Montagmorgen warf Rob Collier den Postsack durch die vordere Eingangstür des Postamts. »Harry, gut gemacht, Mädchen.« Er hielt die Daumen in die Höhe.
»Danke.« Sie lächelte scheu.
Unterdessen war fast ganz Crozet ins Postamt gekommen, um die Post zu holen und über die Ereignisse zu sprechen.
»Ichhab's rausgekriegt. Ich weiß nicht, warum die Leute ihr Komplimente machen«, nörgelte Pewter.
»Jaja.« Tucker hatte sich, ermüdet vom Begrüßen aller Leute, neben den Tisch gesetzt.
Miranda hatte Harry wohl zehnmal umarmt und geküsst. Jedes Mal, wenn sie an das schnelle Schalten und den kühlen Kopf der jungen Frau dachte - immerhin hätte Lottie oder Thomas sie direkt vom Kran herunterschießen können, wenn sie ihre fünf Sinne beisammen gehabt hätten -, musste Miranda sie abermals umarmen und küssen.
Die erschöpfte Coop trottete um elf herein. »Hey, Partnerin.« Sie lächelte. »Ich denke, wir haben ganze Arbeit geleistet.«
»Wird Thomas durchkommen?«, fragte Miranda, stets besorgt, auch wenn ein Mensch nichts taugte.
»Sein Gesicht sieht schlimm aus. Er hat 'ne Menge Knochenbrüche, aber das ist erstaunlicherweise auch alles.«
»Lottie war's, die Dons Tresor geöffnet hat, nicht?« Das hatte Harry herausgefunden.
Coop kräuselte die Oberlippe. »Thomas ist bleich geworden, als ich ihm einen Haufen Anklagepunkte vorlegte. Er schiebt alles auf Lottie, und sie kann uns mit ihrer Version der Ereignisse nicht mehr dienen.«
»Waren es Drogen?« Miranda bot Coop eine Tasse dampfenden Tee an, den sie dankbar annahm.
»Nein. Nein, keine Drogen. Es war viel raffinierter, als wir gedacht hatten. Sie haben gestohlene Autos nach Uruguay verkauft. Eine vier Jahre alte MercedesLimousine kann zweihundertzwanzigtausend Dollar bringen, ein neuer Wagen bringt dreihunderttausend. Dank seiner Stellung konnte Thomas die Ware ganz einfach dorthin verfrachten.«
»Autos, komplette Autos. Werden denn bei den Flugoder Schifffahrtsgesellschaften die Registriernummern nicht überprüft?«
»Da kamen Roger und Dwayne ins Spiel. Roger hat die Nummer auf der Innenseite der Vordertür abgeschliffen und ein neues Schild gemacht. Wer überprüft schon die Motornummer? Er hat den Wagen umlackiert. Rick und ich dachten, er hätte vielleicht eine Ausschlachtwerkstatt, aber auf diese Weise war es dank Thomas weniger Arbeit und mehr Gewinn. Die Leute in Uruguay und Paraguay schnappen nach teuren Autos wie nach Bonbons. Thomas kannte natürlich alle Welt, genau wie Lottie. Lottie war's, die Thomas mit Roger zusammengebracht hat.«
»Ach je, der arme Roger.«
»Er hat einmal zu viel gesagt, er sei ein reicher Mann, weil er Lottie erobern wollte. Je mehr er trank, desto mehr prahlte er. Roger wurde zur Belastung. Sie machte eine große Schau daraus, dass sie ihn verachtete, eine zu große Schau. Sie und Thomas waren sich einig, dass Roger die Sache bald vermasseln würde. Mit der Zeit würden sie einen anderen finden, der neue Schilder prägte. Roger war entbehrlich geworden. Thomas hat das Gift zusammen mit einer Hand voll Rohzucker in eine Porzellan-Zuckerdose getan. Thomas' kranke Mutter musste Quinidin nehmen. Wir denken, er hat einfach ihr Rezept geklaut. Sie hatten eine Porzellandose. Es war nicht die von Tante Tally. Er sagte, es war Lotties Aufgabe, die Dose in die Geschirrkammer zu stellen. Er hat sie rausgeholt. Sie war hinter Tellern versteckt. Ich weiß nicht, wie sie das gemacht hat. Er sagt, er weiß es auch nicht, aber der Plan war, Roger vor aller Augen umzubringen. Je mehr Leute zugegen waren, desto sicherer würden sie sein. Lottie schenkte den Kaffee für Roger ein und stieß dann mit Thomas zusammen, als er nach der Dose griff. Die fiel auf den Boden und zerbrach wie geplant. Sie wollten, dass es wie ein natürlicher Tod aussah. Seans Ansicht über die Ehrung der Toten war allseits bekannt.«
»Trotzdem waghalsig. Sie waren wirklich waghalsig«, fand Miranda.
»Was war mit Dwayne?«
»Er hat Plaketten, Kraftfahrzeugscheine und -briefe geklaut. Bill Boojum in Kentucky hatte jemanden, der dasselbe im dortigen Verkehrsamt besorgte«, antwortete Coop.
»Er hat gestohlene Autos durch das Geschäft geschleust?«
»Wie alle großen Händler hatte Boojum eine Werkstatt. Was sie in Louisville oder Lexington oder auf der anderen Seite des Flusses in Indiana gestohlen haben, wurde schleunigst umlackiert. Dwayne fuhr das Fahrzeug zu Roger und versteckte es in dessen Werkstatt. Roger kümmerte sich um alle Kleinigkeiten, die bei Boojum nicht fertig geworden waren. Was er aus Virginia bei Boojum ablieferte, war rechtmäßig.«
»Was Dwayne gelegentlich in Newport News, Richmond und Stanton stahl, hat Roger umlackiert, er hat die Registriernummern abgeschliffen und so weiter. Es war eine lukrative Angelegenheit, und Thomas hat alle bar auf die Hand bezahlt.«
»Hat Sean davon gewusst?« Miranda fragte sich, wie weit das Netz reichte.
»Er schwört, dass er nichts wusste.«
»Warum hat Sean Dwayne nicht erkannt?«
»Er hatte zwar nichts damit zu tun, aber ich meine, Dwayne könnte ihm gedroht haben. Ich weiß es nicht, und ich bin nicht hundertprozentig überzeugt, dass Sean nicht mehr wusste, als er zugibt. Wenn sich erweist, dass er ein Komplize war, tja, dann wird er einen guten Anwalt brauchen.« Coop zuckte mit den Achseln. »Es könnte auf >Bin ich der Hüter meines Bruders< hinauslaufen. Vielleicht hat Sean es gewusst und versucht, Roger zum Aussteigen zu bewegen.«
»Warum haben sie Dwayne umgebracht?«, fragte Harry.
»Er wollte mehr Geld. Er sagte, er trage das größte Risiko, da er die Autos fuhr und stahl. Er wollte mehr, viel mehr. Thomas sagte, er werde ihm fünfzigtausend in bar geben und verabredete sich mit ihm an dem Altenpflegeheim. Er musste rasch handeln, weil Dwayne wusste, dass er Roger umgebracht hatte. Man musste kein Genie sein, um das rauszufinden. Er hat Thomas und Lottie hart zugesetzt. Fünfzigtausend Dollar waren nicht mehr genug.« Sie sinnierte: »Ich nehme an, Dwayne wollte sozusagen aufsteigen in seinem Beruf. Der Junge konnte einfach nicht aufhören zu stehlen, kleine Dinge, große Dinge. Er war der geborene Dieb.«
»Ich weiß nicht, ob ich jemals dahinter gekommen wäre«, sagte Harry nachdenklich. »Was hatte Don damit zu tun?«
»Er konnte schadhafte Polster reparieren und die Farbe der Innenausstattung vollkommen auswechseln, wenn es sein musste, aber er hat auch Autos gestohlen. Es war gutes Geld - Thomas schwört, dass er Don nicht umgebracht hat. Er sagt, es war Lottie. Ich glaube, Don hat etwas bei Lottie oder Thomas abgeliefert - Bargeld, gefälschte Kraftfahrzeugbriefe, irgendwas. Und bevor Dwayne umgebracht wurde, war er vielleicht bei Don am Durant Creek. Vermutlich hat er dort in der Hütte gewohnt. Wie er seinen Mercedesstern verloren hat - es hätte bei einem Kampf mit Don passiert sein können. Er hat wahrscheinlich alle unter Druck gesetzt. Ich vermute, sobald Don klar wurde, dass Roger ermordet worden war, hat er Schiss gekriegt - was beim Verbrechen eine Belastung ist. Dwayne hatte keine Angst. Thomas sagt, er hat sich nie ängstlich verhalten, bloß habgierig.«
»Cooper, haben die ganzen
fünfhundertfünfundzwanzigtausend Dollar Don gehört?«
»Ja. Das ist das Geld, das er im Laufe der letzten drei Jahre gekriegt hat. Thomas glaubt übrigens, dass er als Diplomat Immunität genießt. Er meint, er muss nicht vor Gericht. Wir sind uns ziemlich sicher, dass sich das Geschäft auf fast vier Millionen im Jahr belaufen hat.«
»Und genießt Thomas Immunität?«, fragte Miranda.
»Ja.« Coop stellte ihre Tasse hin. »Aber seine Regierung verspricht, ihn in seinem Heimatland zu belangen. Soweit ich mich auskenne, wird er als freier Mann daraus hervorgehen.«
»So ein Beschiss!« Harry schüttelte den Kopf.
»Lottie ist da reingeraten. Sie hat Thomas auf einer Party in Washington kennen gelernt. Sie machte die Runde, aber das gehört zu ihrem Job. Er spürte, dass sie klug, kaltblütig, auf Männerfang war. War sie ja auch.«
»Coop, ist das eine grässliche Geschichte.« Miranda seufzte. >»Sehet zu und hütet euch vor dem Geiz; denn niemand lebt davon, dass er viele Güter hat.<Lukas, zwölftes Kapitel, Vers fünfzehn.«
»Ich bin froh, dass Diego nichts damit zu tun hatte - oder doch?« Harry senkte die Stimme.
»Wir glauben nicht, dass er da mit drinsteckte, aber seine Karriere wird darunter leiden. Das ist nun mal der Lauf der Welt.« Coop ließ sich nachschenken. »Seine Regierung hat ihn schon nach Uruguay zurückbeordert. Er wird bei der Verhandlung aussagen müssen.«
»Ihre Familien sind seit langem befreundet. Ich frage mich, wie viel Druck man wohl auf ihn ausüben wird«, sagte Harry betrübt.
»Wisst ihr was«, meinte Coop nachdenklich, »Rick und ich haben die Formulare von Kraftfahrzeugscheinen und - briefen gefunden. Sie waren bei Rogers Papieren in seiner Werkstatt. Wir hatten die Papiere durchgesehen, also können sie erst hingebracht worden sein, nachdem wir die Werkstatt durchkämmt hatten. Komisch, eine Riesenratte hat uns vollkommen furchtlos beobachtet.«
Tucker lachte. »Wetten, wir wissen, wie er sie genannt hat.«
»O Harry, ich hab was für dich.« Coop ging zur Hintertür hinaus und kam mit dem Helmspecht zurück, den sie auf den Tisch stellte. »Aus dem Knast entlassen.«
»Wie schön er ist.« Harry bewunderte Dons Werk.
»Und so groß.« Miranda hatte noch nie einen Specht aus solcher Nähe gesehen. »Mit dem würde ich mich gut stellen.« »Ichkann 's nicht erwarten, dass sie ihn mit nach Hause nimmt. Ich werde ihn zerfetzen. Das ist mein Specht. Überall Federn«, verhieß Pewter.
»Das würdest du nicht tun.« Mrs. Murphy warf den Kopf hoch.
»Wart's nur ab.« Lachend blähte die graue Katze die Brust.