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Hausers Augen suchten den Boden ab, lasen ihn wie ein Buch: Ein festgetretenes Samenkorn. Ein geknickter Grashalm. Von einem Blatt gewischter Tau. Spurenlesen hatte er in Vietnam gelernt. Nun wies ihm jede Einzelheit die genaue Richtung, die die Broadbents genommen hatten. Ebenso gut hätten sie Brotkrumen verstreuen können. Mit der Steyr AUG im Vorhalt folgte er schnell und methodisch ihrer Route. Es ging ihm nun besser. Er war entspannter, fast friedlich gestimmt. Er hatte die Jagd schon immer als etwas eigenartig Verlockendes empfunden. Nichts war mit dem Gefühl vergleichbar, eine menschliche Beute zu jagen.

Es war tatsächlich das gefährlichste Spiel überhaupt.

Seine nichtswürdigen Soldaten gruben und sprengten noch immer am anderen Ende der Stadt. Gut. Damit hatten sie eine Beschäftigung. Die Jagd auf Broadbent und seine Söhne war die Aufgabe eines einsamen Jägers, der ungesehen durch den Urwald pirschte. Für derlei Dinge konnte man einen lärmenden Trupp von schwachsinnigen Soldaten nicht gebrauchen. Hauser war im Vorteil. Er wusste, dass die Broadbents unbewaffnet waren und die Brücke überqueren mussten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er sie einholen würde.

Sobald sie ins Gras gebissen hatten, konnte er die Gruft in aller Ruhe plündern, den Codex und die tragbaren Kunstwerke mitnehmen und den Rest später abholen. Nun, da er Skiba weich geklopft hatte, wusste er ziemlich genau, dass er mehr als nur fünfzig Millionen aus ihm herauspressen konnte. Vielleicht sogar viel mehr. Die Schweiz war eine gute Basis. Von diesem Land aus ließ es sich operieren. So hatte Broadbent es ja auch gemacht: Er hatte Antiquitäten fragwürdiger Herkunft über die Schweiz verschoben und behauptet, sie entstammten einer alten Schweizer Sammlung.

Zwar ließen sich seine Meisterwerke nicht auf dem freien Markt verkaufen, da sie schlichtweg zu berühmt waren und jeder wusste, dass sie ihm gehörten, aber unter der Hand waren sie bestimmt da und dort zu verscherbeln. Es gab immer einen saudischen Scheich, einen japanischen Indus-triellen oder einen amerikanischen Milliardär, der ein schönes Gemälde besitzen wollte und sich nicht groß für seine Herkunft interessierte.

Hauser gebot diesen angenehmen Phantasien Einhalt und richtete seine Aufmerksamkeit auf den Boden. Auch da war der Tau von einem Blatt gewischt. Und dort befand sich ein Blutfleck auf dem Boden. Er folgte der Fährte in einen verfallenen Gang und schaltete seine Lampe ein. Von einem Stein gekratztes Moos. Ein Fußabdruck auf dem weichen Boden. Jeder Idiot konnte diese Spuren lesen.

Hauser folgte den Markierungen, so schnell er nur konnte. Er fühlte sich wie ein Bluthund. Als er in ein riesiges Gehölz eintauchte, erblickte er eine besonders deutliche Fährte: Die Broadbents hatten auf ihrer kopflosen Flucht einen Haufen verfaultes Laub aufgerührt.

Zu eindeutig. Hauser blieb stehen. Er lauschte. Dann duckte er sich und untersuchte sorgfältig den Boden. Amateurhaft. Der Vietcong hätte sich kaputtgelacht: ein umgeboge-ner junger Baum, eine unter Blättern versteckte Lianen-schlinge; ein fast unsichtbarer Stolperdraht. Hauser wich vorsichtig einen Schritt zurück, nahm einen Stock, der - wie günstig - in der Nähe lag, und schob ihn unter die Fußan-gel.

Ein Knacken. Der junge Baum schoss in die Höhe, die Schlinge zog sich zusammen. Hauser spürte ein plötzliches Lüftchen und ein Ziehen an seinem Hosenbein. Er schaute nach unten. In der losen Bügelfalte seiner Hose steckte ein kleiner Pfeil. Von seiner im Feuer gehärteten Spitze tropfte eine dunkle Flüssigkeit.

Der Giftpfeil hatte ihn um knapp zweieinhalb Zentimeter verfehlt.

Hauser verharrte eine ganze Weile. Er musterte jeden Quadratzentimeter des ihn umgebenden Bodens, jeden Baum und jeden Ast. Als er befriedigt feststellte, dass hier keine weitere Falle auf ihn lauerte, beugte er sich vor, um den Pfeil aus der Khakihose zu ziehen. Dann hielt er erneut inne - gerade noch rechtzeitig. Aus dem Pfeilkörper ragten zwei fast unsichtbare Stacheln hervor. Auch sie waren nass vom Gift. Bei dem Versuch, sie zu packen, hätten sie sich in seine Finger gebohrt.

Hauser griff sich einen Zweig und schnippte den Pfeil von seinem Hosenbein.

Äußerst gerissen. Drei Fallen in einer. Einfach und effek-tiv. Das hatte er zweifellos dem Indianer zu verdanken.

Hauser bewegte sich nun etwas langsamer voran - und mit mehr Respekt.

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