33

Um Mitternacht hörte der Regen auf. Mrs. Murphy hatte sich an das unaufhörliche Prasseln auf dem Dach gewöhnt. Die Stille weckte sie. Neben Harry gekuschelt, hob sie den Kopf, stand dann auf und streckte sich zu voller Länge aus.

Tucker, die auf dem Bettvorleger schlief, schnarchte leise, ihre geöffnete Schnauze enthüllte ihre beachtlichen Eckzähne und die kleinen geraden Zähne dazwischen.

Pewter schlief tief und fest neben Harry auf dem Kissen. Ihre graue Stirn lag an der Ecke von Harrys Kissen, ihr Leib bildete ein Komma, den Schwanz hatte sie eng um die Beine gelegt.

Sinnlos, die Schlafprinzessin aufzuwecken. Neben Essen war Schlafen Pewters Lieblingsbeschäftigung.

Murphy ging aus dem Schlafzimmer, über den Flur, sorgsam darauf bedacht, auf den alten Teppichläufer zu treten. Sie fühlte gerne Teppich unter den Pfoten. Dann hüpfte sie durch die Küche, zum Tiertürchen hinaus und stieß die Fliegentür der Veranda auf. Die niedrigen, sich ballenden Wolken, Preußischblau, fegten von Westen nach Osten über den Himmel. Pfützen wie schwarzes Eis füllten die kleinen Vertiefungen in der Zufahrt. Diese Zufahrt in einem guten Zustand zu erhalten trieb Harry zum Wahnsinn. Sie füllte die Löcher geflissentlich auf, doch die Steine verirrten sich immer wieder an den Straßenrand. Alle drei Jahre gab sie klein bei und heuerte Mr. Tapscott an, der die lange Zufahrt planierte, Lazulith oder einen Straßenbelag aus zerstoßenen Steinen aufbrachte und dann so fest wie möglich stampfte. Kein Wunder, dass der Unterhalt der Straßen ein Großteil des Staatsetats verzehrte. Hätte Harry nur einen winzigen Bruchteil dieses Etats, dann wäre ihre Straße tipptopp in Schuss.

Murphy dachte oft über die Sorgen der Menschen nach. Nicht dass sie den Unterhalt der Straßen für eine dumme Sorge hielt. Schließlich war sie eine Farmkatze; sie wusste, wie wichtig Straßen, Traktoren und das Nachsäen der Weiden waren. Aber vieles von dem, um das die Menschen Tamtam machten, erschien ihr dämlich. Sie sorgten sich um ihr Aussehen, um Geld, um ihren gesellschaftlichen Status.

Katzen war gesellschaftlicher Status egal. Eine Katze zu sein bedeutete ganz oben auf der Tierkette zu stehen. Und da Katzen keine Herdentiere sind, war jede Katze ein vollkommenes Individuum. Was nicht hieß, dass es Mrs. Murphy an Katzenfreundinnen mangelte. Es hieß lediglich, dass sie sich nicht auf sie verließ, wenn es um ihr Selbstverständnis ging. Siewar, das genügte.

Sie hopste durch Pfützen und trat in den Stall. Die drei Pferde, die fest schliefen, hörten sie nicht. Sie sprang auf die Satteltruhe. Gin Fizz schlief wie Tucker, er lag auf der Seite und schnarchte. Tomahawk und Poptart schliefen im Stehen. Murphy konnte sich nicht vorstellen im Stehen zu schlafen.

Sie schlich in die Sattelkammer. Die Mäuse spielten mit einem Flummi und sangen aus Leibeskräften: »Eins, zwei, drei, wer hat den Ball.«

Murphy schlug zu und verfehlte knapp die dickste Maus.

»Iiih! Irre Katze. Rennt um euer Leben!«, schrien sie und sausten zu dem Loch in der Mauer. Alle schafften es.

Murphy legte ein blitzendes Auge an das wie ein umgekehrtes U geformte Loch.»Ihr solltet wenigstens so viel Anstand haben, hinter euch aufzuräumen. Mein Mensch findet eure Spiele nicht lustig. Ihr habt den ganzen Fußboden voller Körnerreste gelassen. Ihr macht mir Ärger, und wenn ihr mir Ärger macht, schnapp ich mir eine von euch, und wenn es das Letzte ist, was ich tue!«

»Brutal«, antwortete eine Piepsstimme.

»Wir hatten eine Abmachung getroffen. Ihr hinterlasst die Sattelkammer sauber, und ich lass euch in Ruhe.«

»Du hast uns überrascht. Wir hätten schon noch aufgeräumt.«

»Klar.« Mrs. Murphy bearbeitete den kleinen Ball mit den Pfoten.

»Gib uns unseren Ball wieder. Wir räumen auf. Ich versprech 's.«

»Vielleicht tu ich's, vielleicht auch nicht.« Damit katapultierte sie sich hoch in die Luft, vollführte eine halbe Drehung und ließ sich auf den Flummi fallen. Sie plumpste auf die Seite, kickte das Bällchen mit den Hinterbeinen weg, jagte ihm wie wild hinterher unter Sattelgestelle und Zügelhaken. Sie schlug mit der rechten Vorderpfote heftig auf den Flummi ein. Der kleine rote Ball knallte gegen die Mauer und prallte zurück, landete beinahe zwischen den Kiefern der Katze.

Murphy tollte fünf Minuten lang so herum, bis sie es satt hatte, solo Handball zu spielen. Fieserweise deponierte sie den Flummi ungefähr dreißig Zentimeter vor dem Mauseloch. Unter großem Getue verließ sie die Sattelkammer, schlich auf Zehenspitzen wieder hinein und schwang sich leise auf einen Sattel. Mit angehaltenem Atem wartete sie, bis sie winzige Barthaare in der Öffnung erscheinen sah.

»Sie ist weg«, sagte eine Stimme.

»O nein, ist sie nicht. Ich kenne Mrs. Murphy. Die ist gerissen«, antwortete die Piepsstimme von vorhin.

»Mom, du bist zu ängstlich. Sie ist bei Simon auf dem Heuboden.«

»Bart, du gehst mir da nicht raus. Du kannst später spielen. «

Doch Bart, jung und sehr von sich eingenommen, dachte, er könnte raussausen, sich den Flummi schnappen und ihn hineinrollen. Und sollte die Katze doch in der Sattelkammer sein - er dachte, er wäre schneller als sie. Irrtum.

Kaum war Bart herausgeflitzt, als er von Mrs. Murphys ganzem Gewicht umringt war. Sie war heruntergesprungen und hielt ihn unter ihrem beige­gestreiften Bauch fest.

»Bart! Bart!«, schrie seine Mutter.

»Mom.« Seine Summe war durch das viele Fell gedämpft.

Höchst zufrieden mit sich drehte Mrs. Murphy sich so, dass Bart seinen Kopf unter ihr hervorstecken, aber nicht entkommen konnte.»Elende Kreatur.«

»O bitte, Mrs. Murphy, töte mich nicht.«

»Ich werde mit dir spielen, ich lass dich los, dann knall ich meine Pfote auf deinen Schwanz. Wenn ich deine Blödheit satt habe, pack ich dich am Hals und beiß dir den Kopf ab. Ich lass deinen Kopf hier liegen, damit Harry sieht, was für eine tolle Mäusefängerin ich bin. Den Rest esse ich. Hm, lecker. «

»Nimm mich.« Inmitten des Geschreis der anderen Mäuse eilte Barts Mutter beherzt herbei.

»Ich könnte euch beide kriegen, fix wie ich bin.«

»Du bist eine fabelhafte Sportlerin, Mrs. Murphy.« Die Mutter trat direkt vor Mrs. Murphys Nase.»Aber er ist jung. Ich nicht. Nimm mich. «

Bart schluchzte. Mrs. Murphy überdachte die Situation. Sie hörte einen leisen Flügelschlag im Gang. Die Eule war von der Jagd zurück.

»Na los. Geh rein. Sie wird dich fressen. Ich nicht.«

»Gottes Segen, Mrs. Murphy.« Die Mutter umarmte Mrs. Murphy so gut sie konnte, während Bart in sein Heim huschte.

»Räumt ja hier auf. Wenn nicht, bin ich nächstes Mal nicht so nett zu euch.«

»Machen wir!«, gelobte ein jubelnder Chor hinter der Mauer.

Zufrieden, weil sie ihre Herzen mit Angst und Schrecken erfüllt hatte, verschwand die Tigerkatze im Mittelgang und kletterte dann die Leiter zum Heuboden hinauf. Simon schlief, umringt von seinen Schätzen.

Murphy sah zu der Kuppel hoch, von wo die Eule, gut einen halben Meter größer als sie, hinunterspähte.

»Werda?«

»Du weißt wer.«

»Allerdings. Eine freche Katze. Eine verwöhnte Katze. Mrs. Murphy. Was machst du hier drin? Vom Regen überrascht?«

»Nein. Ich bin aufgewacht, als er aufgehört hat. Warst du im Regen jagen?«

»Auf Beutezug, als das Schlimmste vorbei war.«

Mrs. Murphy kletterte auf den obersten Heuballen. »Komm hier runter und sprich mit mir, damit ich keine Genickstarre kriege. Und ich mag nicht schreien. Sonst wacht Simon früher oder später auf und quengelt. Du kennst ihn ja.«

Obwohl sie nicht eng befreundet waren, hatten die zwei Raubtiere Achtung voreinander, auch wenn die Eule nicht das geringste Verständnis für Domestizierung aufbrachte. Sie schwebte herunter, totenstill. Das ließ Mrs. Murphy frösteln; denn wenn die Eule jagte, merkte man erst, wie einem geschah, wenn es zu spät war. Selbst scharfe Katzenohren konnten ihre Anwesenheit erst wahrnehmen, wenn sie schon ganz nahe war.

Die gelb strahlenden Augen der Eule blinzelten.»Was hast du im Sinn, Miezekatze?«

»Ichmuss zu Tante Tally Urquhart, aber ich kann die Bäche nicht überqueren.«

»Sind über die Ufer getreten, Geröll wirbelt im Wasser. Nicht mal die Biber wollen raus aus ihren Burgen, und die Äste bohren Löcher in die Burgen. Man kann das Getöse hören.« Die Eule blinzelte wieder.

»Ja, ich hab 's gehört, als ich das Haus verlassen habe. Ich denke, wenn wir an Tallys Einfahrt vorbeikommen, kann ich das Fenster von dem Transporter aufmachen und rausspringen. Mutter muss wegen der Kurve das Tempo runternehmen, aber sie soll nicht wissen, dass ich die Fenster aufkriege. Es ist nicht gut, wenn die Menschen wissen, was wir können.«

Die Eule kicherte.»Das ist sehr eulenhaft von dir.« Sie plusterte ihr Gefieder auf, drehte ihren Kopf fast ganz herum, dann ließ sie sich nieder.»Soll ich hinfliegen?«

»Ich muss ins Haus rein.«

»Ah, da kann ich dir nicht helfen.«

»Zwei Menschen sind ermordet worden. Der eine wurde erhängt und der andere erschossen.«

»Ich weiß.«

»Das hab ich vermutet. Du kommst viel rum. Ich hatte nicht gedacht, dass du dir viel aus den Angelegenheiten der Menschen machst.«

»Tu ich auch nicht, aber Mord ist ein unheimliches Phänomen. Wir Eulen ermorden uns nicht gegenseitig. Ihr Katzen mögt euch balgen, in einem bösen Kampf auch mal ein Auge verlieren, aber ihr ermordet euch nicht gegenseitig. Das ist eines von den bedrückenden Phänomenen bei den Menschen.«

»Scheint so.« Murphy beugte sich zu dem großen Vogel vor.

»Ich glaube, es gab einen dritten Mord. Roger O 'Bannon. Und entweder hat sein Bruder es getan, oder sein Bruder muss als Nächster dran glauben.«

»Ah, bin ich etwa der Hüter meines Bruders?« Sie wiegte sich auf ihren großen Füßen vor und zurück.

»Kain und Abel. Mrs. Hogendobber würde das genaue Bibelzitat wissen. Ich weiß es nicht, aber die Geschichte kenne ich.«

»Ich auch. Kain hat Abel erschlagen, weil er eifersüchtig war. Der hebräische Gott hat Abel vorgezogen. In allen Religionen gibt es so eine Geschichte. Da ich Athene geweiht bin, habe ich eine Vorliebe für die griechischen Sagen. Man müsste schon ein starkes Motiv haben, um Blut vom eigenen Blut zu töten. Oder aber Sean ist schlicht ein kaltblütiges Wesen.«

»Das glaube ich nicht. Ich könnte mich irren. Crozet ist so klein. Man meint die Leute zu kennen, aber man kennt sie nicht. Am rätselhaftesten ist mir, auf was die sich eingelassen haben - in Don Clatterbucks Tresor hat man über fünfhunderttausend Dollar gefunden. Drum sollte ich wohl sagen, dass Geld das Motiv ist, und wenn das nur Clatterbucks Anteil ist, dann sprechen wir von einem riesigen Batzen Geld. Aber ich kann mir um alles in der Welt nicht denken, was sie getan haben könnten, um an so viel Kohle zu kommen. Drogen sind es nicht, das glaube ich zumindest, und wir wissen, dass es kein Falschgeld ist. Ich hab überlegt und überlegt. Hab sogar daran gedacht, ob sie vielleicht Staatsgeheimnisse verkauft haben, aber in Albemarle County gibt's keine Staatsgeheimnisse. Die Regierungsbeamten und hohen Offiziere, die sich hier zur Ruhe gesetzt haben, sind einfach nur im Ruhestand.«

»Sklaverei.« »Häh?«

»Mrs. Murphy, es gibt noch Sklaverei. Kinder werden gekauft und verkauft. Menschen aus Asien und Südamerika werden in die USA geschmuggelt und als Haussklaven verkauft. Oh, man nennt es anders, aber es ist Sklaverei. Wenn du die Sprache nicht sprichst, kannst du nicht allein aus dem Haus gehen. Du arbeitest für nichts oder fast nichts, und ein anderer Mensch, vielleicht der, der dich reingeschmuggelt hat, bestimmt über dein Leben. Menschen über die Grenze schmuggeln, da steckt viel Geld drin.«

»Darüber hab ich nie nachgedacht. Ich weiß nicht, aber da ist was, und das ist hier. Eins weiß ich, wenn Sean nicht beteiligt ist, wird er über kurz oder lang tot sein. Wenn er am Leben bleibt, muss ich das Schlimmste annehmen.«

»Kannst du ihm nicht eine Falle stellen? Wenn er nicht reinfällt, ist er unschuldig«, sagte die Eule bedachtsam.

»Das ist es ja. Da ich nicht weiß, was sie machen, kann ich keine Falle stellen. «

»Du sitzt in der Patsche.« Die Eule kicherte.»Aber dein Mensch ist in Sicherheit. Warum dich grämen?«

»Nein, ist sie nicht. Sie war dabei, als ausgerechnet BoomBoom Craycroft den Tresor aufgeschweißt hat. Und jetzt ist Harrys Blut in Wallung. Sie ist so neugierig wie eine Katze, aber ohne die neun Leben.«

»Harry hat eine seltsame Art, über die Wahrheit zu stolpern.«

Die Eule kratzte sich mit dem Fuß am Kopf.

»Du könntest mir einen Gefallen tun. Wenn das Wetter es zulässt, flieg über O 'Bannon 's Salvage. Guck mal, ob aus der Luft irgendwas eigenartig aussieht. Manchmal verrät die Erde was. Oh, und dort wohnt ein äußerst widerwärtiger Rattenmann, er nennt sich Papst Ratte. Ich glaube, der weiß 'ne Menge.«

»Wenn ich ihn erwische und nach oben trage, wird er singen wie ein Rotkehlchen.« Sie kicherte leise und tief; der Gedanke, die Ratte in der Luft zu schwenken, gefiel ihr.

»Wenn wir rauskriegen, was es ist, werden wir uns bestimmt wundern, wie uns das entgehen konnte.« Die Katze seufzte.

»Oder Bauklötze staunen. Trotz ihrer vielen Fehler können Menschen verdammt schlau sein.«

O

bwohl der Regen aufgehört hatte, schwappte das abfließende Wasser über die Schnellstraßen, und mit Unrat verstopfte Bachdurchlässe stauten sich und liefen über. Wohin man auch sah, überall floss Wasser. Es ließ die Seitenstreifen der Straßen glänzen.

Harry, die langsam fuhr, sprach ein Dankgebet, weil ihr Land hoch über dem Überschwemmungsgebiet lag. In den Gebäuden im Flachland standen zumindest die Keller unter Wasser.

Mrs. Murphy, Pewter und Tucker hatten sich gestritten, seit sie in den Transporter geklettert waren. Murphy war fest entschlossen rauszuspringen, wenn Harry wegen der Kurve bei der Einfahrt zu Tally Urquharts Farm langsamer fahren musste.

Pewter schwor, sie würde sich nicht aus einem fahrenden Auto stürzen. Was kümmerte es sie, ob Sean in Gefahr war? Außerdem würde sie sich in der ewig langen Zufahrt nasse Füße holen.

Tucker stöhnte; sie könnte sich zwar durch das Fenster quetschen, aber da sie nicht so behende war wie die Katze, fürchtete sie sich vor dem Sturz. Es hatte keinen Sinn, gebrochene Knochen aufzulesen.

»Aber ich brauch deine Nase«, schmollte Murphy.

»Wird dir kaum was nützen, wenn ich mich nicht die Zufahrt raufschleppen kann. Der Plan taugt nichts, Murphy. Hab Geduld. Früher oder später wird Mom Tally besuchen.«

»Bis dahin ist es zu spät.« Die geschmeidige Katze legte die Pfote auf die Fensterkurbel; der alte Transporter hatte keine elektrischen Fensterheber.

»Nein, ist es nicht.« Pewter fürchtete, wenn Murphy das Fenster herunterkurbelte und aus dem Wagen stürmte, würde Harry ausscheren, und sie würden von der Straße in den Matsch rutschen. Keine angenehme Aussicht für eine etepetete Katze.

Vor ihnen lag Tallys Farm. Das große rechteckige Schild mit einer weißen Rose auf dunkelgrünem Grund und dem Namen »Rose Hill«, das auf das Anwesen aufmerksam machte, schwang im leichten Wind. Mrs. Murphy fing an, das Fenster mit beiden Pfoten herunterzukurbeln, als Harry zu ihrer Freude rechts in die Zufahrt einbog.

»Murphy, was machst du da?«

»Verdammt, jetzt weiß sie, dass ich das Fenster öffnen kann. «

»Ich hab dir ja gesagt, tu's nicht.« Pewter rutschte selbstgefällig herüber, um neben Harry zu sitzen.

»Arschkriecherin«, fauchte Murphy.

»Das bringt uns doch nicht weiter. Was, wenn dies nur 'ne Stippvisite ist? Wir brauchen einen Plan«, sagte die praktische Tucker.

»Also gut. Wenn wir hinkommen, Tucker, gehst du schnurstracks ins Esszimmer. Die alten Fußbodenbretter sind unterschiedlich breit. Zwischen den Brettern sind Ritzen. Schnupper daran.

Müsste ein bitterer Geruch sein. Pewter, du gehst in die Speisekammer. Du schnupperst auch, aber auf den Regalen. Du musst deine Nase in Zuckerdosen, Sahnekännchen, jede kleine Schüssel stecken, aber sei vorsichtig. Dass du bloß nichts in dich reinatmest. Das Zeug ist tödlich. Denk dran, wie schnell es Roger O'Bannon getötet hat.« »Falls es so war«, erwiderte Pewter.»Ohne Autopsie werden wir's nie erfahren. Er könnte eines natürlichen Todes gestorben sein.«

»Wollen wir's hoffen«, meinte Tucker grimmig.

»Sean hätte eine Autopsie verlangen sollen.« Pewter rutschte ungeduldig zur Beifahrertür, als Harry hinter Tallys schönem Haus parkte.»Es ist merkwürdig.«

»Manche Menschen sind strikt der Meinung, dass ein Toter nicht gestört werden darf. Und zu der Zeit hat niemand an Mord gedacht. So merkwürdig ist das gar nicht.« Tucker ließ sich von Harry aus dem Wagen heben.

Auf dem Gras waren von den Bäumen und Büschen heruntergeschlagene Blüten verstreut wie rosafarbenes und weißes Konfetti. Harry klopfte an die Hintertür, während sie die Blütenblätter von ihren Stiefeln kratzte.

Da nicht gleich jemand an die Tür kam, öffnete sie diese einen Spalt. »Tante Tally, ich bin's, Harry.«

Schritte hallten durch den hinteren Flur. Reverend Herb Jones erschien. »Harry, kommen Sie herein.«

»Hi. Ich hab Ihr Auto nicht gesehn.«

»In der Garage. Der Sturm war so schlimm, da dachte ich, ich komme lieber her und bleibe hier, zumal Mim mit ihrer Familie in New York ist.« Er schloss die Tür hinter Harry und den Tieren, die zu ihren jeweiligen Aufgaben enteilten.

»Wenn ihre Hilfe nach Hause geht, ist sie ganz allein hier draußen, und die Stürme haben böse gewütet. Einer direkt nach dem anderen.«

»Himmel, bin ich froh, dass Sie hier sind. Deswegen bin ich vorbeigekommen. Ich hatte mir auch Sorgen gemacht, weil Tally allein ist.« Sie folgte Herb in die große Küche.

Tally blickte von vergilbten Jagdgebietskarten hoch, die in den 1930er Jahren gezeichnet worden waren. »Ich lebe noch, danke.«

»Daran hab ich nie gezweifelt.« Harry lachte. »Hey, tolle Karten.«

»Ich hatte vergessen, dass ich sie habe, und dann haben Herb und ich von der alten Jagd von Albemarle im Pachtgebiet von Greenwood gesprochen. Ich war damals noch ein Kind, aber die Jagd hat sich nach und nach aufgelöst, und 1929 hat der Farmington-Club das Gebiet übernommen. Auf diesen alten Karten können Sie's sehen.«

Harry stützte sich auf die Ellbogen, um die Karten zu betrachten. Sie liebte alte Drucke, Fotografien, Aquatinta. »Ich glaube, damals hatten die Menschen ein besseres Leben.«

»Hm, ich bin geneigt Ihnen zuzustimmen - außer man hatte Zahnweh«, erwiderte Tante Tally gewitzt.

Während die Menschen ihre gegenseitige Gesellschaft genossen, Tally sich ihre Kindheit zurückrief, Herb sich an die großen Sprünge längst vergangener Jagdzeiten erinnerte, gingen die Tiere rasch ans Werk.

Pewter, ohnehin neugierig, zog leise die Schränke in der Geschirrkammer auf. Sie hatten Glasfronten, so dass sie keine Zeit verschwenden musste. Sie schob die Deckel von zwei Zuckerdosen, eine aus Silber und gediegen, eine schlicht. Sie enthielten reinweißen Zucker. Sie schnupperte. Reinweißer Zucker, ganz einfach.

Ferner untersuchte sie jede kleine Schüssel, jede Terrine, jedes Sahnekännchen. Alles in Ordnung. Enttäuscht sprang sie herunter und zog die unteren Schränke auf, die keine Glasfronten hatten. Sie enthielten nichts außer großen Töpfen, Pfannen und Servierschüsseln.

Mrs. Murphy hatte beabsichtigt, die Küche zu durchstreifen, aber da die Menschen sich dort aufhielten, beschloss sie, sich Tucker anzuschließen.

Die gewissenhafte und kluge Corgihündin begann sorgfältig mit den Fugen zwischen zwei Brettern, die sie sich von einem Ende bis zum anderen vornahm. Murphy kam gerade herein, als sie an der Stelle war, wo der Tisch gestanden hatte.

Die Katze setzte sich auf die Hinterbacken.

Tucker hielt inne, prüfte eine Stelle, hob die Nase, senkte sie wieder. »Murphy, riech mal.«

Die Katze ging zu ihrer Freundin, und obwohl ihre Nase nicht so fein war wie die des Hundes, wehte sie aus einer Ritze ein Geruch an, so schwach, als sei er ätherisch. »Bitter.«

»Riecht wie ein schlimmes Gift, aber wir können es nicht nachweisen.« Der Hund legte den Kopf schief, senkte dann wieder die Nase, zog sie kraus, hob den Kopf.»Kein Rattengift. Das hier hab ich noch nie gerochen.«

Pewter kam hereingeschlendert.»Nichts, nichts und noch mal nichts. «

»Komm her«, sagte Murphy.

Pewter hielt ihre Nase an die Stelle, auf die Tucker zeigte. Sie schnupperte, blinzelte, warf den Kopf zurück. »Widerlich, was noch da ist.« Sie wandte sich an Murphy: »Du könntest Recht haben.«

»Ihr zwei habt unter dem Tisch geschlafen. Ich erinnere mich«, die Tigerkatze sprang auf den Kaminsims, wo sie während der Teeparty gesessen hatte,»dass Roger schon auf dem Stuhl saß. Lottie kam ins Zimmer. Sie war beim Tanzen gewesen oder im Garten, ich weiß es nicht. Die Desserts waren gerade aufgetragen worden. Alles war als Büfett hergerichtet. Die Leute kamen herein und drängten sich am Tisch. Sie brauchten den Kaffee, hatten viel getrunken. Lottie nahm ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte. Sie stand in der Schlange. Dann schenkte sie aus der Warmhaltekanne eine Tasse Kaffee ein und gab drei Löffel Rohzucker hinein. Ich erinnere mich, dass es Rohzucker war, weil sie einen Schritt zurücktrat, um den Zucker auf den Tisch zu stellen, und mit Thomas Steinmetz zusammenstieß, als er gerade nach dem Zucker griff. Die Dose rutschte Lottie aus der Hand und ging zu Bruch. Sie entschuldigte sich, er sagte, es sei seine Schuld, und dann brachte sie Kuchen und Kaffee zu Roger, der sich über ihre Aufmerksamkeit freute. Ich weiß nicht, was sie gesprochen haben, weil ich unterdessen die anderen Menschen beobachtete.« Sie dachte einen Augenblick nach.»Sie hatte 'ne Sauerei mit dem Zucker gemacht. Thomas hat's weggeräumt, bevor jemand von den jungen Leuten, die als Bedienung angeheuert waren, hinzukam. Er hat die Scherben der Zuckerdose aufgelesen und den Zucker mit seiner Serviette aufgeklaubt. Als jemand von der Bedienung kam, gab er sie ihm, um sie in den Abfall zu werfen. Er hatte alles in seine Serviette gepackt. Ich habe zu der Zeit nicht sehr darauf geachtet, ich weiß bloß noch, dass ich gedacht habe, nett von ihm, dass er das macht, es war ja so viel auf den Boden gefallen, dass jemand hätte drauf ausrutschen können. Ich würde sagen, so betrunken, wie viele waren, war das eine vernünftige Entscheidung von ihm. Und zehn Minuten später war Roger gestorben. Und zwar leise. Ohne zu gurgeln oder würgen. Ich hab hier gesessen. Leise!«

»Lottie Pearson hat Roger Kaffee und Kuchen gebracht. Am Abend ist sie dann mit Don Clatterbuck zu dem Tanz gegangen.«

Pewter zog die Stirn kraus. »Lottie Pearson.«

»Und sie ist nicht sehr glücklich mit Mom.« Tucker legte die Ohren an.

»Ja.« Murphy schwieg eine lange Weile.»Ich hatte gedacht, dass Sean - aber jetzt weiß ich nicht recht. Aber was hätte Lottie Pearson mit drei toten Männern zu schaffen haben können, Wesley Partlow, Donny Clatterbuck und Roger O'Bannon? Ist sie 'ne schwarze Witwe oder was?«

»Sie hätte schon vorher Männer umgebracht haben können, aber wenn ich drüber nachdenke, war vielleicht ihre Feindseligkeit gegenüber Roger eine große Sache.«

»Wenn sie keine Sachen macht, dann tut's ein anderer hier ganz sicher.« Tucker hatte den Nagel auf den Kopf getroffen.

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