Der Einbaum schob sich durch das dicke schwarze Wasser.
Der Motor heulte angestrengt. Der Fluss hatte sich geteilt und war zu einem Labyrinth aus Seitenarmen und riesigen stillen Teichen voll von offen liegendem, schwarzem, stin-kendem, schauerlich aussehendem Schlamm geworden.
Wohin Tom auch blickte, sah er wirbelnde Insektenschwärme. Pingo stand mit freiem Oberkörper am Bug und schwenkte eine riesige Machete, mit der er hin und wieder auf Schlingpflanzen einhieb, die übers Wasser hingen. Die Seitenarme waren oft zu seicht, um den Motor zum Einsatz zu bringen. In solchen Fällen holte Chori ihn ein und stakte.
Don Alfonso blieb auf seinem üblichen Platz, dem von einer Leinwandplane bedeckten Ausrüstungsstapel. Er saß mit verschränkten Beinen da, mimte den Weisen, paffte hektisch seine Pfeife und lugte nach vorn. Pingo war schon mehrmals von Bord gegangen, um halb versunkene Baumstämme zu zerlegen, damit sie weiterfahren konnten.
»Was sind das für teuflische Insekten?«, rief Sally und schlug wild um sich.
»Tapirfliegen«, sagte Don Alfonso. Er griff in die Tasche und hielt ihr eine geschwärzte Maiskolbenpfeife hin. »Sie sollten vielleicht mit dem Rauchen anfangen, Señorita; das ist den Insekten lästig.«
»Nein, danke. Rauchen erzeugt Krebs.«
»Ganz im Gegenteil. Rauchen ist sehr gesund. Es führt zu einer guten Verdauung und einem langen Leben.«
»Schön.«
Als sie tiefer in den Sumpf vorstießen, schien sich die Vegetation von allen Seiten an sie zu drängen und bildete mauerartige Schichten aus glänzenden Blättern, Farnen und Schlingpflanzen. Die Luft war tot und dick und roch nach Methan. Das Boot schob sich wie durch heiße Suppe voran.
»Woher wissen Sie, dass dies der Weg ist, den mein Vater genommen hat?«, fragte Tom.
»Im Meambar-Sumpf gibt es viele Pfade«, sagte Don Alfonso, »aber nur einen, der hindurchführt. Ich, Don Alfonso, kenne diesen Weg, und Ihr Vater hat ihn auch gekannt.
Ich kann die Zeichen lesen.«
»Und was besagen sie?«
»Dass drei Reisegruppen vor uns sind. Die erste kam vor einem Monat hier durch. Die zweite und die dritte sind nur wenige Tage voneinander getrennt. Sie waren vor etwa einer Woche hier.«
»Woran können Sie das alles erkennen?«, fragte Sally.
»Ich lese es im Wasser. Ich sehe eine Kerbe an einem versunkenen Baumstamm. Ich sehe einen Schnitt in einer Schlingpflanze. Ich sehe eine Stakenmarkierung auf einer Unterwassersandbank oder eine Rinne, die ein Kiel an einer seichten schlammigen Stelle hinterlassen hat. In diesem toten Wasser erhalten sich Markierungen dieser Art wochenlang. «
Sally deutete auf einen Baum. »Schauen Sie mal, da drüben steht ein Gumbo-Limbo-Baum - Bursera simuraba. Die Mayas haben seinen Saft gegen Mückenstiche eingesetzt.«
Sie wandte sich zu Don Alfonso um. »Lassen Sie uns hin-fahren und etwas von dem Zeug sammeln.«
Don Alfonso nahm die Pfeife aus dem Mund. »Mein Großvater hat den Saft dieses Gewächses immer gesammelt. Wir nennen sie Lucawa.« Er musterte Sally mit neuem Respekt.
»Ich wusste gar nicht, dass Sie eine Curandera sind.«
»Bin ich eigentlich auch nicht«, sagte Sally. »Ich habe aber in meiner Zeit auf dem College eine gewisse Zeit im Norden verbracht und bei den Mayas gelebt. Ich habe ihre Medizin studiert. Ich bin Ethnopharmakologin.«
»Ethnopharmakologin? Das klingt nach einem sehr bedeu-tenden Beruf für eine Frau.«
Sally runzelte die Stirn. »In unserer Zivilisation können Frauen das Gleiche tun wie Männer. Und umgekehrt.«
Don Alfonsos Brauen zuckten hoch. »Das glaube ich nicht.«
»Es stimmt aber«, sagte Sally trotzig.
»Gehen die Frauen in Amerika auf die Jagd - und die Männer kriegen die Kinder?«
»Das habe ich doch nicht gemeint.«
Don Alfonso schob sich das Mundstück der Pfeife mit einem triumphierenden Lächeln zwischen die Zähne. Er hatte eindeutig gewonnen. Er zwinkerte Tom übertrieben zu.
Sally warf Tom einen Blick zu.
Ich hab doch gar nichts gesagt, dachte Tom beleidigt.
Chori steuerte das Boot längsseits an einen Baum. Sally versetzte der Rinde einen Hieb mit ihrer Machete und schälte einen vertikalen Rindenstreifen ab. Der Saft begann sofort in rötlichen Tröpfchen auszutreten. Sie kratzte ein wenig davon ab, rollte ihre Hosenbeine hoch und schmierte sich das Zeug auf ihre Stiche. Dann rieb sie ihren Hals, ihre Gelenke und ihre Handrücken ein.
»Sie sehen ja schrecklich aus«, sagte Tom.
Sally kratzte mit der Machete noch mehr von dem klebri-gen Saft ab und hielt sie ihm hin. »Tom?«
»An meinen Leib lasse ich das Zeug nicht.«
»Kommen Sie gefälligst her.«
Tom machte einen Schritt auf Sally zu, und sie rieb es in seinen grässlich zerstochenen Nacken ein. Das Jucken und das brennende Gefühl nahmen ab.
»Na, wie ist es?«
Tom bewegte den Hals. »Klebrig, aber gut.« Das Gefühl ihrer kühlen Hände an seinem Hals gefiel ihm.
Sally reichte ihm die Machete mit dem Saftklumpen. »Bei-ne und Arme können Sie sich selbst einreiben.«
»Danke.« Tom folgte ihrem Rat. Die Wirkung überraschte ihn.
Auch Don Alfonso nahm etwas von dem Saft. »Es ist wirklich bemerkenswert! Eine Yanqui-Frau, die die medizinischen Geheimnisse der Pflanzen kennt. Eine echte Curandera. Da lebe ich nun schon hunderteinundzwanzig Jahre und weiß noch immer nicht alles.«
Am Nachmittag passierten sie den ersten Felsen, den Tom seit Tagen zu Gesicht bekommen hatte. Dahinter fiel gefil-tertes Sonnenlicht auf eine überwachsene Lichtung, die sich zu einer hoch liegenden Insel auswuchs.
»Hier lagern wir«, gab Don Alfonso bekannt.
Sie steuerten den Einbaum längsseits an den Felsen und vertäuten ihn. Pingo und Chori sprangen mit der Machete in der Hand an Land, balancierten über Felsen und mähten die neuen Gewächse nieder. Don Alfonso schlenderte umher, untersuchte den Boden, scharrte mit den Füßen und hob hier und da eine Ranke oder ein Blatt auf.
»Es ist erstaunlich«, sagte Sally und schaute sich um.
»Hier wächst Zorillo. Stinktierwurzel, eine der wichtigsten Pflanzen, die die Mayas verwendet haben. Sie haben aus den Blättern ein Kräuterbad gemacht und die Wurzel gegen Schmerzen und Geschwüre eingesetzt. Sie nennen es Pay-che. Und da wächst auch etwas Suprecayo. Und da drüben ist ein Seweetia panamensis-Baum. Es ist wirklich erstaunlich.
Hier existiert ein einmaliges kleines Ökosystem. Hat jemand was dagegen, wenn ich ein bisschen botanisieren gehe?«
»Fühlen Sie sich nur ganz wie zu Hause«, sagte Tom.
Sally ging in den Wald, um weitere Pflanzen zu sammeln.
»Sieht so aus, als hätte hier vor uns schon jemand gelagert«, sagte Tom zu Don Alfonso.
»Ja. Diese große Lichtung wurde erst vor etwa einem Monat freigelegt. Ich sehe eine Feuerstelle und die Überreste eines Unterstandes. Vor ungefähr einer Woche waren zum letzten Mal Menschen hier.«
»Das alles ist in einer Woche gewachsen?«
Don Alfonso nickte. »Der Wald schätzt keine freien Stellen.« Er stocherte in den Resten eines Lagerfeuers herum, dann hob er etwas auf und reichte es Tom. Es war eine an-geschimmelte und halb zerfallene Zigarrenbauchbinde der Marke Cuba Libre.
»Die Marke meines Vaters«, sagte Tom und schaute sie sich genauer an. Er hatte ein eigenartiges Gefühl. Sein Vater war hier gewesen, hatte vielleicht genau an dieser Stelle gelagert, eine Zigarre geraucht und diesen winzigen Hinweis hinterlassen. Tom steckte die Bauchbinde in die Tasche und fing an, Feuerholz zu sammeln.
»Bevor Sie einen Ast aufheben«, riet Don Alfonso ihm,
»sollten Sie mit einem Stock drauf hauen, um die Ameisen, Schlangen und Veinte cuatros abzuschlagen.«
»Veinte cuatros?«
»Ein Insekt, das wie eine Termite aussieht. Wir nennen es Veinte cuatro, Vierundzwanziger, weil man sich, nachdem es einen gebissen hat, vierundzwanzig Stunden nicht bewegen kann.«
»Wie schön.«
Eine Stunde später sah Tom Sally mit einem langen Pfahl auf der Schulter aus dem Dschungel schlendern. An dem Pfahl hingen Pflanzenbündel, Baumrinde und Wurzeln.
Don Alfonso schaute von dem Papagei auf, den er in einem Topf köchelte, und musterte sie.
»Curandera, Sie erinnern mich an meinen Großvater Don Cali. Auch er kam jeden Tag wie Sie aus dem Wald zurück.
Allerdings sind Sie hübscher als er. Er war alt und faltig, doch Sie sind straff und üppig.«
Sally beschäftigte sich mit ihren Pflanzen und reihte die Kräuter und Wurzeln auf einen Stock, um sie am Feuer zu trocknen. »Hier gibt es eine unglaubliche Pflanzenvielfalt«, sagte sie aufgeregt zu Tom. »Julian wird sich wirklich freuen.«
»Wie schön.«
Toms Aufmerksamkeit richtete sich auf Chori und Pingo.
Die beiden bauten einen Unterstand. Don Alfonso rief ihnen Anweisungen zu und überhäufte sie mit Kritik. Die Männer fingen an, indem sie sechs stämmige Pfähle in den Boden rammten und sie dann mit einem Rahmen aus flexi-blen Ästen versahen. Darüber spannten sie die Kunststoffplanen. Die Hängematten wurden zwischen den Pfählen aufgehängt und mit Moskitonetzen versehen. Ein letztes Stück Plane wurde an der Decke angebracht, damit Sally einen Raum für sich hatte.
Als Chori und Pingo fertig waren, traten sie beiseite. Don Alfonso inspizierte den Unterstand mit kritischen Blicken, dann nickte er und wandte sich um. »Da, bitte - ein Haus, wie man es in Amerika auch nicht besser bauen könnte.«
»Beim nächsten Mal«, sagte Tom, »gehe ich Chori und Pingo zur Hand.«
»Wie Sie wollen. Die Curandera hat ihr eigenes Schlafquar-tier, das man für einen zusätzlichen Gast auch erweitern kann - falls sie Gesellschaft haben möchte.« Der Greis zwinkerte Tom übertrieben zu, und Tom spürte, wie er errötete.
»Ich bin ganz zufrieden, wenn ich allein schlafen kann«, sagte Sally kühl.
Don Alfonso schaute enttäuscht drein. Er beugte sich zu Tom hinüber, als wolle er allein mit ihm reden. Doch seine Stimme war für jedermann im Lager zu hören: »Sie ist eine wunderschöne Frau, Tomas, selbst wenn sie alt ist.«
»Entschuldigen Sie mal - ich bin neunundzwanzig.«
»Ehi, Señorita, da sind Sie ja noch älter, als ich dachte. Tomas, Sie müssen sich beeilen. Sie ist jetzt schon fast zu alt zum Heiraten.«
»In unserer Zivilisation«, sagte Sally, »gilt man mit neunundzwanzig noch als jung.«
Don Alfonso schüttelte weiterhin traurig den Kopf. Tom konnte sich ein Lachen nun nicht mehr verbeißen.
Sally fuhr zu ihm herum. »Was ist denn daran so witzig?«
»Der Zusammenprall der Kulturen«, erwiderte Tom und schnappte nach Luft.
Sally sprach nun Englisch. »Mir gefällt dieses kleine sexi-stische Tête-à-Tête zwischen Ihnen und diesem alten Lust-molch nicht.« Sie schaute Don Alfonso an. »Für einen Menschen, der angeblich hunderteinundzwanzig Jahre alt ist, denken Sie verdammt oft an Sex.«
»Männer hören nie auf, über die Liebe nachzudenken, Se-
ñorita. Selbst wenn sie alt werden und ihr Glied schrumpelt wie eine zum Trocknen in die Sonne gelegte Yuca. Ich bin vielleicht hunderteinundzwanzig, aber ich habe noch so viel Blut wie ein Neunzehnjähriger. Tomas, ich würde eine Frau wie Sally gern heiraten, aber nur wenn sie sechzehn wäre und feste, spitze Brüste hat ...«
»Don Alfonso«, fiel Sally ihm ins Wort, »glauben Sie nicht, dass das Mädchen Ihrer Träume auch achtzehn sein könn-
te?«
»Dann ist sie aber vielleicht keine Jungfrau mehr.«
»In unserem Land«, sagte Sally, »heiraten die meisten Frauen erst, wenn sie achtzehn sind. Es ist anstößig, von Sechzehnjährigen als Ehefrauen zu sprechen.«
»Tut mir Leid! Ich hätte wissen müssen, dass sich die Mädchen im kalten Klima Nordamerikas langsamer entwickeln. Hier jedoch ist eine Sechzehnjährige ...«
»Hören Sie auf!«, brüllte Sally und presste die Hände auf ihre Ohren. »Mir reicht's! Don Alfonso, ich habe genug von Ihren Kommentaren über Sex!«
Der Greis zuckte die Achseln. »Ich bin ein alter Mann, Curandera, und das bedeutet, dass ich reden und Witze machen darf, wie es mir gefällt. Gibt es diese Tradition in Amerika nicht?«
»In Amerika reden alte Menschen nicht ständig über Sex.«
»Über was reden sie denn?«
»Sie reden über ihre Enkel, das Wetter, Florida und solche Sachen.«
Don Alfonso schüttelte den Kopf. »Wie langweilig es doch sein muss, in Amerika alt zu werden.«
Sally marschierte von hinnen und zog die Hüttentür hinter sich zu. Bevor sie verschwand, warf sie Tom einen gifti-gen Blick zu. Tom schaute verdutzt hinter ihr her. Was hatte er denn getan oder gesagt? Es war einfach ungerecht, dass sie ihn des Sexismus verdächtigte.
Don Alfonso zuckte die Achseln, steckte seine Pfeife wieder an und sagte lauthals: »Ich verstehe das nicht. Sie ist neunundzwanzig und unverheiratet. Ihr Vater wird eine enorme Mitgift bezahlen müssen, um sie loszuwerden. Und Sie sind fast auch schon ein alter Mann und haben keine Ehefrau. Warum heiratet ihr beide nicht? Sind Sie vielleicht homosexuell?«
»Nein, Don Alfonso.«
»Es ist ganz in Ordnung, wenn Sie es sind, Tomas. Chori kann Ihnen gefällig sein. Er ist nicht festgelegt.«
»Nein, danke.«
Don Alfonso schüttelte verwundert den Kopf. »Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr. Sie müssen Ihre Chancen nutzen, Tomas.«
»Sally«, sagte Tom, »ist mit einem anderen Mann verlobt.«
Don Alfonsos Brauen zuckten hoch. »Ach. Und wo ist dieser Mann jetzt?«
»In Amerika.«
»Dann kann er sie nicht lieben!«
Tom zuckte zusammen und warf einen Blick auf ihr Quartier. Don Alfonsos Stimme trug nämlich besonders weit.
Da tönte Sallys Stimme aus der Hütte: »Er liebt mich. Und ich liebe ihn. Und vielen Dank euch beiden, dass ihr jetzt die Klappe haltet!«
Im Wald schallte ein Gewehrschuss, und Don Alfonso stand auf. »Das ist unser zweiter Gang.« Er nahm seine Machete und ging in die Richtung, aus der der Knall gekommen war.
Tom stand ebenfalls auf und brachte seine Hängematte in den Unterstand, um sie aufzuspannen. Als er eintrat, häng-
te Sally gerade einige Kräuter an den Pfählen auf.
»Dieser Don Alfonso ist ein alter Lüstling und ein Sexistenschwein«, sagte sie erzürnt. »Und Sie sind genauso schlimm.«
»Er bringt uns immerhin durch den Sumpf.«
»Ich kann seine kleinen Bemerkungen ganz und gar nicht leiden. Und Ihre grinsende Zustimmung genauso wenig.«
»Sie können doch nicht erwarten, dass er sich mit den neuesten Entwicklungen feministischer und politischer Korrektheit auskennt.«
»Darüber, dass Sie zu alt zum Heiraten sind, hat er jedenfalls nicht gesprochen. Und dabei sind Sie gute zwei Jahre älter als ich. Es ist immer nur die Frau, die zu alt zum Heiraten ist.«
»Nun machen Sie mal halblang, Sally.«
»Ich mache nicht halblang!«
Don Alfonsos Stimme verhinderte Toms Antwort. »Der erste Gang ist zum Verzehren bereit! Gekochter Papagei und Maniokeintopf. Danach gibt's Tapir-Steak. Alles ist gesund und köstlich. Hört jetzt auf zu streiten und kommt zum Essen raus!«