Am nächsten Morgen war es mit dem schönen Wetter vorbei. Wolken sammelten sich. Ein Gewitter rüttelte die Baumwipfel. Es goss wie aus Eimern. Als Tom und die anderen aufbrachen, war die Oberfläche des Flusses grau und schäumte unter der Wucht des Wolkenbruchs. Das Rauschen des auf die Vegetation fallenden Regens war ohrenbetäubend. Das Labyrinth aus Seitenarmen, dem sie folgten, schien immer schmaler und gewundener zu werden.
Tom hatte noch nie ein so dichtes und undurchdringliches Sumpfgebiet gesehen. Er konnte kaum glauben, dass Don Alfonso wusste, welchen Weg sie nehmen mussten.
Am Nachmittag hörte der Regen plötzlich auf, als hätte jemand einen Hahn abgedreht. Das Wasser lief noch ein paar Minuten an den Baumstämmen herab und erzeugte einen Lärm wie ein Wasserfall. Der ganze Dschungel wirkte dunstig, tröpfelnd und still.
»Die Insekten sind wieder da«, sagte Sally und schlug um sich.
»Jejenes, Schwarzfliegen«, sagte Don Alfonso. Er zündete seine Pfeife an und umgab sich mit einer stinkenden blauen Wolke. »Sie holen sich ein Stück von Ihrem Fleisch. Sie bil-den sich aus dem Atem des Teufels, nachdem er einen Abend lang schlechten Aguardiente getrunken hat.«
Manchmal wurde ihr Weg von Schlingpflanzen und über der Erde wachsenden Wurzeln blockiert, die von oben her-abwucherten und einen dichten Vorhang aus Vegetation bildeten. Sie hingen bis auf die Wasseroberfläche. Pingo machte wieder die Vorhut und hackte sie mit seiner Machete ab, während Chori hinten stakte. Jeder Machetenhieb ließ Schwärme von Fröschen, Insekten und anderem Getier auf-und ins Wasser springen. Es war ein Festessen für die auf sie lauernden Pirañas, die sich sofort auf jedes glücklose Tier stürzten. Pingo, dessen kräftige Rückenmuskeln heftig am Arbeiten waren, hieb nach links und rechts, dann wieder nach links und fegte die meisten Lianen und Hänge-pflanzen ins Wasser. In einem besonders schmalen Seitenarm schrie Pingo, plötzlich um sich schlagend: »Heculu!«
»Avispal Wespen!«, rief Don Alfonso. Er duckte sich und setzte seine Mütze auf. »Nicht bewegen!«
Eine dichte, kochende schwarze Wolke fegte aus dem herabhängenden Geäst hervor, und Tom, der sich duckte, um seinen Kopf zu schützen, spürte auf seinem Rücken sofort einen Teppich brennender Stiche.
»Schlagen Sie nicht nach ihnen«, rief Don Afonso. »Das macht sie nur noch wütender!«
Sie konnten nur abwarten, bis die Wespen mit ihrer Stech-orgie fertig waren. Sie verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren, und Sally verarztete die Stiche mit dem Saft des Gumbo-Limbo-Baums. Dann fuhren sie weiter.
Gegen Mittag hörten sie über sich im Blätterbaldachin ein eigenartiges Geräusch. Es klang wie tausend schnalzende und schmatzende, Bonbons lutschende Kinder, bloß viel lauter. Begleitet wurde es von raschelnden Zweigen. Das Rascheln wurde immer intensiver, bis es plötzlich wie ein Wind wirkte. Schwarze Gestalten blitzten hier und da auf.
Durch die Blätter sah man sie nur schemenhaft.
Chori zog das Paddel aus dem Wasser. Schon waren ein kleiner Bogen und ein Pfeil in seinen Händen. Der Bogen wies zum Himmel. Er war gespannt und schussbereit.
»Mono chucuto«, sagte Don Alfonso leise zu Tom.
Bevor Tom noch etwas erwidern konnte, hatte Chori den Pfeil abgeschossen. Über ihnen war plötzlich ein Tumult, dann fiel ein schwarzer Affe, noch halb lebendig, aus dem Geäst. Während er abstürzte, versuchte er, sich in dem Blattwerk um ihn herum festzuhalten, doch landete er schließlich zwei Meter vor dem Einbaum im Wasser. Chori sprang auf und zog das schwarzfellige Bündel an Bord und gleich darauf ließ ein großer Wirbel in der Tiefe erkennen, dass etwas anderes ebenfalls auf diese Idee gekommen war.
»Ehi! Ehi!«, sagte er und grinste bis an die Ohren. »Uaka-ris! Mmmm.«
»Es sind zwei!«, sagte Don Alfonso höchst aufgeregt. »Das war ein sehr guter Schuss, Tomasito. Eine Mutter und ihr Junges.«
Ein winziges Äffchen klammerte sich an seine Mutter und quiekte vor Angst.
»Ein Affe?« Sally klang schrill. »Er hat einen Affen erschossen?«
»Ja, Curandera. Haben wir nicht Glück?«
»Glück? Das ist abscheulich!«
Don Alfonsos Miene zeigte Enttäuschung. »Mögen Sie kei-
ne Affen? Das Gehirn dieses Affen ist eine echte Delikates-se, wenn man es im Schädel leicht anbrät.«
»Wir können keine Affen essen!«, sagte Sally.
»Und warum nicht?«
»Weil ... es fast so was wie Kannibalismus wäre.« Sally wandte sich an Tom. »Ich kann's nicht fassen, dass Sie zugelassen haben, dass er einen Affen erschießt!«
»Ich hab doch gar nichts zugelassen.«
Chori, der kein Wort verstand und noch immer stolz grinste, warf den Affen vor sie auf den Bootsboden. Der Affe starrte zu ihnen herauf. Sein Blick verschleierte sich nun, und er streckte die Zunge ein Stück heraus. Das Junge sprang auf den Kadaver der Mutter und duckte sich ver-schreckt, dann hob es die Hände über den Kopf und quietschte schrill.
»Ehi! Ehi!«, sagte Chori. Er packte das Junge mit einer Hand, um ihm mit der Machete den Gnadenstoß zu verset-zen.
»Nein!« Tom riss das schwarze Äffchen an sich. Es schmiegte sich an ihn und hörte auf zu schreien. Chori stierte ihn mit halb erhobener Machete überrascht an.
Don Alfonso beugte sich vor. »Ich verstehe nicht. Was war das mit Kannibalismus?«
»Don Alfonso«, sagte Tom, »bei uns gelten Affen fast als menschlich.«
Don Alfonso sagte jäh etwas zu Chori, dessen Grinsen verschwand und einer enttäuschten Miene Platz machte. Don Alfonso wandte sich wieder Tom und Sally zu. »Ich habe nicht gewusst, dass Affen in Nordamerika heilig sind. Es stimmt, dass sie fast menschlich sind - nur hat Gott ihnen anstelle von Händen zwei Paar Füße gegeben. Tut mir Leid.
Wenn ich es gewusst hätte, hätte ich nicht zugelassen, dass er getötet wird.« Er sagte etwas zu Chori, und das Boot fuhr weiter. Schließlich hob er den Kadaver des Muttertiers auf und warf ihn über Bord. Das Wasser wirbelte auf, dann war er verschwunden.
Tom bemerkte, dass das Äffchen sich nun energischer in seine Armbeuge schmiegte. Es jaulte und wollte sich in seiner Wärme vergraben. Tom schaute hinab. Ein kleines schwarzes Gesicht blickte mit großen Augen zu ihm auf.
Ein winziges Händchen streckte sich ihm entgegen. Das Äffchen war klein, es maß kaum mehr als zwanzig Zentimeter und wog höchstens drei Pfund. Sein Haar war weich und kurz. Es hatte große braune Augen und vier Miniatur-pfoten mit Fingerchen, die so dünn waren wie Zahnstocher.
Tom fiel auf, dass Sally ihn mit einem Lächeln musterte.
»Was ist denn?«
»Sieht so aus, als hätten Sie einen neuen Freund gewonnen.«
»Oh, nein.«
»Oh, doch.«
Das Äffchen hatte sich von seinem Schrecken erholt. Es krabbelte auf Toms Arm und tastete seinen Brustkorb ab.
Seine schwarzen Pfötchen huschten über seine Kleidung und zupften daran. Dabei machte es Geräusche, die wie ein Zungenschnalzen klangen.
»Er striegelt Sie«, sagte Sally. »Er sucht nach Läusen.«
»Kann ich bloß hoffen, dass er keine findet.«
»Tja, Tomas«, sagte Don Alfonso. »Er hält Sie für seine Mutter.«
»Wie kann man so süße Geschöpfe nur essen?«, fragte Sally.
Don Alfonso zuckte die Achseln. »Alle Geschöpfe des Waldes sind schön, Curandera.«
Tom spürte, wie das Äffchen an seinem Hemd herum-zupfte. Es kletterte an ihm herum, verwendete seine Knöpfe als Haltegriffe und hob die Klappe der riesigen Westentasche an. Es kramte mit der Hand darin herum, machte ein schnalzendes Geräusch, kletterte hinein und machte es sich bequem. Es saß da, die Arme verschränkt, schaute sich um und hob das Näschen in die Luft.
Sally klatschte lachend in die Hände. »Ach, Tom, jetzt kann er sie wirklich gut leiden!«
»Was essen diese Äffchen eigentlich?«, erkundigte Tom sich bei Don Alfonso.
»Alles. Insekten, Blätter, Larven. Sie werden keine Probleme haben, Ihren neuen Freund zu füttern.«
»Wer sagt denn, dass ich ihm verpflichtet bin?«
»Er hat Sie auserwählt, Tomasito. Sie gehören jetzt ihm.«
Tom schaute auf das Äffchen hinab, das sein Reich nun wie ein Miniaturfürst betrachtete.
»Was für ein haariger kleiner Knilch«, sagte Sally auf Englisch.
»Haariger Knilch. So werden wir ihn nennen.«
An diesem Nachmittag hielt Don Alfonso das Boot an einem besonders windungsreichen Irrgarten an und brachte mehr als drei Minuten mit der Untersuchung des Wassers zu. Er kostete es, spuckte hinein und schaute zu, wie seine Spucke auf den Grund sank. Schließlich setzte er sich hin.
»Wir haben ein Problem.«
»Haben wir uns verirrt?«, fragte Tom.
»Nein. Sie haben sich verirrt.«
»Wer?«
»Einer Ihrer Brüder. Sie haben den Arm links von uns genommen, der zur Plaza Negra führt - zum Schwarzen Platz, in das verdorbene Herz des Sumpfes, in dem die Dämonen hausen.«
Der Flussarm wand sich zwischen gewaltigen Baumstämmen und Unmengen Hängelianen dahin. Eine Schicht grün-lichen Nebels hing genau über der schwarzen Wasseroberfläche. Es sah aus wie ein Weg, der geradewegs in die Hölle führt.
Es kann nur Vernon sein, dachte Tom. Vernon verirrte sich ständig - im wörtlichen und übertragenen Sinn. »Wie lange ist es her?«
»Mindestens eine Woche.«
»Gibt es in der Nähe einen Ort, an dem man lagern kann?«
»Eine kleine Insel. Sie liegt ein paar hundert Meter weiter.«
»Dann rasten wir dort und laden aus«, sagte Tom. »Wir lassen Pingo und Sally im Lager und suchen mit dem Ein-
baum nach meinem Bruder. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«
Während der Regen mit der Heftigkeit eines Wasserfalls auf sie herabrauschte, gingen sie auf einer aufgeweichten Schlamminsel an Land. Don Alfonso gab lauthals gestikulierend Anweisungen und überwachte das Festmachen und Entladen des Bootes. Jene Vorräte, die sie für die Suche brauchten, hielt er zurück.
»Es kann sein, dass wir zwei oder drei Tage weg sind«, sagte er. »Wir müssen darauf gefasst sein, einige Nächte im Einbaum zu verbringen. Es könnte auch regnen.«
»Machen Sie keine Witze«, sagte Sally.
Tom reichte Sally das Äffchen. »Kümmern Sie sich um ihn, solange ich weg bin, ja?«
»Natürlich.«
Das Boot legte ab. Tom beobachtete Sally im rauschenden Regen - eine nur schwach erkennbare Gestalt, die immer mehr verschwamm. »Bitte, passen Sie auf sich auf, Tom«, rief sie, bevor sie unsichtbar wurde.
Chori stakte kräftig durch den Seitenarm. Nun, da das Boot entlastet war, kamen sie rascher voran. Fünf Minuten später hörte Tom ein Kreischen über sich im Geäst, dann fegte ein kleiner schwarzer Ball von Ast zu Ast, schoss schließlich aus einem Baum über ihm hervor, landete auf seinem Kopf und quietschte wie eine verlorene Seele. Es war Knilch.
»Du Lausebengel«, sagte Tom. »Da hast du ja nicht lange mit dem Abhauen gewartet.« Er schob das winzige Äffchen in seine Hemdtasche zurück, wo es sich einkuschelte und in Schweigen verfiel.
Der Einbaum glitt tiefer in den vom Regen verfaulten Sumpf hinein.