22

»Sie haben Hummeln im Hintern.« Miranda tränkte die Stempelkissen mit Farbe, klappte die Kästchen zu und schob sie unter den Schalter.

»Ich will wissen, was vorgeht.«

»Wir wollen alle wissen, was vorgeht. Deshalb ist Tracy heute Morgen zum Sheriffbüro gefahren.«

»Und warum hat er noch nicht angerufen?«

»Harry, er ist erst seit einer halben Stunde weg. Beruhigen Sie sich doch.«

»Ja, es ist Zeit für mein Vormittagsschläfchen. Ich brauche Ruhe.«

Pewter gähnte.

Die Eingangstür flog auf, BoomBoom kam herein, sie trug eine Latzhose, große Kreolen-Ohrringe und ein knallgrünes T-Shirt. »Guten Morgen, die Damen.«

»Wie ich sehe, willst du einen Tag auf dem Traktor verbringen.« Harry dachte, sie säße jetzt gern auf ihrem alten John Deere.

»Nein«, lautete die knappe Antwort. BoomBoom steckte ihren Schlüssel ins Schloss ihres Postfachs und zog schwungvoll die Messingtür mit dem Glasfensterchen auf.

»Rechnungen«, klärte Tucker sie auf. Der Corgi hatte heute Morgen geholfen, die Post zu sortieren.

»Oh, hallo Tucker. Ich hab dich nicht gesehn, als ich reinkam.«

»Warum hast du die Latzhose an, was hast du vor?«

»Harry, ich bin es nicht gewöhnt, dass du dich so für meinen Tageslauf interessierst.« BoomBoom sortierte die Umschläge wie einen Stapel Spielkarten. »Was gibt's Neues?«

»Nichts.« Harry gab sich nonchalant.

BoomBoom tänzelte zum Schalter, lehnte sich daran und schnurrte: »Du möchtest wissen, ob Thomas etwas über Diego gesagt hat.«

»Ach was.«

»Ichkann 's nicht ausstehen, wenn Menschen versuchen zu schnurren.« Mrs. Murphy streckte ein Bein von sich, steckte den Kopf darunter und putzte die Hinterseite des Beins.

Harry zeigte auf die gelenkige Tigerkatze. »Wenn ich ihr das befehlen würde, würden die Leute von Tierquälerei sprechen.«

»Sie können das nicht.« Miranda lächelte. »Ich sowieso nicht. Der Dalai Lama könnte es sicher auch nicht.«

»Was hat der Dalai Lama damit zu tun?« BoomBoom zog die Nase kraus, eine Angewohnheit von ihr, wenn sie verwundert war.

»Verrenkt er sich nicht zu einer Brezel und schläft auf Nägeln?« Miranda machte große Augen. »Und geht über Feuer?«

»Nein, das ist ein Yogimeister.«

»Yogi Bär.« Harry kicherte.

»Aber ehrlich, die können so was. Manche haben außerkörperliche Erlebnisse«, sagte BoomBoom.

»Ich habe außerkörperliche Erlebnisse, wenn ich Grippe habe.«

»Harry, das ist unerhört.« BoomBoom stapelte ihre Post auf dem Schalter, kippte sie auf die Seite und schob die Umschläge zusammen. »Also, willst du nun wissen, was Diego zu Thomas gesagt hat?« »Sicher.«

»Mutter, tu nicht so cool.« Mrs. Murphy hatte ihr Hinterbein noch über dem Kopf.

Tucker ging hinter den Schalter, als Harry ihn hochklappte.

»Murphy, ich wünschte, du würdest das nicht machen. Das tut schon beim Hingucken weh.«

»Wenn du nicht solche Stummelbeinchen hättest, könntest du das auch«, sagte die Tigerkatze mit übermütiger Häme.

»Haha«, erwiderte der Hund trocken.

»Warum beachtet mich niemand?«, schmollte Pewter.

»Du hast gesagt, du willst ein Schläfchen machen«, schoss Murphy zurück.

»Schlaf ich etwa?«

»Pewter, du bist so was von verdreht.«

»Alle Katzen sind verdreht.« Der kleine Hund steuerte auf das Tiertürchen zu.

»Wohin gehst du? Was tust du?«, wollte Mrs. Murphy wissen.

»Hey, hier drin gibt's nichts als zwei zickige Katzen.«

»Ach ja?« Pewter plusterte ihr Fell auf.

»Duwillst wohl nicht hören, was Thomas BoomBoom erzählt hat.« Mrs. Murphy warf ihr geschickt den Köder hin.

»O doch.« Tucker blieb stehen, ging zurück zum Schalter.

»Nun?« Miranda beugte sich erwartungsvoll über den Schalter.

»Thomas hat gesagt, Diego hofft Harry wiederzusehen.«

BoomBoom hakte ihren Daumen unter den Träger ihrer Latzhose. »Hat er dich angerufen?«

»Nein, Thomas hat mich nicht angerufen«, sagte Harry.

»Du weißt, was ich meine. Sei nicht so klugscheißerisch, Harry.«

»Ja, Diego hat mich angerufen. Sind jetzt alle zufrieden?«

»Das haben Sie mir nicht erzählt.« Miranda war gekränkt.

»Weil er gestern Abend nach unserer Malerfete angerufen hat. Ich hab vergessen, es Ihnen zu erzählen, weil so viel anderes los ist. Also, Diego muss diese Woche nach Montevideo fliegen, hofft aber zum Abbruchball wieder hier zu sein.«

»Oh. Was für eine Malerfete?«, fragte BoomBoom.

Gelangweilt von den Menschen, nahm Mrs. Murphy ihr Hinterbein schließlich herunter, ließ die Schnurrhaare vorschnellen und starrte zu Tucker hinab.»So ein hübsches Hündchen.«

Tucker sah hoch, aber einen Sekundenbruchteil zu spät, denn die Katze stürzte sich auf sie und warf sie um.»Uff.« Tucker blieb die Luft weg, und sie wurde durch die Gewalt von Murphys Luftangriff herumgerollt.

Pewter rückte mit gespitzten Ohren näher an das Gerangel heran. »Daskann ja heiter werden.«

»Banzai! Tod dem Kaiser«, trällerte Murphy.

»Du guckst zu viele Kriegsfilme«, schnauzte Tucker, während sie sich hochrappelte. Sie flitzte aus dem Tiertürchen, dicht gefolgt von Mrs. Murphy.

Pewter zögerte noch. Immerhin war die Gasse mit Pfützen übersät, doch die Schreie von draußen lockten sie schließlich zum Tiertürchen hinaus, wo Katze und Hund über sie herfielen, wohl wissend, dass sie drauf reinfallen würde.

»Eine Endlos-Fete.« Harry lachte.

»Wieso Malern?«

Harry und Miranda erzählten BoomBoom von der Malerfete in Tracys Wohnung, und dass Tracy Coop gebeten hatte, sich den Strick ansehen zu dürfen.

Just in diesem Augenblick klingelte das Telefon. Miranda nahm ab und Harry drängte sich neben sie. BoomBoom eilte hinter den Schalter, um mitzuhören.

»Oh, hallo Mim.« Miranda bemühte sich, ihrer Stimme die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

»Ist mein Päckchen von Cartier gekommen? Ich habe meine Tank-Uhr vor Wochen nach New York zur Reparatur geschickt.« Mim betonte das Wort »Wochen«.

»Kein Päckchen heute. Ich bin es gewöhnt, dass du meine erste Kundin bist. Wo steckst du?«

»Mit Marilyn auf dem Weg nach Richmond. Ich habe ihr versprochen, mit ihr zu Monkey's zu gehen.« Sie sprach von einem Bekleidungsgeschäft, wo Damen wie sie gerne einkauften. »Ich rufe vom Autotelefon aus an. Glockenklar, nicht?«

»Amüsiert euch gut, ihr zwei. Tschüss.« Miranda legte auf.

Lottie Pearson kam durch die Tür. »Hallo.« Sie öffnete ihr Schließfach, nahm ihre Post an sich und ging gleich wieder.

»Hat man dafür Töne?« BoomBooms Augenbrauen schnellten in die Höhe.

Das Telefon klingelte wieder. Alle griffen danach, aber Miranda war schneller. Sie nahm den Hörer ab. »Hallo.«

»Hi, Süße«, ertönte Tracys tiefe Baritonstimme. »Ich fahr jetzt zurück. Brauchst du was?« »Was meinen Sie?« Harry hatte sich vorgebeugt und sprach in den Hörer.

»Haben Sie meiner schönen Freundin das Telefon weggegrapscht?«

»Nein. Sie ist direkt neben mir. BoomBoom auch. Wir hängen an jedem Wort von Ihnen.«

»Oh.« Er atmete ein. »Schweres Seil, ein Kletterseil. Sie wissen doch aus Filmen, wenn im Alten Westen jemand aufgeknüpft wird, dass der Strick eine ganz bestimmte Schlinge hat?«

»Ja«, sagten sie wie aus einem Munde.

»Das hatte ich mir ansehen wollen. Ob Wesley sich die Zeit genommen hat, eine solche Schlinge zu machen, sofern er sich umgebracht hat, oder sein Mörder, sofern er ermordet wurde. Die Schlinge ist nicht so leicht zu knüpfen, wie man annehmen möchte.«

»Und?« Harry hob die Stimme.

»Nein. Ein einfacher Knoten, wie man ihn macht, wenn man ein Päckchen verschnürt.«

»Schnuckiputz, was hat das zu bedeuten?«, fragte Miranda atemlos; sie hatte den Hörer zurückerobert.

»Dass entweder Wesley oder sein Mörder nicht wusste, wie man die Schlinge macht, oder dass es ihm egal war, oder dass er nicht die Zeit hatte. Oder dass das Kletterseil halten würde.«

»Da komm ich nicht mit.« BoomBoom konnte ihm beim besten Willen nicht folgen.

»Ein Grund, weswegen man die Schlinge benutzte, um Menschen aufzuhängen, war der, dass sie das Gewicht des Körpers hielt und das Genick brach. Das ist menschlicher als erdrosseln, was passiert, wenn man einen gewöhnlichen Paketknoten macht. Mit der Zeit gibt der gewöhnliche Knoten auch bei einem Strick von guter Qualität nach.«

»Ich krieg 'ne Gänsehaut. Komm jetzt nach Hause.« Miranda lachte verhalten.

»Mach ich. Sag den Mädels tschüss von mir.«

Miranda legte den Hörer auf. Die drei Tiere hopsten durch das Tiertürchen, nun wieder ein Herz und eine Seele.

»Das mit der Schlinge wusste ich nicht.« Harry fuhr sich instinktiv mit der Hand an die Gurgel. »Gleichzeitig ersticken und pendeln. Eine furchtbare Art zu sterben.«

»Ichglaub, wir haben was verpasst.« Mrs. Murphy setzte sich still auf einen Stuhl an dem Tisch im hinteren Bereich.

»Wir brauchen bloß abzuwarten. Sie müssen es zwangsläufig anderen Menschen erzählen. Du weißt ja, wie sie sind.«

Pewter sprang auf einen Stuhl an dem Tisch und fing an, den Matsch zwischen ihren Zehen herauszubeißen. Schmutz war ihr zuwider.

»Dieses ganze Gerede von Tod ...« Booms Stimme verklang, wurde dann kräftiger. »Morgen ist Rogers Beerdigung. Geht ihr hin?«

»Das wissen Sie doch.« Miranda runzelte einen Moment die Stirn. »Wieso fragen Sie überhaupt?«

»Ich weiß nicht.« BoomBoom krümmte die Schultern, dann entspannte sie sich. »Ich bin ein bisschen aufgewühlt. Sie nicht?«

»Nun ja, es waren seltsame Tage, aber vielleicht messen wir all dem zu viel Bedeutung bei.« Miranda bemerkte die winzigen Matschkügelchen, die auf den Boden fielen, da Pewter auf einem Stuhl in ihrer Nähe saß. »Pewter, das hebst du schön wieder auf.«

»Ich mach's weg.« Harry holte Kehrschaufel und Handfeger aus dem kleinen Besenschrank im hinteren Bereich.

»Also, ich muß los.«

»Du hast noch nicht gesagt, warum du eine Latzhose anhast.«

Harry kniete sich hin und kehrte die Matschkügelchen auf.

»Ich geh zur Arbeit.«

»Was für 'ne Arbeit?«, fragte Harry ziemlich unhöflich.

»Schweißen. Ich hab den Auftrag eine Henne und Küken für Opal Michaels zu machen.«

»Dann machst du am besten ein Huhn mit Haltung«, sagte Harry.

»Wenn es für Big Mim wäre, kriegte der Vogel ein Krönchen aufgesetzt.« Lachend öffnete BoomBoom die Eingangstür.

Miranda hob Mrs. Murphy hoch und streichelte sie. »Es freut mich zu sehen, dass Sie und BoomBoom sich jetzt besser verstehen.«

»Sie hat sich immer mehr Mühe gegeben als ich.«

»Freut mich, dass Sie das einsehen. Denken Sie an die Sprüche.« Miranda zitierte Kapitel siebzehn, Vers siebzehn der Sprüche Salomons: >»Ein Freund liebt allezeit, und als ein Bruder wird er in der Not erfunden.««

»So weit würde ich nicht gehen.« Harry zwinkerte ihr zu.

Mrs. Murphy lauschte, als die Matschklümpchen auf den Boden fielen. »Pewter, du hast mehr Matsch zwischen den Zehen als ein Elefant.«

»Du etwa nicht?« »Nicht so viel wie du.«

»Warum putzt du dich nicht?«, wunderte sich die graue Katze.

»Ich warte, bis sie deinen Dreck aufgekehrt hat. Dann mach ich neuen. «

Tucker kicherte.»Murphy, du bist schrecklich.«

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