5

Tom blieb auf dem Sofa sitzen. Er war im Augenblick unfähig, sich zu bewegen. Hutch Barnaby reagierte als Erster. Er stand auf und hüstelte leise, um das entsetzte Schweigen zu brechen.

»Fenton? Sieht so aus, als würden wir hier nicht mehr gebraucht. «

Fenton nickte. Schwerfällig richtete er sich auf. Er errötete sogar.

Barnaby schaute die Brüder an und tippte freundlich an die Krempe seiner Mütze. »Sie sehen ja selbst, dass das kein Fall für die Polizei ist. Wir lassen Sie jetzt allein, damit Sie ...

die Sache selbst auf die Reihe kriegen können.« Er und Fenton setzten sich in Richtung Bogengang in Bewegung, der in den Hausflur führte. Sie konnten es kaum erwarten, von hier zu verschwinden.

Philip stand auf. »Lieutenant Barnaby?«

»Ja?«

»Ich nehme doch an, dass Sie diese Geschichte nirgendwo erzählen. Es wäre nicht hilfreich, wenn ... die ganze Welt sich aufmachen würde, um diese Grabkammer zu suchen.«

»Sehe ich ein. Es gibt auch keinen Grund, sie jemandem zu erzählen. Überhaupt keinen. Ich werde die Spurensicherung zurückschicken.« Er ging hinaus und verschwand.

Kurz darauf hörten die drei Männer das Geräusch der sich scheppernd schließenden Haustür.

Nun waren sie allein.

»So ein Scheißkerl«, sagte Philip leise. »Ich kann's nicht fassen. So ein Scheißkerl!«

Tom musterte das bleiche Gesicht seines Bruders. Er wusste, dass Philip bisher zu gut von seinem Assistenten-gehalt gelebt hatte. Er brauchte das Geld. Und er hatte es zweifellos bereits ausgegeben.

»Was jetzt?«, fragte Vernon.

Seine Worte blieben in der Stille hängen.

»Ich kann nicht glauben, dass der alte Mistkerl das wirklich gemacht hat«, sagte Philip. »Dass er ein Dutzend alte Meisterwerke einfach mit ins Grab genommen hat, ganz zu schweigen von der unbezahlbaren Maya-Jade und dem Gold. Ich bin am Boden zerstört.« Er zog ein seidenes Taschentuch aus der Westentasche und tupfte sich die Stirn ab. »Dazu hatte er kein Recht.«

»Also, was machen wir jetzt?«, wiederholte Vernon.

Philip schaute ihn an. »Wir werden die Grabkammer natürlich suchen.«

»Und wie?«

»Kein Mensch kann sich ohne Hilfe mit Kunstgegenstän-den im Wert von einer halben Milliarde Dollar begraben lassen. Wir müssen rauskriegen, wer ihm dabei geholfen hat.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Tom. »Er hat in seinem ganzen Leben niemandem getraut.«

»Allein hätte er es nicht schaffen können«, warf Vernon ein.

»Es ist so ... typisch für ihn«, meinte Philip plötzlich.

»Vielleicht hat er ja Hinweise hinterlassen.« Vernon trat an die Kommoden, zog eine Schublade auf und kramte fluchend darin herum. Er riss die zweite und dritte Schublade auf und wurde dabei so wütend, dass sie herausrutschten und ihr Inhalt sich auf dem Boden verstreute: Spielkarten, Mühle, Dame, Schach. Tom erinnerte sich an alles - die alten Spiele ihrer Kindheit, nun vom Alter vergilbt und schäbig. In seinem Brustkorb war ein kalter Knoten. Das hatte er nun davon.

Vernon versetzte dem verstreuten Chaos fluchend einen Tritt, sodass die Figürchen durch den ganzen Raum flogen.

»Das bringt nichts, wenn du deine Wut am Haus auslässt, Vernon.«

Vernon ignorierte ihn. Er zog weiterhin Schublade um Schublade heraus, verstreute ihren Inhalt auf dem Boden und untersuchte ihn.

Philip holte seine Pfeife aus der Hosentasche und zündete sie mit zitternder Hand an. »Du vergeudest deine Zeit. Ich finde, wir sollten uns mit Marcus Hauser unterhalten. Er ist der Schlüssel.«

Vernon hielt inne. »Hauser? Vater hatte doch über vierzig Jahre keinen Kontakt mehr zu ihm.«

»Er ist der Einzige, der Vater wirklich kennt. Sie haben zwei Jahre zusammen in Mittelamerika verbracht. Wenn jemand weiß, wohin er gegangen ist, dann Hauser.«

»Vater konnte ihn nicht ausstehen.«

»Ich gehe davon aus, dass sie sich wieder vertragen haben, wo Vater doch krank war und so.« Philip schnippte ein goldenes Feuerzeug an und saugte das Flämmchen mit einem gurgelnden Laut in den Kopf seiner Pfeife.

Vernon ging ins Büro. Tom hörte, dass er Schubladen öffnete und schloss, Bücher aus den Regalen zog und Gegenstände auf den Boden klatschte.

»Wetten, dass Hauser in der Sache mit drin steckt? Wir müssen schnell handeln. Ich hab Schulden - und Verpflich-tungen.«

Vernon kam aus dem Arbeitszimmer zurück und schleppte einen Karton voller Papiere herein, den er auf den Kaffeetisch knallte. »Offenbar hast du dein Erbe schon ausgegeben.«

Philip drehte sich gelassen zu ihm um. »Wer hat sich denn erst vor einem Jahr zwanzig Riesen von Vater geliehen?«

»Er hat mir einen Kredit gegeben.« Vernon blätterte die Papiere durch, klappte Aktendeckel auf und verstreute alles auf dem Boden. Tom sah, wie ihre alten Grundschul-zeugnisse aus einem Ordner segelten. Es überraschte ihn, dass ihr Vater sich die Mühe gemacht hatte, sie aufzuheben

- schon deswegen, weil sie eigentlich keine Lobgesänge über sie anstimmten.

»Hast du ihn schon zurückgezahlt?«, fragte Philip.

»Das tue ich noch.«

»Natürlich«, sagte Philip ironisch.

Vernon errötete. »Was ist mit den vierzigtausend, die Vater geblecht hat, damit du die höheren Fachsemester bele-gen konntest? Hast du die schon zurückgezahlt?«

»Das war ein Geschenk. Er hat doch auch Toms Veterinär-

examen bezahlt. Stimmt's nicht, Tom? Wenn du weiterstu-diert hättest, hätte er auch für dich bezahlt. Aber du muss-test ja zu diesem Swami Wu-Wu nach Indiana ziehen.«

Eine angespannte Stille machte sich breit.

»Ach, leck mich doch«, sagte Vernon.

Toms Blick wanderte von einem Bruder zum anderen.

Was hier ablief, hatte er schon tausendmal erlebt. Normalerweise warf er sich dazwischen und versuchte, den Frie-densstifter zu spielen. Meist ging es aber nicht gut.

»Du mich auch«, sagte Philip. Er klemmte sich die Pfeife mit einem Klicken zwischen die Zähne und wandte sich auf dem Absatz um.

»Warte!«, rief Vernon. Aber es war zu spät. Wenn Philip wütend wurde, ging er, und so war es auch diesmal. Die große Tür fiel mit einem Knall hinter ihm ins Schloss.

»Verflucht noch mal, Vernon, musste das jetzt unbedingt sein?«

»Scheiß drauf. Er hat doch angefangen, oder etwa nicht?«

Tom wusste nicht, wer angefangen hatte.

Hutch Barnaby saß wieder in seinem Büro. Auf seinem Bauch thronte ein Becher mit frischem Kaffee, und er schaute aus dem Fenster. Fenton saß mit seinem Becher auf dem anderen Stuhl und stierte finster den Boden an.

»Hör endlich auf, darüber nachzudenken, Fenton. Solche Dinge kommen eben vor.«

»Ich kann's nicht fassen.«

»Ich weiß, es ist völlig irrsinnig, dass dieser Typ sich mit einer halben Milliarde begraben lässt. Aber mach dir keine Sorgen. Irgendwann wird in dieser Stadt jemand ein Ding drehen, das dann auf der ersten Seite der New York Times steht. Und dann wird auch dein Name erwähnt. Diesmal ist es eben schiefgegangen.«

Fenton hielt seinen Kaffee und seine Enttäuschung warm.

»Ich hab's gewusst, Fenton. Schon bevor ich das Video sah. Ich bin von allein drauf gekommen. Als mir klar wurde, dass es kein Versicherungsbeschiss war, ging mir plötzlich ein Licht auf. He, man könnte einen tollen Film aus dem Fall machen, meinst du nicht auch? Reicher Sack nimmt seine Kohle mit in die Kiste.«

Fenton schwieg.

»Wie, glaubst du, hat der alte Knabe es gemacht? Denk mal drüber nach. Er hat Hilfe gebraucht. Er hatte 'ne Menge Zeug dabei. Man kann nicht ein paar Tonnen Kunstwerke durch die Welt schleppen, ohne dass es jemandem auffällt.«

Fenton nippte an seinem Kaffee.

Barnaby warf einen kurzen Blick auf die Uhr. Dann wandte er sich den Papieren auf seinem Schreibtisch zu. »Noch zwei Stunden bis zur Mittagspause. Wieso passiert in dieser Stadt eigentlich nie was Interessantes? Schau dir mal das an: Drogen, nichts als Drogen. Warum rauben diese Saftsäcke zur Abwechslung nicht mal 'ne Bank aus?«

Fenton leerte seinen Becher. »Es ist da draußen.«

Schweigen.

»Was willst du damit sagen? Was soll dieser Kommentar bedeuten? Es ist da draußen. Da draußen sind 'ne Menge Dinge.«

Fenton zerknüllte seinen Becher.

»Das soll doch wohl keine Anspielung auf irgendwas sein, oder?«

Fenton warf den Becher in den Papierkorb.

»Du hast gesagt: Es ist da draußen. Ich möchte wissen, was du damit gemeint hast.«

»Wir krallen es uns.«

»Und?«

»Dann behalten wir's.«

Barnaby lachte. »Fenton, du verblüffst mich. Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest: Wir vertreten das Gesetz.

Ist dir diese kleine Tatsache etwa entfallen? Man erwartet von uns, dass wir ehrlich sind.«

»Yeah«, sagte Fenton.

»Genau«, fuhr Barnaby kurz darauf fort. »Ehrlichkeit.

Wenn man die nicht hat, Fenton, was hat man dann?«

»'ne halbe Milliarde Dollar«, erwiderte Fenton.

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