21

Der durchweichte Boden konnte einem Pferd glatt die Hufeisen wegziehen. Er klebte auch an den Schuhen der Menschen, als Harry und Cynthia Cooper den Wildpfad unweit vom Durant Creek entlang trotteten. Tucker, bis zu den Knien im Matsch, begleitete sie. Mrs. Murphy und Pewter, die auf der Farm bleiben mussten, planten weitere verheerende Vergeltungsschläge.

Harry zeigte mit dem Finger. »Hier treffen wir auf die alte Farmstraße. Herrje, ist das laut.«

Coop blieb an der Stelle stehen, wo sich der Wildpfad und die Farmstraße kreuzten. »Der Boden ist aufgeweicht. Wenn es noch mehr Regen gibt, werden die Bäche und Flüsse über die Ufer springen.«

»Treten.«

»Richtig.«

»Wir sind zurückgerannt. Ich hab was glänzen sehen. Und das ist auch schon alles. Wir sind hingegangen, ich hab gesehen, dass es der Mercedesstern war. Fußabdrücke oder Reifenspuren sind mir keine aufgefallen. Es fing an zu schütten, aber es hatte vorher schon geregnet, wie du weißt. Wenn hier ein PKW oder Transporter gefahren wäre, dann wären da tiefe Furchen gewesen. Da waren aber keine.« Sie ging ein Stück. »Hier ungefähr.«

»Wohin führt die Farmstraße?«

Tucker, deren Sinne viel schärfer waren, schnupperte herum. Von einer menschlichen Witterung war keine Spur geblieben, nur ein Hauch von Kojotengeruch hatte sich gehalten. Sie war froh, dass ihre Mutter das nicht riechen konnte, denn Kojoten bedeuteten eine Menge Ärger für jedermann. Die Gewalt der Stürme hatte kleine Zweige und Büsche niedergedrückt und Knospen von den Bäumen gerissen. Tucker konnte auch nicht mehr Beweise sammeln als die Menschen.

»Zum Bach.«

»Irgendwelche Gebäude, Schober oder so was am

Weg?«

»Nein. Marcus Durants Hütte ist das einzige Gebäude, und die ist da hinten, wo wir geparkt haben.«

»Gut, kehren wir um.« Coop schob die Daumen in ihren Gürtel. »Wenn was auf der Erde war, ist es längst weggewaschen, aber«, sie sah sich noch einmal um, »ich muss jedem Hinweis nachgehn. Ich frage mich bloß, was Wesley um Himmels willen hier draußen gemacht hat, falls er hier war.«

»Komm, Tucker.«

»Komme schon«, erwiderte die Hündin, verärgert, weil sie nicht mehr Witterung ausmachen konnte.

Ein scharfer Wind kam auf, als die zwei Frauen und der Hund zurückgingen.

»Fühlt sich heute wirklich nicht nach Frühling an«, bemerkte Cooper.

»Geht einem durch Mark und Bein. Coop, was ist los? Du wärst nicht mit mir hier draußen, wenn du nicht beunruhigt wärst.«

»Ich glaube nicht, dass Wesley Partlow Selbstmord begangen hat. Marshall Well kann sich nicht vor heute Abend an die Autopsie machen. Ich werde meine Meinung für mich behalten, bis ich sein Ergebnis habe.«

»Ist es nicht schwierig, eine Autopsie an einem Leichnam vorzunehmen, der im Freien hing?«

»Die Jungs verstehen ihr Handwerk. Sie nehmen Gewebeproben. Ich könnte das nicht. Ich verlasse mich auf ihr Gutachten, weil sie die Leiche äußerst gründlich untersuchen. Rick und ich haben geschulte Augen, aber wir sind keine Ärzte.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Junge wie Wesley kampflos aufgehängt werden konnte. Es gibt bestimmt einfachere Methoden jemanden umzubringen als ihn zu hängen.«

»Nicht, wenn ein Strick alles ist, was man hat. Was, wenn unser Mörder, sofern es einen gibt, keine Pistole hatte oder kein Messer? Im Moment weiß ich überhaupt nicht viel, und schon gar nicht, warum Wesley hier draußen war. Ich nehme mal an, zwischen der Zeit, als wir ihn losgemacht haben, und der Zeit, als du den Mercedesstern gefunden hast, lagen fünf bis sechs Stunden.«

»Er wird den Stern nicht absichtlich weggeworfen haben«, dachte Harry laut. »Er könnte ihn im Laufen oder bei einem Kampf verloren haben. Von hier bis zu dem Altenpflegeheim in Crozet sind es ungefähr fünf Kilometer.«

»Ja.« Coop öffnete die Tür des Streifenwagens.

»Mach die Tür zu, Cynthia. Lass mich erst mal Tuckers Pfoten abwischen.«

»Ich kann sie selber waschen«, knurrte Tucker.

Harry hatte geistesgegenwärtig ein altes Handtuch in den Streifenwagen geworfen. Sie bückte sich und rieb damit dem Corgi die verschlammten Pfoten ab. »Ich würde gar nicht erkennen, dass du weiße Füße hast, Fräulein Köter.«

Coop lehnte sich an die Autotür. »Er hat keine Drogen genommen. Daran denke ich immer als Erstes. Soweit wir wissen, war Wesley clean.«

»Ich hätte gedacht, der hat alles genommen, was er kriegen konnte. Vielleicht war er vernünftiger, als ich ihm zugetraut habe - dem bisschen, das ich von ihm gesehn habe. Manche Menschen sind lebenslange Nieten. Klingt hart, ist aber wahr. Miranda wird wütend, wenn ich das sage, weil sie glaubt, dass jeder durch den Herrn erlöst werden kann. Hoffentlich hat sie Recht.«

»Sie zitiert in letzter Zeit nicht mehr so viel die Bibel.«

Coop lächelte. »Tracy?«

»Ja, aber einen missionarischen Bekehrungseifer hatte sie eigentlich nie. Okay, zeitweise war sie nahe dran, aber sie hat sich etwas gemäßigt. Ich hab's eigentlich gern, wenn sie die Bibel zitiert. Ich lerne was dabei. Ich habe kaum was auswendig gelernt außer dem Hamlet-Monolog, und den kann ich nicht ausstehn.« Harry, die nachdenklich Tuckers Pfoten abrieb, verlor sich in Gedanken.

»M-m-m, lass gut sein, sie ist jetzt sauber genug.«

»Schön, Tucker. Rein mit dir.«

»Ichhab dir gesagt, ich kann mich alleine waschen.« Tucker setzte sich auf die Rückbank und fing an, ihre Pfoten zu waschen.

Während sie die Whitehall Road entlangfuhren, fragte Coop: »Haben die Farmen da draußen irgendwas, das einmalig ist?«

»Einmalig? Nun ja, einige sind sehr schön, aber was Einmaliges fällt mir nicht ein. Viele waren im Bürgerkrieg voll von verwundeten Soldaten. Sie wurden mit der Eisenbahn transportiert, und die Leute holten sie am Bahnhof ab, unsere und Yankees, und nahmen sie mit nach Hause. Gott, muss das ein Zustand gewesen sein. In fast jedem Haus in Mittelvirginia waren Soldaten.«

»Kann man sich schwer vorstellen.«

»Vom Chirurgen drohte genauso große Gefahr wie vom Feind. Aber nein, es gibt da nichts Außergewöhnliches, es sei denn, man rechnet die Architektur dazu.«

»Wenn ich nur wüsste, was er hier unten gemacht hat.«

»Hat jemand ihn von der Wache abgeholt?«

Coop schüttelte den Kopf. »Er ist raus und losgegangen.«

»Unheimlich.«

»Wesley?«

»Das Wochenende. Das reinste Todeswochenende. Zuerst Roger, und dann Wesley.«

»Ich hab gehört, dass Lottie Pearson sich einen Anwalt genommen hat«, sagte Cynthia.

»Das ist nicht dein Ernst.«

»Für den Fall, dass wir sie beschuldigen, Roger vergiftet zu haben. Die Frau leidet unter Verfolgungswahn. Niemand beschuldigt sie wegen irgendwas. Es war ihr Pech, dass sie ihm Kaffee und Kuchen brachte.«

»Von wem weißt du das?« Harry konnte sich etliche Leute denken, die die Nachricht zuerst erfuhren.

»Little Mim.«

»Lottie hat sich an sie rangeschleimt.«

»Hm, ja, das ist Little Mim klar. Sie sagt, sie hat Boom­Boom angerufen um ihr zu sagen, dass es eine richtige Entscheidung von ihr war, dich mit Diego zusammenzubringen und nicht Lottie.«

»Das hat sie gesagt?« Harry war überrascht.

»Du bist viel amüsanter als die verklemmte Lottie.« Coop stieß einen Pfiff aus. »Und er ist umwerfend.«

»Schönheit allein bringt's nicht.«

»O Harry, das sagst du immer über Pferde.« »Das passt auch auf Männer.«

Lachend bog Coop nach rechts ab in Richtung Harrys Farm. »Wer weiß, was die Männer über uns sagen?«

»Dass wir schön sind, sexy und wunderbar. Etwa nicht?«

Harry lachte auch.

»Aber sicher.«

»Musst du heute Abend zu der Autopsie?«

»Nein, ich hab den Abend frei. Endlich kehrt wieder Normalität ein.«

»Miranda, Susan und ich gehen in Tracys Wohnung über der Apotheke, anstreichen. Miranda bringt Essen mit. Wie gut bist du mit dem Pinsel?«

»Wie Picasso.«

Als Harry in ihr Haus trat, fiel ihr auf, wie still es war. Keine Katze in Sicht. Erst im Wohnzimmer bot sich ihr der Anblick von verwüsteten Lampenschirmen, auf den Boden geworfenen Kissen, ihrem über den ganzen Teppich verstreuten Potpourri.

»Mrs. Murphy! Pewter!«

»Du glaubst doch nicht, dass die sich blicken lassen, oder?«, fragte der kluge Hund.»Sie sind beide im Stall auf dem Heuboden, dafür leg ich meine Pfote ins Feuer.«

Harry sah auf die alte Uhr auf dem Kaminsims. »Verdammt. Komm, Tucker, ich wollte die zwei ja mitnehmen zu Tracy, aber jetzt bleiben sie hier.«

Sie schnappte sich ihre alte weiße Malerhose, ein weißes T-Shirt und ging zur Tür hinaus, die vergnügte Tucker an ihrer Seite.

Bei Tracy angekommen, ließ sie Dampf ab über die Zerstörungswut der Katzen. Das ließ sie schneller streichen, aber sie ging behutsam vor und kleckste nicht. Miranda hatte ein kräftiges warmes Beige fürs Wohnzimmer gewählt, die Fenster wurden leinenweiß umrandet.

Mit Cynthia wurde das Tempo richtig flott. Sie hatten das Wohnzimmer und alle Umrandungen bis acht Uhr geschafft. Miranda hatte in der Küche zwei Klapptische aufgestellt. Susan vergaß ihre Diät. Sie konnte sich nicht beherrschen, das Essen war zu gut.

Tracy hatte direkt nach der Highschool in Korea gekämpft. Er war beim Militär geblieben, hatte seinen Collegeabschluss gemacht, und nachdem er jahrelang hervorragend gedient hatte, wurde er vom CIA aus der Armee abgeworben. Er gehörte nicht zum rechten Flügel; er hatte bei der Regierung so viel Misswirtschaft gesehen, dass er von blindem Patriotismus kuriert war. Er achtete jedoch die Verfassung und liebte sein Land mitsamt Fehlern und Schwächen. Er besaß einen logischen Verstand, konnte gut analysieren. Als er sich in Hawaii zur Ruhe setzte, dachte er, alles würde gut sein, aber dann war vor drei Jahren seine Frau gestorben. Zum fünfzigsten Highschool-Treffen war er nach Hause gekommen und hatte seinen Highschool-Schwarm wiedergefunden, Miranda, die ihrerseits verwitwet war. Es war, als seien sie nie getrennt gewesen. Darauf war er noch einmal nach Hawaii geflogen, hatte dort seine Angelegenheiten geregelt, sein Haus verkauft und war wiedergekommen.

Tracy und Miranda gehörten einer Generation an, wo man nicht mit einem Angehörigen des anderen Geschlechts zusammenwohnte, wenn man nicht verheiratet war. Er konnte von seiner Wohnung zu Fuß zu Miranda gehen, und alles würde sein, wie es sich gehörte.

»Wann räumen Sie die Möbel ein?«, fragte Susan. »Haben Sie Möbel?« »Ein paar.« Er sah Cynthia Cooper an. »Ist Ihnen der Knoten an dem Strick aufgefallen? Ich frage das nicht, um das Thema zu wechseln.«

»Sah für mich einfach wie ein Knoten aus.«

»Sie haben den Strick natürlich als Beweismaterial sichergestellt.«

»Ja.«

»Was dagegen, wenn ich ihn mir morgen mal ansehe? Und wer hat die nächsten Verwandten verständigt?«

»Das Sheriffbüro von Augusta County.« Coopers Miene trübte sich kurz. Sie wollte nicht in die Gerichtsbarkeit einer anderen Polizeidienststelle eingreifen, aber sie hätte mit jemandem von Augusta gehen sollen. Sie wollte morgen hinfahren.


Der Polizist Everett Yancy, der dank seines verdrahteten Kiefers schon ein paar Pfund leichter geworden war, sprang von seinem Stuhl, als Deputy Cooper durch die Tür des Sheriffbüros trat.

»Coop!« Er bugsierte sie zu seinem Schreibtisch, pflanzte sie auf seinen Stuhl, beugte sich vor und tippte einen Code ein. »Was halten Sie davon?«

Auf dem Computerbildschirm erschien eine Nachricht von Carol Grossman, ihrer Kontaktperson am DMV, dem Verkehrsamt in Richmond. Das DMV bearbeitete sowohl Daten von Zweigstellen im ganzen Staat als auch von einzelnen Autofahrern.

Die Nachricht lautete:

Hey, Sie haben Samstagabend nach seinem Führerschein gefragt. Hier sind unsere Unterlagen.

Frdl. Gruß, Carol

Yancy langte an Cooper vorbei nach vorn, um mehr Text aufzuscrollen. Sie hatte Wesley Partlows Führerschein vor Augen. Aber das Foto darauf zeigte nicht Wesley Partlow.

Zum ersten Mal spürte Cooper, dass sie den Boden unter den Füßen verlor. Sie wusste, sie begaben sich in tieferes Gewässer.

Sie sah zu Yancy hoch. »Die Leute sind gut - richtig gut.«

Kaum hatte sie Carol Grossmans Nachricht aufmerksam gelesen, als das Telefon läutete. Es war für sie.

»Hallo.«

»Deputy Cooper, Officer Vitale hier. Tut mir Leid, dass ich ein bisschen hintendran bin. Ich war bei den Partlows, wie Sie gebeten hatten. Niemand ist tot.«

»Danke, Officer.« Sie legte den Hörer auf. »Ganz sicher ist jemand tot, ganz so wie mein Hirn!« Sie stürmte hinaus.

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