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Harry, die nicht wusste, was ihre Tiere dachten, handelte nach ihren eigenen Vorstellungen. Erleichtert, weil es Tante Tally an nichts fehlte, lenkte sie ihren Transporter zum Seniorenheim, dem höchsten Gebäude von Crozet, was allerdings nicht viel besagte.

Die asphaltierte Fläche, die das Gebäude aus beigefarbenen Blockbausteinen umgab, war noch nass, so dass der Parkplatz schimmerte wie Glimmer. Harry fuhr zur Rückseite des Hauses, stellte den Motor ab und stieg aus, gefolgt von den »Kleinen«. Pewter schüttelte bei jedem Schritt Wasser von ihren Pfoten.

Harry ging um das Gebäude herum. Nichts Außergewöhnliches war auszumachen. Am Rand der Teerstraße blieb sie stehen, um die Eisenbahnschienen in Augenschein zu nehmen, die in einer langen Kurve rechts an dem Gebäude vorbeiführten. Wesley war in der Nähe der Schienen gefunden worden. Das Gebüsch, das zu dieser Jahreszeit schon hoch stand, konnte jegliche Vorgänge leicht verbergen. Harry schob sich durch Sträucher und Gestrüpp, die Blätter besprühten sie mit Wasser. Eine alte Lehmstraße, von großen, mit braunem Wasser gefüllten Schlaglöchern übersät, verlief parallel zu den Schienen. Der Baum, an dem der Erhängte aufgefunden wurde, eine Eiche, stand etwa fünfzig Meter südlich dieser Straße. Die Entfernung von dem Baum zu den Schienen betrug ungefähr zweihundert Meter.

Harry sah zu den kräftigen, ausladenden Ästen hinauf und schauderte. Die Sonne lugte aus den Wolken, verschwand dann plötzlich wieder. Donner erschütterte die andere Seite des Blue-Ridge-Gebirges. Er war so weit entfernt, dass er sich anhörte wie ein Gott, der sich räusperte.

»Bloß nicht noch mehr Regen.« Harry atmete aus. »Ich sag euch, heutzutage haben wir entweder Überschwemmungen oder Dürren.«

»Du hast vollkommen Recht. Gehn wir zum Wagen zurück«, empfahl Pewter entschlossen.

»H-m-m.« Harry ging um den Baum herum, untersuchte die Erde, dann die Baumrinde. Ihre Neugierde gewann die Oberhand, ein Zustand, den ihre Tiere fürchteten.

Nach zehn Minuten kehrte sie zum Wagen zurück, Pewter raste allen voraus. Der Himmel verfinsterte sich in Windeseile. Harry öffnete die Fahrertür einen Spalt, zog ein Handtuch hinter dem Sitz hervor. Sie wischte allen Tieren die Pfoten ab, bevor sie sie ins Auto ließ. Dann stieg sie ein, öffnete das Fenster etwa fünf Zentimeter und blieb sitzen. Langsam hüllte ein feiner Nebel das Seniorenheim ein.

Die Eingangstür ging auf. Sean O'Bannon, eine stützende Hand am Arm seiner Mutter, führte sie zu ihrem Auto. Der Nebel, schwer von Feuchtigkeit, wurde dichter.

»Das hatte ich vergessen«, sagte Harry vor sich hin, als sie beobachtete, wie Sean sich ans Steuer des Autos seiner Mutter setzte, den Motor anließ und davonfuhr.

»Was?« Mrs. Murphy stupste sie.

»Seans Großmutter lebt jetzt hier. Sie ist zu alt, um sich selbst zu versorgen.«

»Sie hat dich verstanden?« Pewter klappte die Kinnlade herunter.

»Reiner Zufall.« Murphy lachte.

»Wesley wurde anscheinend abends ermordet, während des Gewitters - freilich, es gab ein Gewitter nach dem anderen. Auch ohne den Schutz des Regens wäre es ganz leicht gewesen, dorthin zu gelangen, ohne dass es jemand merkte. Aber warum da draußen? Dort ist nichts, und selbst wenn frische Reifenspuren da gewesen wären, wären sie zu der Zeit, als die Leiche gefunden wurde, weggewaschen gewesen. Vielleicht war's im Plan nicht vorgesehen gewesen, hinter das Heim zu gehen.« Der erste Regentropfen schlug auf die Windschutzscheibe, ein Kreis aus winzigen Tröpfchen spritzte nach dem Aufprall hoch. »Vielleicht war dies ein geeigneter Ort, wo man sich leicht treffen konnte, oder vielleicht war es ein Ort, wo man leicht auf den Zug springen konnte, weil er wegen der Kurve und für die Durchfahrt durch die Stadt langsamer wird. Und leicht zu finden, falls einer sich in Crozet nicht auskennt. Großer Parkplatz. Im Regen könnte man mit ausgeschalteten Scheinwerfern hier sitzen, und wer würde im Vorbeifahren etwas bemerken? Die Frage ist, wie lange hat Wesley nach der Entlassung aus dem Gefängnis noch gelebt? Ich habe den Mercedesstern sechs Kilometer von hier entfernt gefunden. Was hat Wesley da draußen im Wald gemacht? Dort ist nichts.« Harry hatte laut gedacht.

»Nichts, wovon du weißt«, berichtigte Murphy sie.

Der Regen fiel jetzt mit voller Wucht. Harry kurbelte ihr Fenster hoch. Mit dem Einsetzen des Regens stürzte die Temperatur so geschwind auf fünfzehn Grad, dass die Tiere sich zusammenkuschelten.

Harry zog ein altes Sweatshirt hinter ihrem Sitz hervor und zog es sich über den Kopf.

»Ist das ungemütlich.«

»Lass uns nach Hause fahrn, wo's warm ist«, bat Pewter.

Schließlich ließ Harry den Motor an, schaltete die Heizung - auf niedriger Stufe - und die Scheibenwischer ein. Sie fuhr an Mirandas Haus vorbei. Tracys Auto stand in der Einfahrt. Zwar wohnte er jetzt in Gehweite, aber er hatte wohl geahnt, dass es regnen würde.

Harry machte sich auf den Weg zu O'Bannon's. Es regnete heftiger. Sie konnte die Abrissbirne kaum sehen. Sie fuhr ein paar Kilometer in östlicher Richtung, dann wendete sie und fuhr nach Hause.

In der Sekunde, als sie die Beifahrertür öffnete, stürmten die Tiere aus dem Wagen ins Haus. Auch Harry sauste durch den strömenden Regen.

Keine Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter enttäuschten sie.

Dank des ständigen Regens hatte sie alle Schränke, ihre Bibliothek, Wäsche und Handtücher, sogar die Socken aufgeräumt. Das Einzige, was im Haus noch zu tun blieb, war das Streichen des Wohnzimmers. Dem fühlte sie sich jedoch nicht gewachsen.

Rastlos wanderte sie von Zimmer zu Zimmer, schließlich griff sie sich aus der Kartenabteilung der Bibliothek eine Bezirkskarte. Sie breitete sie auf dem Couchtisch aus, legte Briefbeschwerer auf alle vier Ecken, scheuchte Murphy und Pewter fort, die nur zu gern auf Papier saßen - Papier jeder Art.

Mit einem weichen Bleistift zeichnete sie die Entfernung vom Gefängnis bis zu dem Grund von Marcus Durant, wo sie den Mercedesstern gefunden hatte. Dann zog sie eine Linie von dort bis zum Seniorenheim. Vom Gefängnis bis zu Durant wäre es ein weiter Fußmarsch, fast zwanzig Kilometer, wenn man die Abkürzungen über Wiesen und Weiden kannte. Folgte man der Route 250 West zur Route 240 West, würde das die Entfernung vom Gefängnis zu Durant um weitere drei Kilometer verlängern.

»Jemand hat ihn abgeholt.«

Murphy, zurück auf dem Couchtisch, aber nicht auf der Karte, sah hinunter.»Zieh eine Linie zu Booty Mawyers Farm. Zieh eine Linie von der Stelle bei Durant, wo du den Stern gefunden hast, bis zu Mawyer. Nur der Vollständigkeit halber.«

Pewter sprang neben Murphy. »Warum nicht vom Seniorenheim zu Booty?«

»Ginge auch, aber ich glaube nicht, dass es sich da abgespielt hat.«

Tucker saß auf den Hinterbeinen und studierte ebenfalls die Karte.

»Ich hab ja ein richtiges Publikum.« Harry lächelte, dann fuhr sie zusammen, weil direkt über dem Haus ein gewaltiger Donnerschlag erschallte. »War der laut.« Sie grinste verlegen. »Okay, was noch? Murphy, nimm deine Pfote von der Karte.«

Murphy zeigte von der Stelle am Fluss bis zu Booty. Das machte sie dreimal, bis Harry kapierte.

»Meint ihr, sie ticken einfach nicht richtig?«, fragte Pewter.

»Sie würden ihren Kopf vergessen, wenn er nicht fest auf ihrem Hals säße.«

»Nein, das Problem ist, dass sie lauter Mist in den Köpfen haben. Alles, was sie im Fernsehen gucken oder im Radio hören oder im Laden an der Ecke erfahren. Unwichtiges Zeug, frisst die Hirnzellen auf.«

Tucker liebte Harry so sehr, dass sie meinte sie verteidigen zu müssen.»Aber Mutter ist besser als die meisten.«

»H-m-m. Bootys Grundstück stößt an Durants. Er hätte sich in der Hütte verstecken können. Es wäre nicht so weit gewesen, den Wagen zu parken und zu der Hütte zu laufen.«

»Oder zu Donny Clatterbucks Werkstatt!« Pewter hob die Stimme.

Harry, die glaubte, die Katze fürchtete sich vor dem Gewitter, streichelte sie. »Zu der Zeit, als Coop nach dem Transporter fahndete, wurde Wesley nicht am Steuer des Wagens gesehn. Sicher, er könnte auf den alten Farmstraßen gefahren sein, aber wozu?« Sie beugte sich tief über die Karte. »Die Eisenbahn ist nicht weit weg.« Sie setzte sich auf. »Das passt nicht zusammen.« Dann stand sie auf, um die Bezirkskarte von Culpeper aus dem Regal zu holen. Sie breitete sie aus, die Tiere sahen zu. »White Shop Road.«

»Geht von der Route 29 ab. Leicht zu finden«, bemerkte Pewter.

»Es ist einfacher, wenn man von Süden nach Norden fährt als umgekehrt, es sei denn, man kennt die Straße. Guck mal, sie macht hier einen scharfen Knick«, erklärte Murphy.»Aber wenn man weiß, wo's ist, findet man's leicht.«

»Schleichweg zum Bull-Run-Zwinger«, sagte Harry.

»Hey da kommt wer in die Zufahrt. Eindringling! Eindringling!« Tucker raste zur Hintertür, das Fell in ihrem Nacken sträubte sich.

Eine Tür schlug, Schritte waren zu hören, die zur Hintertür rannten. Die Tür der umzäunten Veranda ging quietschend auf, und dann hallte zugleich mit dem Donner ein Klopfen an der Hintertür.

»Lottie Pearson«, bellte Tucker.

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