An diesem Abend lag Tom in der Hängematte und pflegte seinen bandagierten Arm. Vernon hatte sich gut erholt und ging Don Alfonso fröhlich bei der Zubereitung irgendeines unbekannten Vogels zur Hand, den Chori fürs Abendessen erlegt hatte. Im Innern des Unterstandes war es stickig, trotz der hochgerollten Seiten.
Tom hatte Bluff erst vor dreißig Tagen verlassen, aber ihm kam es wie eine Ewigkeit vor. Seine Pferde, die roten Sand-steinfelsen vor dem blauen Himmel, der alles überflutende Sonnenschein und die über den Hügeln von San Juan krei-senden Adler ... All dies schien dem Leben eines anderen Mannes zu entstammen. Es war eigenartig ... Er war mit seiner Verlobten Sarah nach Bluff gezogen. Sie war eine Pferdenärrin und hielt sich ebenso gern in der Natur auf wie er. Doch dann hatte Bluff sich als zu ruhig für sie erwiesen, und eines Tages hatte sie ihre Klamotten in den Wagen gepackt und war gegangen. Da Tom kurz zuvor einen hohen Bankkredit aufgenommen hatte, um seine Tierarztpraxis aufzubauen, war ihm ein Rückzieher unmöglich gewesen. Er hatte es auch nicht gewollt. Nach Sarahs Abreise war ihm klar geworden, dass er Bluff gewählt hätte, falls er sich zwischen ihr und dem Ort hätte entscheiden müssen. Das war zwei Jahre her. Seither hatte er keine Beziehung gehabt. Er redete sich ein, dass er keine brauchte.
Er redete sich ein, dass das ruhige Leben und die schöne Landschaft im Moment für ihn reichten. Die Praxis machte eine Menge Arbeit, auch wenn er kaum etwas verdiente. Er war zwar der Meinung, dass er einer lohnenswerten Tätigkeit nachging, aber es war ihm nie gelungen, diese Sehn-sucht loszuwerden, die er für die Paläontologie empfand: die Spannung, im Fels eingeschlossene Knochen von groß-artigen Dinosauriern zu suchen. Vielleicht hatte sein Vater ja Recht gehabt. Vielleicht hätte er im Alter von zwölf Jahren über diesen Ehrgeiz hinauswachsen sollen.
Tom drehte sich in der Hängematte. Sein Arm pochte. Er warf Sally einen Blick zu. Die Trennwand war hochgerollt, damit die Luft besser zirkulierte. Sie lag in ihrer Hängematte und las eines der Bücher, die Vernon mit auf die Reise genommen hatte. Es hieß »Utopia«. Utopia. Genau das hatte er in Bluff zu finden gehofft. Aber in Wirklichkeit war er vor etwas davongelaufen - zum Beispiel vor seinem Vater.
Tja, aber jetzt lief er nicht mehr vor ihm davon.
Im Hintergrund rief Don Alfonso Chori und Pingo Anweisungen zu. Bald trieb der Duft bratenden Fleisches durch die Hütte. Tom schaute Sally an und beobachtete sie beim Lesen. Sie blätterte die Seiten um, strich ihr Haar zurück, seufzte, las die nächste Seite. Auch wenn sie eine echte Nervensäge war -sie war schön.
Sally legte das Buch beiseite. »Was gucken Sie denn so?«
»Ist das Buch gut?«
»Ausgezeichnet.« Sie lächelte. »Wie geht's Ihnen?«
»Bestens.«
»Wie Sie Vernon gerettet haben ... Indiana Jones hätte es nicht besser hinkriegen können.«
Tom zuckte die Achseln. »Na ja, ich schau doch nicht zu, wie so eine Schlange meinen Bruder frisst.« Eigentlich hatte er nicht darüber reden wollen. »Erzählen Sie mir doch mal was über Ihren Verlobten, diesen Professor Clyve.«
»Tja ...« Sally lächelte nachdenklich. »Ich bin nach Yale gegangen, um bei ihm zu studieren. Er ist mein Doktorva-ter. Wir sind ... Tja, wer würde sich nicht in Julian verlieben? Er ist brillant. Nie werde ich den Tag vergessen, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Es war beim wöchentlichen Fakultätsbesäufnis. Ich hatte geglaubt, er wäre einer der üblichen Akademikertypen, aber ... Mann!
Er sieht aus wie Tom Cruise.«
»Mann.«
»Natürlich ist ihm sein Aussehen völlig gleichgültig. Für Julian zählt nur der Geist - nicht der Körper.«
»Aha.« Tom konnte nicht anders. Er musste Sallys Körper anschauen. Ihr Äußeres war der Beweis, dass Julians reine Intellektualität eine Lüge war. Julian war ein Mann wie jeder andere auch - nur wohl weniger aufrichtig als die meisten.
»Er hat kürzlich ein Buch veröffentlicht: Die Entschlüsse-lung der Maya-Sprache. Er ist im wahrsten Sinn des Wortes ein Genie.«
»Haben Sie den Tag Ihrer Hochzeit schon festgelegt?«
»Julian hält nichts von Hochzeiten. Wir gehen zu einem Friedensrichter.«
»Was ist mit Ihren Eltern? Werden die nicht enttäuscht sein?«
»Ich habe keine Eltern.«
Tom spürte, wie er errötete. »Tut mir Leid.«
»Braucht Ihnen nicht Leid zu tun«, sagte Sally. »Mein Vater starb, als ich elf war, und meine Mutter ist vor zehn Jahren verstorben. Ich habe mich daran gewöhnt - das heißt, so weit man sich an so was eben gewöhnen kann.«
»Dann wollen Sie diesen Burschen also wirklich heiraten?«
Sally schaute ihn an. Eine kurze Stille entstand. »Was soll das heißen?«
»Nichts.« Wechsle das Thema, Tom. »Erzählen Sie mir was über Ihren Vater.«
»Er war Cowboy.«
Yeah, genau, dachte Tom. Wahrscheinlich so ein reicher Cowboy, der Kennpferde gezüchtet hat. »Ich wusste nicht, dass es diese Spezies noch gibt«, sagte er höflich.
»Es gibt sie noch. Nur machen sie nicht das, was man aus Filmen kennt. Echte Cowboys sind Arbeiter, die nur zufällig auf einem Pferderücken sitzen. Sie kriegen kaum mehr als den Mindestlohn und haben keine höhere Schulbildung.
Dafür haben sie ein Alkoholproblem und erleiden in der Regel vor dem vierzigsten Geburtstag eine schwere Verletzung oder sterben. Mein Vater war Vormann auf einer Rin-derranch im Süden von Arizona, die einem Großunterneh-men gehört. Er ist bei Reparaturarbeiten von einer Wind-mühle gefallen und hat sich das Genick gebrochen. Man hätte ihn nicht beauftragen dürfen, da raufzuklettern, aber der Richter hat entschieden, dass es seine eigene Schuld war, weil er getrunken hatte.«
»Tut mir Leid. Ich wollte nicht herumschnüffeln.«
»Es ist gut, wenn man darüber redet. Sagt zumindest mein Psychotherapeut.«
Tom wusste nicht genau, ob dies witzig oder ehrlich gemeint war, aber er beschloss, auf Nummer sicher zu gehen.
Vermutlich gingen die meisten Menschen in New Haven zu einem Psychotherapeuten. »Ich hatte mir vorgestellt, Ihr Vater besäße eine eigene Ranch.«
»Haben Sie mich etwa für ein reiches Töchterchen gehalten?«
Tom errötete. »Tja, irgendwie wohl schon. Immerhin studieren Sie ja in Yale ... Und so wie Sie reiten können ...« Er dachte an Sarah. Er hatte für den Rest seines Lebens genug von reichen Töchtern. Und nun hatte er auch Sally dafür gehalten.
Sally lachte, aber es klang verbittert. »Ich hab um jede Kleinigkeit, die ich besitze, kämpfen müssen. Und das schließt Yale mit ein.«
Tom spürte, dass er noch mehr errötete. Er war völlig auf dem falschen Dampfer gewesen. Sally glich Sarah nicht im Geringsten.
»Trotz dieser Unzulänglichkeiten«, fuhr Sally fort, »war mein Vater ein wunderbarer Mensch. Er hat mir das Reiten und Schießen beigebracht und mir gezeigt, wie man mit Rindern richtig umgeht. Nach seinem Tod ist Mutter mit uns nach Boston gezogen, wo ihre Schwester lebte. Sie hat als Kellnerin im Red Lobster gearbeitet, um mich durchzu-
bringen. Ich ging aufs Framingham State College, weil es das einzige war, das ich nach meiner ziemlich miesen Gymnasialbildung besuchen konnte. Als ich im College war, starb meine Mutter. An einem Aneurysma. Es kam sehr plötzlich. Für mich war es fast das Ende der Welt. Und dann ist doch noch etwas Gutes passiert. Ich hatte eine An-thropologielehrerin, die mir zu entdecken half, dass Lernen Spaß macht und ich nicht nur eine blöde Blondine bin. Sie glaubte an mich. Sie wollte, dass ich meinen Doktor mache.
Ich war fast so weit, aber dann entwickelte ich Interesse an pharmazeutischer Biologie, und so bin ich bei der Enthnopharmakologie gelandet. Ich hab mich halb tot ge-schuftet, um in Yale meinen Doktor zu machen. Und dort habe ich Julian kennen gelernt. Ich werde nie den Tag vergessen, an dem ich ihn zum ersten Mal sah. Es war auf einer Sherry-Party der Fakultät. Er stand mitten im Raum und erzählte eine Geschichte. Julian kann wunderbar Geschichten erzählen. Ich habe mich nur zu der Menge gesellt und zugehört. Er sprach über seine erste Reise nach Copán.
Er sah so ... schneidig aus. Genau wie ein Forscher aus den alten Zeiten.«
»Sicher«, sagte Tom. »Klar.«
»Und was ist mit Ihrer Kindheit?«, fragte Sally. »Wie war die?«
»Ich würde lieber nicht darüber reden.«
»Das ist aber ungerecht, Tom.«
Tom seufzte. »Ich hatte eine langweilige Kindheit.«
»Lassen Sie mich das beurteilen.«
»Wo soll ich anfangen? Wir wurden sozusagen in einem Schloss geboren. In einem riesigen Anwesen mit Schwimm-becken, Gärtner, einer im Haus wohnenden Köchin, Stal-lungen und fünfhundert Hektar Grund. Unser Vater hat uns mit allem überschüttet. Er hatte viel mit uns vor. Er hatte ein ganzes Regal voller Bücher über Kindererziehung und sie auch alle gelesen. In jedem stand das Gleiche: Fang mit den höchsten Erwartungen an. Als wir Säuglinge waren, spielte er uns Bach und Mozart vor und pflasterte unsere Zimmerwände mit Gemälden alter Meister. Als wir Lesen lernten, wimmelte es im ganzen Haus von Etiketten, auf denen alles Mögliche stand. Wenn ich morgens aufstand, sah ich als Erstes Schildchen mit Aufschriften wie ZAHNBÜRSTE, WASSERHAHN und SPIEGEL. Sie starrten mich aus jeder Zimmerecke an. Mit sieben sollte jeder von uns sich ein Musikinstrument aussuchen. Ich hätte gern Schlagzeug gespielt, aber mein Vater bestand auf etwas Klassischem. Also lernte ich Klavier. Einmal pro Woche >Country Gardens< bei der schrillen Miss Greer. Vernon lernte Oboe. Philip musste Violine spielen. Sonntags gingen wir nicht zur Kirche - unser Vater war Atheist -, sondern zogen uns schnieke an und spielten ihm etwas vor.«
»Oh, Gott.«
»Oh, Gott ist richtig. Beim Sport lief es auch so. Jeder von uns musste sich eine Sportart aussuchen. Aber nicht zum Spaß oder zur Leibesertüchtigung, sondern um uns auszu-zeichnen. Wir wurden in die besten Privatschulen gesteckt.
Jede Minute des Tages unterlag einem Terminplan: Reitun-terricht, Tutoren, private Sportlehrer für Fußball und Tennis, Computerkurse. Und zu Weihnachten Skireisen nach Taos oder Cortina d'Ampezzo.«
»Wie grässlich. Und wie war Ihre Mutter?«
»Wir hatten drei Mütter. Wir sind Halbbrüder. In der Liebe hatte unser Vater sozusagen Pech.«
»Und er hat das Sorgerecht für alle drei Kinder bekommen?«
»Was Max haben will, kriegt er auch. Es waren keine net-ten Scheidungen. Unsere Mütter waren kein bedeutender Bestandteil unseres Lebens. Meine starb schon, als ich noch klein war. Vater wollte uns selbst aufziehen. Er wollte nicht, dass sich jemand einmischt. Er wollte drei Genies erschaffen, die die Welt verändern sollten. Er wollte unsere Berufe aussuchen. Sogar unsere Freundinnen.«
»Tut mir Leid. Was für eine grauenhafte Kindheit.«
Tom wechselte die Stellung in der Hängematte. Sallys Kommentar verärgerte ihn irgendwie. »Ich würde Cortina zur Weihnachtszeit nicht grauenhaft nennen. Irgendwie hat es uns allen doch was gebracht. Ich habe gelernt, Pferde zu mögen. Philip hat sich in die Gemälde der Renaissance verliebt. Und Vernon - tja, er hat sich irgendwie darin verliebt, heute hier und morgen da zu sein.«
»Er hat also Ihre Freundinnen ausgesucht?«
Tom wünschte sich, er wäre weniger deutlich gewesen.
»Er hat's versucht.«
»Und?«
Tom merkte, wie er errötete. Er konnte nichts dagegen tun. Die Erinnerung an Sarah - die vollkommene, schöne, intelligente, begabte und reiche Sarah - stürmte einfach auf ihn ein.
»Wer war sie?«, fragte Sally.
Frauen wussten offenbar immer alles. »Nur ein Mädchen, das mein Vater mir vorstellte. Die Tochter eines Freundes.
Es war - welch eine Ironie - das einzige Mal, dass ich wirklich etwas wollte, das auch er wollte. Ich bin mit ihr ausgegangen. Wir haben uns verlobt.«
»Und dann?«
Tom schaute Sally intensiv an. Sie wirkte mehr als neugierig. Er fragte sich, was das zu bedeuten hatte. »Hat nicht ge-klappt.« Dass er sie eines Abends auf einem Kerl reitend in ihrem gemeinsamen Bett überrascht hatte, verschwieg er lieber. Sarah kriegte, was sie haben wollte. Das Leben ist zu kurz, hatte sie gesagt, und ich möchte nun mal alle seine As-pekte kennen lernen. Was ist daran falsch? Sie konnte sich eben nichts versagen.
Sally schaute ihn noch immer neugierig an. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ihr Vater war wirklich 'ne Type. Er hätte ein Buch zum Thema Wie man Kinder nicht erziehen soll schreiben können.«
Tom spürte, wie seine Verärgerung zunahm. Er wusste, dass er es nicht sagen sollte. Er wusste, dass es ihm Arger einbringen würde, aber er konnte sich nicht zurückhalten.
»Mein Vater hätte Julian sicher geliebt.«
Urplötzlich machte sich Stille breit. Tom spürte, dass Sally ihn anschaute. »Wie bitte?«
Obwohl er wusste, dass es besser gewesen wäre, den Mund zu halten, sagte er: »Ich meine damit, dass Julian genau der Mensch ist, den mein Vater aus uns machen wollte.
Einen Burschen, der mit sechzehn in Stanford studiert, ein berühmter Professor in Yale wird und - wie Sie es ausgedrückt haben - ein Genie im wahrsten Sinne des Wortes ist.«
»Ich werde diese Bemerkung keiner Antwort würdigen«, erwiderte Sally steif. Ihr Gesicht war rot vor Zorn, und sie nahm den Roman wieder an sich und las weiter.