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Sieben Wochen waren vergangen, seit Tom und seine Brüder sich am Tor des väterlichen Landsitzes versammelt hatten, doch es kam ihnen wie ein ganzes Leben vor. Nun hatten sie es endlich geschafft. Sie hatten die Grabkammer erreicht.

»Weißt du, wie man sie öffnet?«, fragte Philip.

»Nein.«

»Vater muss es rausgekriegt haben«, sagte Vernon.

»Schließlich hat er die Gruft einst geplündert.«

Borabay steckte einige Brandfackeln in die Felsspalten, dann nahmen sie eine gründliche Untersuchung der Tür vor, die zur Grabkammer führte. Sie bestand aus massivem Fels und saß in einem weißen Kalksteinrahmen. Sie verfügte weder über ein Schlüsselloch noch über Knöpfe oder verborgene Hebel. Das die Grabkammer umgebende Gestein befand sich im Naturzustand, sah man einmal davon ab, dass zu beiden Seiten der Tür mehrere Löcher in den Fels gebohrt waren. Als Tom sich zu so einem Loch hinab-beugte, spürte er eine kühle Brise - die Gruft war offenbar mit Luftlöchern versehen.

Als sie die nähere Umgebung der Grabkammer untersuchten, erhellte sich der Himmel im Osten mit dem ersten Licht der Morgendämmerung. Sie klopften an die Tür, sie riefen, sie schlugen auf die Tür ein, stemmten sich gegen sie und ließen nichts unversucht, um sie zu öffnen. Nichts zeigte Wirkung. Eine Stunde verging, doch die Tür bewegte sich nicht.

»So geht's nicht«, sagte Tom schließlich. »Wir müssen ganz anders an die Sache rangehen.«

Alle zogen sich auf den nahe gelegenen Sims zurück. Die Sterne waren verschwunden. Hinter den Bergen hellte sich der Himmel auf. Sie hatten eine atemberaubende Aussicht über eine fantastische Wildnis aus gezackten weißen Gipfeln, die wie Zähne aus dem weichen grünen Gaumen des Dschungels ragten.

»Wenn wir uns die zerstörten Türen anschauen, kriegen wir vielleicht raus, wie es geht«, meinte Tom.

Sie nahmen den Weg zurück, den sie gekommen waren, und stießen vier, fünf Türen weiter auf eine aufgebrochene Gruft. Die Tür war in der Mitte gespalten; eine Hälfte war nach außen gefallen. Borabay zündete eine neue Fackel an und blieb unschlüssig vor der Tür stehen.

Er drehte sich zu Philip um. »Ich Feigling«, sagte er und reichte ihm die Fackel. »Du mutiger als ich, Brüderchen. Du gehen.«

Philip klopfte Borabay kurz auf die Schulter, dann nahm er die Fackel und betrat die Gruft. Tom und Vernon schlös-sen sich ihm an.

Der Raum war nicht groß. Er maß etwa fünf Quadrat-meter. In der Mitte ragte eine Steinplattform auf. Auf ihr hockte eine eingewickelte Mumie - noch immer aufrecht, die Knie bis zum Kinn hinaufgezogen, die Hände im Schoß gefaltet. Die langen schwarzen Haare des Toten waren im Nacken zu einem Zopf geflochten, seine vertrockneten Lippen ließen die Zähne sehen. Der Unterkiefer hing herab; er schien einen Gegenstand ausgespuckt zu haben. Als Tom genauer hinsah, sah er, dass es sich um eine Insektenlarve aus Jade handelte. Die Mumie hielt einen glatten, etwa fünf-undvierzig Zentimeter langen und mit Schriftzeichen verzierten Holzstab in der Hand und war von Grabbeigaben in Form von Terrakotta-Figürchen, zerbrochenen Töpfen und beschrifteten Steintafeln umgeben.

Tom hockte sich hin, um in Erfahrung zu bringen, wie die Tür sich bewegen ließ. Eine Rille verlief über den Steinboden. In sie waren glatte Steinwalzen eingesetzt, auf denen die Tür ruhte. Da die Walzen nicht befestigt waren, nahm Tom eine an sich und reichte sie Philip. Philip musterte sie von allen Seiten.

»Es ist ein einfacher Mechanismus«, erklärte er. »Man versetzt die Tür ins Rollen, dann geht sie von selbst auf. Die Frage ist nur: Wie versetzt man sie ins Rollen?«

Sie untersuchten die Tür von allen Seiten, fanden aber keine offensichtliche Antwort. Als sie die Gruft verließen, wartete Borabay auf sie. Seine Miene zeugte von Angst.

»Was finden?«

»Nichts«, sagte Philip.

Als Vernon aus der Gruft kam, hielt er den Holzstab in der Hand, den die Mumie umklammert hatte. »Was ist das, Borabay?«

»Schlüssel zu Unterwelt.«

Vernon lächelte. »Interessant.« Als sie zur Grabkammer ihres Vaters zurückkehrten, nahm er den Stab mit. »Komisch, dass er so perfekt in die Luftlöcher passt«, sagte er.

Er schob den Stab in mehrere Löcher hinein, bis er in einem beinahe stecken blieb. »Man kann die aus den Löchern kommende Luft deutlich spüren.« Er ging von einem Loch zum anderen, prüfte die Luftströme mit der Hand und blieb dann stehen. »Hier ist eins, aus dem keine Luft dringt.«

Er schob den Stab hinein. Nach rund fünfunddreißig Zentimetern ging es nicht mehr weiter. Zehn Zentimeter ragten ins Freie. Vernon hob einen schweren glatten Stein auf und reichte ihn Philip.

»Die Ehre gebührt dir. Hau drauf.«

Philip packte den Stein, spannte sich an, holte aus und ließ ihn mit aller Wucht auf den aus dem Loch ragenden Stab krachen. Es machte Ratsch. Der Stab flutschte in das Loch. Dann herrschte Stille.

Nichts passierte. Philip begutachtete das Loch. Der Holzstab war bis ans Ende hineingerutscht und steckte fest.

»Verdammt noch mal!«, schrie er aufgebracht. Er stürzte sich auf die Grufttür und versetzte ihr einen festen Tritt.

»Geh auf, du Mistding!«

Urplötzlich ertönte ein mahlendes Geräusch. Der Boden vibrierte. Die Steintür glitt langsam beiseite. Ein dunkler Spalt wurde sichtbar. Als die Tür auf den Steinwalzen in der Rille dahinglitt, wurde der Spalt nach und nach breiter.

Kurz darauf hielt sie mit einem dumpfen Schlag an.

Die Gruft war offen.

Alle standen da und starrten auf das gähnende schwarze Rechteck. Die Sonne ging gerade über dem fernen Gebirge auf und badete die Felsen in goldenes Licht. Ihr Einfalls-winkel war jedoch zu schräg, um in das Gruftinnere zu dringen, und deswegen blieb auch weiterhin alles absolut schwarz. Niemand rührte sich. Sie waren wie gelähmt und zu ängstlich, um etwas zu sagen oder auch nur überrascht aufzuschreien. Eine pestilenzartige Wolke von Verwesungder Gestank des Todes - wehte ihnen aus dem Grab entgegen.

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