde es schaffen. Don Alfonso hat es versprochen. Er hat einen Rubin.«
Am Flussufer wimmelte es nun von Menschen. Ihre Abreise schien sich zu einem Fest zu entwickeln. Eine Gruppe junger Frauen bereitete über einem Feuer ein Essen für die ganze Gemeinschaft zu. Kinder liefen umher, spielten, lach-
ten und jagten Hühner. Als sich schließlich das gesamte Dorf versammelt zu haben schien, schritt Don Alfonso durch die Menge, die ihm Platz machte. Er trug nagelneue Shorts und ein T-Shirt, auf dem »Keine Angst« stand. Als er sich zu Tom und Sally auf den Bambuskai gesellte, verzog er das Gesicht zu einem Lächeln.
»Alle sind gekommen, um uns eine gute Reise zu wünschen«, sagte er zu Tom. »Da sehen Sie mal, wie beliebt ich in Pito Solo bin. Ich bin ein ganz besonderer Don Alfonso Boswas. Jetzt haben Sie den Beweis, dass Sie den richtigen Mann ausgewählt haben, um Sie durch den Meambar-Sumpf zu führen.«
In der Nähe wurden ein paar Feuerwerkskörper gezündet.
Die Menschen lachten vergnügt. Die Frauen verteilten das Essen. Don Alfonso nahm Tom und Sally an der Hand.
»Wir steigen jetzt ins Boot.«
Chori und Pingo, noch immer bis zur Taille nackt, hatten ihre Plätze schon eingenommen; der eine am Bug, der andere am Heck. Sie hielten die Leinen und waren zum Ablegen bereit. Dann stieg auch Don Alfonso ein. Als er das Gleichgewicht gefunden hatte, drehte er sich um und wandte sich an die Menge. Schweigen senkte sich über die Versammlung: Don Alfonso wollte eine Rede halten. Als absolute Stille eingekehrt war, fing er an. Er sprach in einem amtlich klingenden Spanisch.
»Meine Freunde und Landsleute, vor vielen Jahren wurde uns prophezeit, dass weiße Menschen kommen und ich sie auf eine lange Reise begleite. Jetzt sind sie hier. Wir brechen nun zu einer gefährlichen Fahrt durch die MeambarSümpfe auf. Wir werden Abenteuer erleben und viele seltsame und wunderbare Dinge schauen, die noch kein Mensch zuvor gesehen hat.
Ihr fragt euch vielleicht, warum ich diese großartige Reise mache. Ich will es euch erzählen. Dieser Amerikaner ist zu uns gekommen, um seinen Vater zu retten, der den Verstand verloren und seine Gattin und seine Familie verlassen hat. Er hat auch all seine Besitztümer mitgenommen, sodass seine Familie in Armut leben muss. Seine arme Frau hat jeden Tag bittere Tränen um ihn geweint, da sie ihre Familie nicht mehr ernähren und vor wilden Tieren beschützen kann. Ihr Haus stürzt ein, das Reet ist verfault, und es regnet durchs Dach. Niemand will die Schwestern dieses Amerikaners heiraten, deswegen werden sie sich bald der Hurerei hingeben müssen. Seine Neffen sind dem Alkohol verfallen. Dieser junge Mann,
sein Sohn, ist gekommen, um ihn von seinem Wahnsinn zu heilen und nach Amerika zurückzubringen, wo er ein hohes Alter erreichen und in seiner Hängematte sterben kann, ohne seiner Familie weiterhin Ehrlosigkeit und Hunger zu bescheren. Dann werden seine Schwestern Ehemänner finden und seine Neffen und Nichten sich um seine Milpas kümmern, und dann kann er an heißen Nachmittagen Do-mino spielen und braucht nicht mehr zu arbeiten.«
Die Dorfbewohner waren von seiner Rede wie vom Donner gerührt. Tom fand, dass Don Alfonso in der Tat ein be-gnadeter Redner war.
»Vor langer Zeit, meine Freunde, hatte ich den Traum, dass ich euch auf diese Weise verlasse, dass ich eine große Reise ans Ende der Welt mache. Ich bin jetzt hunderteinundzwanzig Jahre alt, und endlich ist mein Traum wahr geworden. Nicht viele Menschen können in meinem Alter eine solche Reise unternehmen. In meinen Adern ist noch viel Blut, und würde meine Rosita noch leben, hätte sie jeden Tag Grund zum Lächeln.
Auf Wiedersehen, meine Freunde, euer geliebter Don Alfonso Boswas verlässt das Dorf mit Tränen der Trauer in den Augen. Vergesst mich nicht und erzählt meine Geschichte euren Kindern, die sie auch den ihren erzählen sollen, bis zum Ende aller Zeiten.«
Lauter Jubel erklang. Feuerwerkskörper knallten, und sämtliche Hunde fingen an zu bellen. Einige alte Männer schlugen in einem verzwickten Rhythmus Stöcke aneinander. Das Boot wurde in die Strömung hinausgeschoben.
Der Bug schnitt durchs Wasser. Don Alfonso blieb stehen.
Er winkte der wild jubelnden Menge und warf ihr Kuss-händchen zu, bis das Boot die nächste Flussbiegung über-wunden hatte.
»Ich hab das Gefühl, als wären wir gerade mit dem Zauberer von Oz mit einem Ballon gestartet«, sagte Sally.
Don Alfonso nahm endlich Platz. Er wischte sich die Tränen aus den Augen. »Da seht ihr mal, wie sie ihren Don Alfonso Boswas lieben.« Er machte es sich auf dem Vorrats-stapel bequem, zückte seine Maiskolbenpfeife, stopfte sie mit Tabak und fing mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck an zu paffen.
»Sind Sie wirklich hunderteinundzwanzig Jahre alt?«, fragte Tom.
Don Alfonso zuckte die Achseln. »Niemand weiß, wie alt er wirklich ist.«
»Ich aber schon.«
»Haben Sie jedes Jahr seit Ihrer Geburt gezählt?«
»Nein, das haben andere für mich getan.«
»Dann wissen Sie es also auch nicht genau.«
»Sicher weiß ich es. Es steht auf meiner Geburtsurkunde.
Der Arzt, der mich zur Welt gebracht hat, hat sie unterschrieben.«
»Wer ist dieser Arzt? Und wo ist er jetzt?«
»Keine Ahnung.«
»Glauben Sie wirklich einem nutzlosen Stück Papier, das ein Fremder unterzeichnet hat?«
Tom schaute den Greis an. Diese irre Logik machte ihn fertig. »In Amerika gibt es einen Beruf für Menschen wie Sie«, sagte er. »Wir nennen sie Rechtsanwälte.«
Don Alfonso lachte laut und schlug sich aufs Knie. »Das ist ein guter Witz. Sie sind wie Ihr Vater, Tomasito, er ist auch ein sehr komischer Mensch.« Er kicherte eine Weile vor sich hin und paffte. Tom packte die Landkarte von Honduras aus und nahm sie in Augenschein.
Don Alfonso musterte sie mit kritischen Blicken, dann riss er sie Tom aus der Hand. Er untersuchte sie zuerst von der einen, dann von der anderen Seite. »Was ist das? Nordamerika?«
»Nein, der Südosten von Honduras. Das da ist der Río Patuca, und dort liegt Brus. Das Dorf Pito Solo müsste sich hier befinden, aber es ist nicht eingezeichnet. Der Meambar-Sumpf scheint auch nicht drauf zu sein.«
»Dann existieren wir und der Meambar-Sumpf laut dieser Karte also gar nicht. Passen Sie bloß auf, dass diese überaus wichtige Landkarte trocken bleibt. Vielleicht können wir sie eines Tages verwenden, um ein Feuer anzuzünden.« Don Alfonso lachte über seinen Scherz und deutete auf Chori und Pingo, die den Hinweis verstanden und ihrer Erheite-rung ebenfalls Ausdruck gaben, obwohl sie keines seiner Worte verstanden hatten. Don Alfonso lachte sich schief und schlug sich auf den Schenkel, bis ihm die Tränen kamen.
»Wir haben unsere Reise gut begonnen«, sagte er, als er wieder zu Atem gekommen war. »Wir werden bei unserem Ausflug sehr viel lachen und Spaß haben. Das ist auch gut so, denn sonst macht der Sumpf uns irre und wir sterben.«