Damit eine Party in Virginia ein Erfolg wird, sind bestimmte Vorkommnisse unerlässlich. Erstens muss jemand in Tränen aufgelöst fortgehen. Zweitens muss jemand infolge maßlosen Sauf ens ohnmächtig werden. Drittens muß es eine Schlägerei geben, und schließlich muss sich jemand verlieben.
Nach diesen Begebenheiten gefragt, würden die meisten Virginier die Schlägerei, die Tränen und die Trunkenheit verurteilen, aber nicht so Tante Tally. Freimütig bekennend, dass das Leben Theater sei oder zumindest ihre Partys Theater seien, mischte sie ihre Gäste wie Wasser und Schwefelsäure und wartete dann auf die Explosion.
Mit zunehmendem Alter wurde ihr Appetit auf dramatische Ereignisse nur noch mehr angeregt. Ihre geliebte, wenngleich bekrittelte Nichte Big Mim meinte, das komme daher, weil Tante Tally kein Sexualleben habe. Sie bringe anderer Leute Hormone in Wallung.
Als sie dies hörte, fauchte Tally: »Natürlich hab ich kein Sexualleben. Es gibt keine Männer über neunzig und die unter neunzig wollen nichts von mir wissen. Finde mir einen Liebhaber und ich sorge dafür, dass ihm die Puste ausgeht. Ich bin immer noch scharf im Bett, Marilyn, merk dir das!«
»Lieber Gott, verschone mich«, murmelte Big Mim durch ihre mattbronzefarben geschminkten Lippen.
Dies spielte sich vor Reverend Jones, Miranda, Susan und Ned Tucker ab sowie Lottie Pearson, die zeitig gekommen war, um sich unter die älteren Herrschaften zu mischen, stets auf der Jagd nach großzügigen Spendern für die Universität. Big Mim konnte auf keinen Fall verschont werden.
»Worauf starrt ihr alle mit offenem Mund? Auf diese Weise fangt ihr Fliegen.« Tally schnippte ihren Stock mit dem silbernen Hundekopf zu den Anwesenden hin. Ehe sie die Versammelten noch mehr schelten konnte, flog die Tür auf, und alle Übrigen schienen zugleich einzutreffen. Die O'Bannons stürmten äußerst aufgekratzt herein. Roger trug aus Gründen, die nur ihm und Jim Beam bekannt waren, einen Minzezweig an seinem Sportsakko. Sean küsste Tante Tally mehrmals. Sie ließ ihn nur ungern los.
Ned Tucker merkte, dass Tante Tallys Personal, fast so alt wie die große Dame selbst, nie und nimmer imstande sein würde, die Hors d'reuvres und Getränke fix genug herumzureichen. Flugs dirigierte er die Leute an die Bar, eine vorläufige Maßnahme. Dann rief er den Kapellmeister der Crozet Highschool an, einen alten Freund, er möge ein paar Schüler schicken, damit sie das Essen herumreichten. Er werde der Crozet Highschool eine Spende zukommen lassen.
Kaum hatte er aufgelegt, als BoomBoom hereingewirbelt kam, der durchsichtige Rock ihres Frühjahrskleids in duftigem Lavendelblau fing das Licht und die Brise ein. Neben BoomBoom reihte sich Thomas Steinmetz, blond, mittelalt, tadellos gekleidet, in die Schlange, um Tante Tally seine Aufwartung zu machen. Er war ein Mann, der nach London flog, wenn ihn die Lust überkam, um sich bei Trunbull & Asser für Hemden, in Geschäften in der Jermyn Street für Anzüge und bei Lobb's oder Maxwells für Schuhe Maß nehmen zu lassen. Hinter Thomas stand Diego, ebenfalls tadellos in Schale, ein leuchtend türkisfarbenes Tuch in der Brusttasche seines SeidenLeinen-Jacketts.
Tallys scharfem Blick entging nichts. »Harrow?«, fragte sie Thomas.
»Ja.« Er nickte der Amerikanerin zu, die seine alte Schulkrawatte aus England erkannt hatte. Die meisten Amerikaner hatten keinen Schimmer davon.
»So, dann sind Sie ein kluger Mann - klug genug, um eine der schönsten Frauen Virginias zu begleiten.« Sie taxierte ihn.
»Madam, ich spreche soeben mit der schönsten Frau Virginias.« Thomas verbeugte sich tief, und Tally schürzte die Lippen, wollte schon etwas von wegen die Älteste der Uralten sagen, beschloss aber in letzter Minute, sich über das Lob zu freuen.
»Sie sind sehr liebenswürdig, Herr Botschafter.« BoomBoom hatte Tally zuvor natürlich über seine Biographie aufgeklärt, ihn aber von der rechten Hand zur Nummer eins befördert. Er hatte nichts dagegen. Tally wandte sich nun Diego zu, den BoomBoom ihr vorstellte. Als sie sich einen Moment Zeit nahm, um ihn zu mustern, seine hellbraunen Augen, die tiefschwarzen Haare, hielt sie die Luft an. Ach, wäre sie doch nur wieder jung!
Sie und Diego plauderten und lachten; zwei Katzen und ein Hund tobten derweil durchs Haus.
»»Schnell. Machen wir, dass wir an der Empfangsreihe vorbeikommen!« Mrs. Murphy lief ihren Freundinnen voraus.»»Tante Tally besteht sonst darauf, dass wir Kunststücke vorführen.«
»»Ich rieche Schinkenbiskuits.« Pewter bekam einen verträumten Blick.
»»Später. Wir müssen uns an den Menschen vorbeidrücken.« Tucker stupste Pewter mit der Nase an, weil die dicke Katze langsamer geworden war.
»Die können genauso gut mir aus dem Weg gehn«, erwiderte sie und warf keck den Kopf zurück, setzte sich aber in Bewegung.
»Wo ist Harry?«, fragte Tally.
BoomBoom rief über die Schulter, denn Tally begrüßte jetzt Tracy Raz, der unterwegs für Miranda und Tante Tally jeweils ein Orchideenbouquet zum Anstecken gekauft hatte.
»Im Garten.«
»Sie kann nicht in den Garten gehen, bevor sie sich in die Empfangsreihe gestellt hat. Sagen Sie ihr, sie soll ihren Allerwertesten hierher bewegen, sonst kriegt sie was von mir zu hören.«
»Ich hole sie, aber ...« BoomBoom ging sich umsehen, dann kam sie zurück und flüsterte der alten Dame etwas ins Ohr.
»Oh, gut, schon recht, aber sagen Sie ihr, dass sie dann herkommen muss.« Sie lächelte kurz. »Harry. H-m-m.«
Diego schritt in den Garten. Harry erwartete ihn in einem schlichten Kleid, das ihr aber sehr gut stand. Sie saß zurückgelehnt auf einer hübschen Bank, die im achtzehnten Jahrhundert angefertigt worden und ein kleines Vermögen wert war. Tally fand, dass Gegenstände benutzt werden sollten. Ihr einziges Zugeständnis an den Wert der Bank war es, die Gartenmöbel jeden Abend in den großen Abstellraum schaffen zu lassen. Sie hatte Freude an ihrem George-II.-Silber, ihrem Hepplewhite- Sofa, den Stühlen, dem ganzen Drum und Dran, das alten Virginia-Wohlstand verkörperte, aber sie war nicht von ihrem Besitz besessen. Auch gab sie nicht damit an. Das taten nur Neureiche.
Diego verbeugte sich, dann küsste er Harrys rechte Hand, indem er mit den Lippen ihren Handrücken streifte, so wie es sich gehörte. »In Zukunft werde ich den Frühling mit Ihnen gleichsetzen.«
Sie lachte. »Diego, Sie verstehen es, einer Frau den Kopf zu verdrehen.«
»Darf ich Ihnen etwas zu trinken holen?«
»Ich glaube, das werden Sie müssen, weil Tante Tallys Butler es wohl kaum von der Bar bis in den Garten schaffen wird.« Sie bemerkte seinen fragenden Blick und wies dann auf den Butler, der zufällig gerade langsam an der offenen Fenstertür vorbeischlurfte.
»Ah, ein Herr in der Fülle seiner Jahre.«
»Bevor Sie mir was zu trinken holen, muss ich Tante Tally meinen Respekt erweisen. Ich bin hinten ums Haus gelaufen und habe mich nicht in die Empfangsreihe gestellt, weil ich wollte, dass Sie mich im Garten finden. Jetzt habe ich wohl den Eindruck verdorben, weil ich's Ihnen erzählt habe. Ich war spät dran, weil die Kühe von meinem Nachbarn durch den Zaun gebrochen sind und ich sie zurücktreiben musste. Mein Nachbar versteht so gut wie nichts von Landwirtschaft, außerdem ist er zu Fotoaufnahmen für Nordstrom in Seattle. Ich hab's gerade noch geschafft!«
»Ist er Fotograf?«
»Model. Little Mim war verrückt nach ihm. Sind Sie Marilyn schon begegnet?«
»Nur kurz, auf dem Weg zu Ihnen.«
Harry stand auf, etwas unsicher auf den hohen Absätzen.
»Ich weiß nicht, warum ich so viel rede. Ich bin eigentlich ziemlich schweigsam. Jeder wird Ihnen das sagen und noch eine Menge mehr, denke ich.« Sie lächelte, ihre weißen Zähne unterstrichen ihre klaren, offenen Züge.
»Ich begleite Sie zu Tante Tally, der Erhabenen. Ich nehme an, sie hat sich ihren Namen bei der Jagd verdient?« Er spielte auf den Jagdruf tally-ho an, wenn ein Fuchs gesichtet wird.
Harry strahlte. »Oh, Sie kennen sich mit der Fuchsjagd aus?«
»Tally-hoch«, rief er, als sie an der Bar vorbeigingen und Ned Tucker eine Flasche mächtig teuren Champagner in die Höhe hielt.
Beide lachten, als Roger ein bisschen zu laut sagte: »Komm schon, Ned. Hör auf mir zu erzählen, wie toll er ist und schenk ein, verdammt.«
»Ein Künstler?« Diego bemerkte Rogers Aufzug ... knapp daneben, obwohl er ein Sportsakko anhatte. Die Cowboystiefel machten es auch nicht besser.
»Äh - Autoschlosser. Er und sein Bruder Sean haben eine Altwarenfirma mit architektonischen Bruchstücken, Säulen und so was. Ist ganz interessant.« Sie waren bei der Schlange angelangt, die für Tante Tally anstand. Big Mim hatte sich zu ihrer Tante gestellt.
Kaum hatten Harry und Diego sich eingereiht, da trat ausgerechnet Fair hinter sie, der mit seinen einsfünfundneunzig alle überragte.
»Harry.« Er gab seiner Ex-Frau einen Kuss. Er wusste von BoomBoom, dass Harry bei den Südamerikanern »aushalf«, wie BoomBoom es ausdrückte, aber natürlich hatte Boom es unterlassen, Diego zu beschreiben. Als Harry sie miteinander bekannt machte, hatte Fair Mühe, seine Überraschung und Bestürzung zu verbergen. Er fasste sich. »Willkommen in Crozet.«
»Danke.« Diego schüttelte ihm kräftig die Hand.
In diesem Moment kam Harry bei Tante Tally und Big Mim an. Die beiden Damen erfassten die Situation. Ein verschlagenes Lächeln huschte über Tante Tallys Lippen, die großzügig, aber nicht nachlässig mit einem Lancôme- Lippenstift geschminkt waren.
»Tante Tally, ich hab geschummelt.«
»Ich weiß, aber Sie haben es für eine gute Sache getan.« Sie bot Harry ihre Wange zum Kuss. »Ich sah Ihre Tiere hier durchstürmen, da wusste ich, Sie konnten nicht weit sein. Ihre eine Katze, die graue, wird mich um Haus und Hof fressen.«
»Seien Sie froh, dass sie nicht trinkt.«
Tally lachte. »Tja, so ist das. Und Mr. Aybar, Sie dürfen mir auch einen Kuss geben, da Sie mich ja nun kennen.« Sie hielt ihm die andere Wange hin, und Diego küsste sie auf die Wange, dann küsste er ihre Hand.
Er verbeugte sich und küsste auch Big Mim die Hand. Ihre Miene hellte sich merklich auf.
Als Harry und Diego weitergingen, machten Tante Tally und Big Mim ein großes Tamtam um Fair, wie nett es von ihm sei, auf eine Verabredung mit Harry zu verzichten, damit die Herren aus Uruguay nicht allein seien, was das Abfohlen mache, wie es ihm gehe und so weiter.
Als Fair weiterging und rasch von Lottie Pearson abgefangen wurde, die einen geblümten Hut trug, flüsterte Tally ihrer Nichte zu: »Ich li-i-iebe meine Partys. Ja-ha.«
»Du bist unverbesserlich.« Big Mim lachte, dann begrüßte sie Cynthia Cooper, die ebenfalls in einem Frühjahrskleid steckte. »Ich glaube nicht, dass ich Sie schon einmal so reizend gesehen habe.«
Die groß gewachsene Frau gab gut gelaunt zurück: »Mrs. Sanburne, ich glaube nicht, dass Sie mich schon einmal in einem Kleid gesehen haben.«
»Hm ... ja.«
»Sie sind groß, Mädchen. Ihnen würde alles stehen, sogar ein Kettenhemd«, sagte Tante Tally. »Kommt Ihr Chef auch?«
»Der Sheriff sagt, er will versuchen, es möglich zu machen, aber er ist heute ein bisschen im Rückstand.«
»Es ist nett von ihm, dass er Sie bei uns sein lässt.« Tally ließ ihre Hand los, und Cynthia begab sich zu ihrer Freundin Harry.
Big Mim flüsterte: »Polizeischutz. Du hast mir nicht gesagt, dass du Polizeischutz angefordert hast.«
»Hab ich nicht. Ich kann Cynthia Cooper gut leiden.« Tally strahlte Lynne Beegle an, eine beliebte Reiterin, die in der Empfangsreihe vorrückte.
Harry, Diego und Cooper plauderten drauflos, und alsbald gesellten sich Miranda Hogendobber, Tracy Raz, Susan Tucker und Ned dazu. Sie feierten Tracys Rückkehr, stellten fest, dass Diego viel Sinn für Humor hatte und amüsierten sich prächtig miteinander.
In einer Ecke wehrte Lottie Pearson Roger O'Bannon ab. Mit einem Lächeln wies sie seine Avancen zurück. Sie würde es nie zugeben, aber sie genoss die Aufmerksamkeit. Fair, der nicht ihr Begleiter war, hatte ihr etwas zu trinken geholt und dann die Runde gemacht. Im Augenblick unterhielt er sich mit Little Mim über Bebauungsvorschriften, kein Lieblingsthema von ihm, aber eins von ihr.
Lottie zog eine Zigarette aus ihrer kleinen mit Perlen bestickten Unterarmtasche. »Verdammt.« Sie fand kein Feuerzeug.
Roger nahm ein buntes Streichholzbriefchen aus seinem Sportsakko, zündete ein Streichholz an und gab ihr Feuer.
»Hier, kannst du behalten.« Er machte eine Pause. »Ich hol dich um acht ab«, erklärte er.
»Nein, tust du nicht.« Sie warf den Kopf zurück.
»Ich geh auch heute Abend mit dir auf Mims Ball. Du hast keine Verabredung. Und ich begleite dich zum Abbruchball.«
»Wer hat dir das gesagt?«, fragte Lottie verstimmt. »Ich hab eine Verabredung für heute Abend.«
»Ein kleines Vögelchen.«
Sie erspähte BoomBoom drüben im Raum. »Ein großes Rotkehlchen. Warte, bis ich die in die Finger kriege.«
»Mir wär lieber, du würdest mich in die Finger kriegen.«
Die das mithörten, unterdrückten ein Kichern, sorgsam darauf bedacht, nicht zu dem drohenden Drama hinzustarren.
»Roger, träum schön weiter.«
»Weißt du, was mit dir los ist, Lottie? Du bist ein verdammter Snob. Und weißt du, was noch? Ich hab noch nie einen Snob gesehn, der wirklich froh wäre, weil es so wenige Menschen gibt, zu denen er sich herablassen kann, verstehst du? Und du brauchst Freunde auf dieser Welt. Du brauchst Freunde. Die Welt ist manchmal grausam. Du brauchst Freunde, und du brauchst was zu trinken.«
»Du hast genug getrunken, weswegen ich dir verzeihe, dass du mich Snob genannt hast. Wenn du willst, dass ich mit dir ausgehe, Roger, dann stellst du es wirklich unmöglich an.«
»Ich bin nicht betrunken.« Ein streitlustiger Ton schlich in seine Stimme. »Und ich werde reich. Das hast du vergessen. Wie viele F.F.V.s haben Geld? Guck dir Harry an. Prima Blut und keinen Penny.« Er mochte Harry, aber es machte ihm nichts aus, sie als Beispiel für die Feinen Familien Virginias anzuführen. »Der Laden brummt. Ich bin kein armer Mann. Hat deine Mutter dir nicht gesagt, dass es genauso leicht ist sich in einen reichen Mann zu verlieben wie in einen armen? Also, ich bin reich.«
Lottie war im Augenblick nicht gut auf Harry zu sprechen, weil sie fand, Diego hätte ihr Begleiter sein sollen. Es war herzlos von BoomBoom, Diego mit Harry zusammenzubringen. Harry hätte schließlich mit ihrem Ex-Mann zu den Partys gehen können. Alle wussten, dass er sie noch liebte und unbedingt zurückhaben wollte.
»Lottie, vielleicht hast du zu viel getrunken.« Roger berührte ihren Arm, da sie in Gedanken vertieft war.
»Hach. Nein!«
»Dann lass mich dir was holen. Die Welt sieht schöner aus, wenn du ein paar Jim Beam intus hast.«
Die John-D'earth-Kapelle fing im Garten zu spielen an. Tante Tally hatte ihren zerlegbaren Tanzboden im Freien aufstellen lassen. Die Leute schlenderten nach draußen.
Sean, der Sportsakko und Krawatte trug, kam hinzu. »Roger, halt dich ein bisschen zurück, sonst bist du heute Abend nicht mehr zu gebrauchen.«
»Der große Bruder sieht dich an«, sagte Roger ohne Bosheit, als Sean mit Lottie im Schlepptau weiterging.
»Danke, Sean«, sagte Lottie leise.
»Er war schon immer verknallt in dich, Lottie. Ich wünschte, du könntest über sein Äußeres hinwegsehen. Roger ist ein guter Mensch, und er würde ein guter Ernährer sein. Solide. Er braucht eine Frau, die ihn festigt. Er trinkt, weil er einsam ist.«
»Das sagt ein Mann, der immer noch Single ist.« Lottie fand, dass Sean der besser aussehende Bruder war.
»Das Geschäft hat so viel Zeit gekostet, weit mehr, als ich dachte. Ich sag dir was, ich hab gelernt, meinen Vater und meinen Großvater zu achten. Sie haben das Geschäft gegründet, und sie haben sich mit der Zeit verändert, aber am Ende hatte Dad seinen Weg gemacht. Rog und ich müssen alles, was wir haben, ins Geschäft stecken. Weißt du, ich mag die Herausforderung.« Er atmete aus, lange und tief. »Aber ich muss mehr rauskommen. Auf dem Schrottplatz finde ich keine Frau.«
»Oh, wenn BoomBoom, die frisch gebackene Künstlerin, auf euer Gelände kommt, dann kommen doch sicher auch andere Frauen.«
»Du würdest dich wundern, was für Leute uns da draußen aufsuchen.« Er grinste halb zustimmend. »BoomBoom erstaunt mich. Sie macht tatsächlich Schweißarbeiten.« Er hob die Hand. »Ehrlich, sie macht Skulpturen aus Schrott, und die sind nicht übel. Irgendwie drollig. Aber ich glaube trotzdem nicht, dass ich die Liebe meines Lebens auf dem Schrottplatz finde.«
»BoomBoom mit einem Schweißbrenner.« Lottie hob die Augenbrauen.
Tante Tally folgte ihren Gästen in den Garten, wo die Mitglieder der Marschkapelle Getränke und Hors d'reuvres servierten. »Wo kommen die vielen Kinder her? Haben die Leute sich hinter meinem Rücken vermehrt?«
»Ned Tucker hat Unterstützung angefordert«, erklärte Big Mim.
»Er sollte für ein öffentliches Amt kandidieren. Er ist sehr gescheit.«
»Für welches Amt?« Big Mim wollte nicht, dass jemand der Karriere ihrer Tochter in die Quere kam. Sie war froh, dass Marilyn endlich ein Lebensziel hatte.
»Kongress.« »Ja, das wäre gut, aber schauen wir erst mal, wie Little Mim sich macht.«
»Sie ist Vizebürgermeisterin, und sie ist jung. Lass ihr Zeit.«
»Aber Ned ist auch jung«, sagte Big Mim.
»Er ist Ende vierzig. Marilyn ist in den Dreißigern. Lass Ned den Weg bereiten.« Tante Tally klopfte mit ihrem Stock auf den Ziegelweg, zeigte ihre Ungeduld ebenso wie ihre Intelligenz. Wenn Ned für den Kongress kandidierte und gewann, dann könnten Tally und andere ihm eines Tages zu einem Senatsposten verhelfen, und Little Mim könnte seinen Sitz erben. Es käme zu keinem harten Kampf, und auf diese Weise hätten sie zwei Politiker am Ball. Eine Menge Wenns, aber die meisten Bestrebungen fangen so an, und Tante Tally gab nicht viel auf Wenns.
»Darf ich um diesen Tanz bitten?« Reverend Jones reichte Tante Tally die Hand.
»Ich dachte schon, Sie holen mich nie von ihr weg.« Lachend betrat Tally die Tanzfläche. »Sie ist immer um mich herum. Was denkt sie eigentlich? Dass ich vor ihren Augen umkippe, weil ich älter bin als Lehm?«
»Sie bleibt in Ihrer Nähe, weil sie Sie liebt.«
»Ach was«, erwiderte Tally dem Reverend.
Diego hielt Harry in seinen Armen. Ein Schauder rieselte über ihren Rücken. Fair, der mit Lottie tanzte, guckte wütend.
Thomas Steinmetz machte die Runde bei den Damen und kehrte immer wieder zu BoomBoom zurück, wie es sich gehörte.
»Du machst eine Menge Frauen glücklich.« BoomBoom lächelte ihn an.
»So lange ich dich glücklich mache.« Er lächelte sie an wie einer, der es gewöhnt ist, von den Frauen zu bekommen, was er will.
Roger kam zu ihnen, ein bisschen nüchterner jetzt. »Sind Sie wirklich ein Botschafter?«
»Thomas Steinmetz, Roger O'Bannon, mit seinem Bruder Besitzer von O'Bannon's Salvage«, sagte BoomBoom.
»Sehr erfreut.« Thomas streckte seine Hand aus.
Roger blinzelte, dann schüttelte er ihm die Hand. »Ganz meinerseits. Sie haben Zinnminen in Uruguay?«
»Bolivien hat mehr als wir.« Er sah, dass Tante Tally an einen Tisch geführt wurde. »Wenn Sie mich entschuldigen wollen, ich bin jetzt an der Reihe, mit Tante Tally zu tanzen.«
»Glückspilz«, erwiderte Roger gleichgültig.
Lottie kam an BoomBoom vorbei und zischte: »Das war echt beschissen von dir, Harry mit Diego zu verbandeln. Du willst Fair zurückhaben.«
BoomBoom drehte sich auf dem Absatz um. »Lottie, du bist so kleinlich und so daneben. Ich sollte dir eigentlich eine knallen.«
»Du bist gewalttätig veranlagt. Das warst du schon auf der Highschool. Nur zu, schlag mich doch«, stachelte Lottie sie an.
Roger packte Lottie am Arm. »Komm, Lots. Lass uns reden.«
»Nein.« Sie schüttelte ihn ab.
Roger stand einen Moment unentschlossen da, dann ging er mit leicht schwankendem Schritt davon.
»Lottie, sei nicht blöd. Ich hab Harry und Diego zusammengebracht, weil ich wusste, dass er die Landwirtschaft liebt. Wie sollte ich ahnen, dass sie gut miteinander können? Weil du unglücklich bist, willst du nicht, dass jemand anders glücklich ist.«
Lottie hob ein wenig die Stimme. »Zicke.«
»Ja«, scherzte Susan, die einen Teil der Auseinandersetzung mitanhören konnte. »Ich kann in drei Komma sechs Sekunden von null auf Zicke beschleunigen. Frag meinen Mann.«
Lottie richtete den Blick fest auf Susan, die bei Cynthia stand, dann beschloss sie, sich von Roger wegführen zu lassen. Susan und Cynthia traten zu BoomBoom.
»Du wirkst echt stark auf Frauen«, sagte Cynthia lachend zu BoomBoom.
»Meistens negativ.« Sie lächelte aber, weil Thomas gerade zu ihr zurückkam.
»Sie wird uns alle überdauern.« Er deutete auf Tante Tally.
»Die erste Frau in Albemarle County, die ein Flugzeug geflogen und noch andere Sachen gemacht hat«, bemerkte Susan.
Pewter war unter dem langen Tisch im Haus fest eingeschlafen. Voll gestopft mit Truthahn, Schinken, Räucherlachs und anderen Delikatessen brauchte sie ein Nickerchen zur Unterstützung ihrer Verdauung. Tucker lag neben ihr, ein leises Blubbern entschlüpfte ihrer Schnauze.
Murphy nahm von allem eine Kostprobe, aber sie war keine große Esserin. Sie war in die Küche gegangen.
Der Gehilfe vom Party-Service machte sich an der großen silbernen Warmhaltekanne zu schaffen, in die er Kaffee einfüllte. Er sagte schnippisch zu jemand von den jungen Leuten: »Lass den Kaffee nicht ausgehn - aus nahe liegenden Gründen.«
»»Meckerfritze.« Murphy rollte ihren Schwanz um sich, während sie zusah.
»Sieh zu, dass du Rohzucker rausbringst. Ich hab festgestellt, dass er fast alle ist.«
»Ja, Sir«, sagte Brooks Tucker, Susans und Neds Tochter. Sie ging durch die mit Porzellan und Silber bestückte Speisekammer in die Küche, die fast leere silberne Zuckerdose in der Hand. Sie füllte sie mit Rohzucker und eilte ins Speisezimmer, um sie auf den Tisch zu stellen. Auf dem stand eine zweite Zuckerdose mit weißem Würfelzucker. Auch der ging schnell zur Neige. Honig stand ebenfalls auf dem Tisch. Sie überlegte, ob es Tante Tally stören würde, wenn sie ein paar nicht zusammenpassende Schalen mit Zucker füllte, um der Nachfrage zu genügen, vergaß es dann aber, als Ted, der Koch vom Party-Service, sie zurückrief und ihr auftrug, ein Tablett mit saftiger Möhrentorte herauszubringen.
»Möchtest du mir helfen, Mrs. Murphy?«, fragte Brooks.
»»Klar.« Die Katze trottete hinter Brooks her, dann blieb sie im Speisezimmer und setzte sich auf den Kaminsims, so dass sie alles überblicken konnte.
Draußen auf der Tanzfläche stieß der dunkelhäutige Diego, als er den nächsten Tanz mit Harry tanzte, unabsichtlich mit Fair zusammen.
»Sehen Sie sich vor, Freundchen, und überhaupt könnten Sie meine Frau loslassen.«
»Ich bin nicht deine Frau.« Harry war entsetzt.
Darauf tippte Fair Diego auf die Schulter. Diego sah Harry fragend an, die ihm zu verstehen gab, dass sie mit Fair tanzen würde. Sie tanzten weniger, als dass sie sich ruhig hin und her wiegten. Keiner sprach ein Wort.
Diego trat zu BoomBoom, Thomas und Susan, die den Männern in zwei Sätzen Harrys Ehe und ihre Auflösung schilderte.
»Sie waren auf der Highschool ein Paar. Sie haben geheiratet und, na ja, es ist nicht gut gegangen.«
»Ah, verstehe«, sagte Diego gefühlvoll. »Ihm scheint noch an ihr zu liegen.«
»Allerdings«, bestätigte Susan resolut. »Er will sie wiederhaben. Sie war das Beste, was ihm je passiert ist, und er hat sie verloren. So was kommt vor.«
»Harry zu verlieren dürfte ein schwerer Verlust sein«, murmelte Diego.
»Jeder entwickelt sich in seinem eigenen Tempo.« Boom-Boom hatte nicht den Wunsch, bei diesem Thema zu bleiben.
Susan hatte natürlich verstanden. Sie wurden von Sean abgelenkt, der seinen Bruder ins Haus bugsierte.
»Sie ist nicht interessiert«, sagte Sean so, dass die kleine Gruppe es mitbekam.
»Ist sie wohl. Du verstehst die Frauen nicht, Sean«, meinte Roger.
Die Musik war zu Ende und Diego nahm Harrys Hand und verließ die Tanzfläche. Fair blieb einen Moment dort stehen.
»M-m-m, der sieht rot«, bemerkte Tante Tally, der eben nichts entging, vor allem, dass Miranda Hogendobber so glücklich war wie seit ihrer Kindheit nicht mehr, und dass Tracy Raz zwanzig Jahre jünger aussah. Sie waren sichtlich verliebt.
Sean setzte Roger hin und besorgte ihm eine Tasse Kaffee. Viele Menschen drängten sich am Tisch, um sich Kaffee und Tee zu holen. Die Desserts waren aufgetragen worden.
Mrs. Murphy dachte daran, Pewter und Tucker zu wecken, aber sie schliefen tief. Auf ihrem hohen Posten fiel ihr auf, wie viele Männer kahle Stellen auf dem Kopf hatten.
Roger war geladen, aber nicht so geladen, wie Sean glaubte. Er konnte immerhin noch die Leute erkennen, konnte noch sprechen. Seinen Kaffee trank er schweigend.
Sean beugte sich vor, flüsterte Lottie etwas zu, die jetzt bei den Desserts war. Sie sah zu Roger hin, dann seufzte sie.
»Es würde ihm so viel bedeuten«, sagte Sean. »Und er könnte eine zweite Tasse vertragen.«
Mrs. Murphy beobachtete, wie Lottie ein großes Stück Schwarzwälder Kirschtorte auftat, dann zur Warmhaltekanne ging und eine Tasse Kaffee einschenkte. Sie griff nach einer Silberdose mit Würfelzucker. Sie hielt einen Moment inne, und Thomas, der direkt hinter ihr stand, reichte ihr die Porzellandose mit Rohzucker. Er hatte gerade einen Löffel hineingetaucht, doch da er ein Gentleman war, ließ er Lottie den Vortritt. Sie gab drei gehäufte Löffel Zucker in die Tasse und drehte sich just in dem Moment um, um Thomas die Dose zurückzugeben, als er danach greifen wollte. Die Dose rutschte Lottie aus der Hand und ging zu Bruch, und der Zucker verteilte sich überall auf dem Fußboden aus unterschiedlich breiten Fichtenkernholzbrettern.
»Verzeihung«, sagte Lottie.
»Es war meine Ungeschicklichkeit. Das verschafft mir Gelegenheit, Sie um einen Tanz zu bitten, wenn Sie mit dem Nachtisch fertig sind.« Er spielte den Vorfall herunter.
»Ich bleibe nicht lange weg.« Lottie lächelte und hoffte, das würde BoomBoom ärgern.
Die Leute beobachteten beiläufig, wie sie zu Roger ging, ihm Kaffee und Kuchen brachte. »Roger, es tut mir Leid, dass ich so ruppig war, aber manchmal kannst du einen ganz schön nerven. Denk dir mal eine weniger ungehobelte Art aus, auf Frauen zuzugehen, ja?«
Er fand es nett, bedient zu werden, und sagte leise: »Ich bin wie ein Elefant im Porzellanladen. Aber ehrlich, Lottie, wir würden uns prima amüsieren, wenn du mit mir auf den Ball gehen würdest. Ich verspreche, dass ich nicht trinke. Ich kauf dir ein Bouquet zum Anstecken und - also ich hab lange gebraucht, um den Mut aufzubringen.«
»Wirklich?«
»Ja, du machst mir 'ne Heidenangst.« Er trank den Kaffee.
»Bloß weil ich dich nerve, heißt noch lange nicht, dass ich keine Angst habe.«
»Hm - lass mich drüber nachdenken, während ich mit Thomas Steinmetz tanze.«
»Ich bleib hier sitzen. Rühr mich nicht vom Fleck.« Zum ersten Mal an diesem Nachmittag lächelte er aufrichtig.
»»Manche Männer kapieren''s einfach nicht«, dachte Mrs. Murphy bei sich.»»Einer Frau zeigen, dass man sie gern hat, ist eine Sache. Sie bedrängen, das ist was anderes. Männer müssen ein bisschen geheimnisvoll sein. Sie sollten von Katzen lernen.«
Die Party nahm ihren Lauf, und noch einige Männer forderten Lottie zum Tanzen auf. Tante Tally ließ keinen Tanz aus.
Als Lottie zu Roger zurückkam, schlief er fest, sein Kopf ruhte auf seiner Brust.
»Roger. Roger.« Sie schüttelte ihn. »Roger, du fauler Sack, wach auf«, rief sie munter. »Roger.« Lottie trat zurück. »O mein Gott.«
Little Mim kam hinzu und sagte ohne zu überlegen: »Was hast du ihm denn in den Kaffee getan? Er ist bewusstlos.«
»Er ist entweder ohnmächtig oder - tot.« Lotties Miene drückte Entsetzen aus.
»Ach Lottie, sei nicht so theatralisch. Er hat seit der Parade getrunken.« Little Mim packte seinen Arm, um ihn hochzuziehen. »Er ist warm. Wirklich.« Mit einem Anflug von Abscheu und Entschlossenheit gab sie ihm einen Stoß, und er kippte nach vorn, fiel flach aufs Gesicht.
Little Mim sah zu Roger und wieder zu Lottie. »Roger!«
Mrs. Murphy sprang vom Kaminsims, lief unter den Tisch und weckte Pewter und Tucker. Tucker rannte zu Roger, schnupperte und wich zurück.
Cynthia Cooper wurde vom Tanzboden geholt. Sie trat ins Zimmer und meinte, Roger sei bewusstlos. Sie fühlte an seinem Hals nach dem Puls. Nichts. Sie versuchte es noch einmal. Unterdessen traten weitere Gäste hinzu. Sie drückte Zeige- und Mittelfinger wieder an seinen Hals. Nichts. »Er ist tot.«