23

Die lutheranische St. Lukaskirche, ein schmucker Bau aus dem achtzehnten Jahrhundert mit Tür- und Fensterstürzen in Ziegelrot und Weiß, füllte sich mit den Menschen, die Roger O'Bannon die letzte Ehre erweisen wollten. Die Stadtbewohner drängten in die Bankreihen, durch die Buntglasfenster strömte das Licht.

Alle erhoben sich, als Sean O'Bannon und Ida, seine Mutter, durch die Tür neben dem Lesepult eintraten, um ihre Plätze in der ersten Reihe einzunehmen. Die einst zahlreichen O'Bannons waren im Laufe der Jahrzehnte immer weniger geworden. Da weder Roger noch Sean verheiratet waren, könnte die Familie mit Sean aussterben.

Als Mutter und Sohn sich gesetzt hatten, nahmen auch die Versammelten wieder Platz.

Die Leute staunten über Seans verändertes Äußeres. Er hatte sich von seinem Pferdeschwanz getrennt, sich einen ordentlichen Haarschnitt verpassen lassen und war glatt rasiert. Ein gut geschnittener dunkelgrauer Anzug verlieh ihm ein stattliches, ernstes Aussehen. Niemand konnte sich erinnern, dass Sean seit der Highschoolzeit einen Anzug getragen hatte; er hatte sich immer einfach gegeben, Kultiviertheit war nicht seine Sache gewesen. Reverend Jones trat ernst und feierlich aus einer Tür hinter der Kanzel. Er neigte den Kopf vor dem Altar, wandte sich dann den Versammelten zu. Herb, dem Begräbnisse nicht fremd waren, bemühte sich, diesem letzten Ereignis Bedeutung zu verleihen. Er vermied Plattitüden, nichts sagende Phrasen.

Fair saß bei Harry. Susan und Ned Tucker, Miranda und Tracy saßen auf der anderen Seite von Harry. Nach der Trauerfeier fuhren sie zum Friedhof im Süden der Stadt, einem schön gelegenen Gelände mit einem herrlichen Blick auf wogende Weiden. Als der Sarg ins Grab gesenkt wurde, liefen Tränen über Seans Wangen. Bis dahin hatte er an sich gehalten. Seine Mutter legte ihren Arm um seine Taille.

Als Harry mit Fair, Susan und Ned in Neds Auto wegfuhr, stand Sean noch am Grab.

»Bedrückend«, sagte Susan.

»Harry, willst du zum Postamt oder hast du Zeit zum Mittagessen?« Ned bog links ab, Richtung Stadt.

»Zur Arbeit. Miranda isst mit Tracy zu Mittag.«

»Soll ich dir ein Sandwich vorbeibringen?«, erbot sich Susan.

»Ja. Hühnchen, Salat, Tomate und Mayo auf Vollweizenbrot wär nicht schlecht.«

»Hast du Katzen- und Hundefutter im Postamt?« Ned hielt vor der Post.

»Susan, das weißt du doch. Eher verhungere ich als die drei.« Harry lächelte und sprang aus dem Auto.

»Ich muss zur Quail Ridge Farm.« Fair kurbelte das Fenster herunter. »Gehst du am Wochenende mit mir ins Kino?«

»Klar«, erwiderte Harry.

Das Postamt war nur fünfzehn Gehminuten vom Friedhof entfernt, aber Harry war lieber zusammen mit ihren alten Freunden im Auto gefahren. Als sie zum Hintereingang hineinging, erspähte sie die zwei Katzen, die mit den Pfoten in den Rückseiten der Postfächer angelten. Sie sprangen herunter, als Harry die Hintertür zumachte und dann hinüberging, um die Rolltür - einem kleinen Garagentor ähnlich - aufzuschließen, die den Publikumsbereich vom Arbeitsbereich des Postamts trennte.

»Was macht ihr zwei da?«

»Nichts«, sagten sie nicht überzeugend.

Sie ging zu den offenen Rückseiten der Postfächer, warf einen Blick hinein, kniff ein Auge zu, um besser sehen zu können. Aufgerissene Briefumschläge boten sich ihr dar. Verärgert zog Harry sie heraus. »Großartig, Big Mim und Fair. Ausgerechnet die Sachen von den beiden musstet ihr zerfetzen.«

»Wir haben bloß gespielt«, erwiderte Pewter.»Ist doch nichts Schlimmes passiert.«

»Noch nicht.« Tucker wälzte sich auf den Rücken.

»Dusolltest auf unserer Seite sein.« Mrs. Murphy schubste den Postkarren in den sich untätig fläzenden Hund.

Noch ehe ein erstklassiger Kampf ausbrechen konnte, öffnete Cynthia Cooper die Eingangstür.

»Hey, ich hatte gedacht, dich bei der Beerdigung zu sehn«, sagte Harry.

»Ich musste den gerichtsmedizinischen Befund über Wesley Partlow abholen.«

»Und?«

»Er wurde ermordet.«

Harry verzog das Gesicht. »Durch Erhängen?«

»Eindeutig. Der Bursche war offenbar gar nicht so leicht umzubringen. Bei dem Regen und dem Zustand des Leichnams, als wir ihn fanden, haben wir ihn sofort in den Kühlraum geschafft. Und die gründliche Untersuchung ergab, dass kleine Haarbüschel aus seinem Kopf gerissen und blaue Flecken am Rumpf waren. Er hat sich mächtig gewehrt. Marshall Wells kann es nicht mit Gewissheit sagen, ist sich aber zu neunzig Prozent sicher, dass Wesley nicht tot war, als ihm der Strick um den Hals gelegt wurde. Bewusstlos vielleicht, aber nicht tot.«

»Grauenhaft.«

»Ja. Ich war heilfroh, dass ich bei dieser gerichts­medizinischen Untersuchung nicht dabei sein musste.«

»Ich glaube, ich könnte keine durchstehen, auch wenn die Leiche in gutem Zustand wäre.«

»Man gewöhnt sich dran. Stell dir den Körper als Buch vor. Du schlägst es auf und liest.« Die große blonde Frau wies auf die Trennklappe.

Harry nickte, und Cooper hob die Klappe und ging nach hinten.

»Kaffee, Tee, Cola. Susan bringt mir ein Sandwich vorbei. Du kannst gern die Hälfte abhaben.«

»Ich hab grade gegessen.« Sie setzte sich auf einen Stuhl.

»Kein Zeichen vom dem GMC-Transporter. Ich weiß nicht, ob Wesley ihn gestohlen und zurückgegeben hat, bevor der Eigentümer etwas merkte, ob er ihn gestohlen und der Eigentümer es nicht gemeldet hat, oder ob der Eigentümer ihm den Wagen geliehen hat. Ich denke, der Transporter wird mich auf die richtige Spur bringen. Was mir außerdem zu schaffen macht, ist, dass ich kein Strafregister finden kann. Wir haben seine Zahnarztunterlagen rausgeschickt. Das ist oft der einfachste Weg, was zu erfahren, das und der Name. Aber Wesley Partlow ist nicht sein richtiger Name.«

»Was?«, rief Harry, als Cooper ihr von dem falschen Foto auf dem Führerschein erzählte.

»Ich fahr gegen Abend mal rüber nach Waynesboro.«

Harry setzte sich Cooper gegenüber. Mrs. Murphy sprang auf ihren Schoß und Pewter kuschelte sich auf Coopers Schoß. »Es ist fast, als wäre er ein Geist, nicht? Eine namenlose, unbekannte Person, die«, sie hielt inne, »keine Spur hinterlassen hat.«

»Abgesehen von den Falcon-Radkappen.« Cynthia Cooper sog Luft zwischen die Zähne. »Ein Junge wie der müsste Spuren von Missetaten hinterlassen, ein richtig schlimmes Strafregister. Ich werde es schon noch finden.«

»Heißt das, ihr müsst die Überreste aufbewahren?«

»Nein, wir haben Fotos von der Leiche. Und wir haben Fotos von ihm für die Verbrecherkartei gemacht und seine Fingerabdrücke abgenommen, als wir ihn eingebuchtet haben. Es hat wenig Sinn, ihn im Kühlraum zu behalten. Wenn eine Leiche entstellt oder verwest ist, kann man sie oft nicht erkennen. Aber seltsam, manche Leichen bewahren ihre Gesichtszüge lange Zeit, die Augen können weg sein, auch die Lippen, aber sie sind trotzdem noch gut identifizierbar.

Meine Theorie ist, falsche Titten, Kunststoffhüften, die ganzen medizinischen Fortschritte bewirken, dass Leichen sich länger halten. Wir leben nicht länger, wir sterben länger - sozusagen.«

»Du bist ganz schön fertig«, stellte Harry fest.

»Ein bisschen.«

»Wie geht's Rick?« Harry streichelte Mrs. Murphy unter dem Kinn.

»Du weißt, wie er ist, wenn er einen ungelösten Fall hat. Er hat alle topographischen Karten der Umgebung aneinan­der gestückelt und an die Wand gepinnt. Er benutzt bunte Steckstifte für die Tage. Am ersten Tag werden alle be­kannten Bewegungen des Opfers blau markiert. Am zwei­ten Tag grün und so weiter. Das System ist gut, weil Rick besser denkt, wenn er sich etwas bildlich vorstellen kann.«

»Er ist ein guter Sheriff.«

»Ja. Nicht etwa, dass der Bezirk das anerkennen würde.«

Coop seufzte. »Die Leute halten so was für selbstverständlich.«

»In jeder Beziehung.« Harry wollte über den Tisch greifen, aber das quetschte Murphy ein, darum ließ sie es bleiben. »Der einzige Grund, jemanden wie Wesley umzubringen ist, dass er auf frischer Tat ertappt wurde, als er wieder was geklaut hat oder«, sie hielt eine Sekunde inne, »weil er etwas wusste.«

»Rache.«

Harry überlegte einen Augenblick. »Kann sein.«

»Angenommen, er hat jemanden schwer beleidigt? Versucht, die Frau eines Mannes zu verführen oder schlimmer noch, eine minderjährige Tochter. So was kann einen normalen Menschen glatt zur Explosion bringen. Mord ist normal. Deswegen wollen wir nicht hingucken. Die Medien sind fasziniert von Serienmördern, eine ziemlich seltene Verirrung, aber die meisten Morde sind Durchschnittsangelegenheiten, die von Durchschnitts­menschen begangen werden.«

»Nach dieser Theorie wäre Wesleys Mörder in seiner eigenen Gesellschaftsklasse zu suchen. Oder nicht? Menschen wie Wesley haben nicht viel Kontakt zu Leuten weiter oben auf der Leiter.«

»Meine Güte, so ein hübsches graues Bäuchlein, und so viel davon.« Cooper lachte, als Pewter sich auf ihrem Schoß herumrollte. »Äh - ich weiß nicht. Was, wenn er Gelegenheitsarbeiten auf einer großen Farm verrichtet und sich an die Dame des Hauses rangemacht hat?« Sie zuckte mit den Achseln. »Wer kann das wissen, verdammt noch mal?« »Er konnte immerhin Radkappen verkaufen.«

»Und Autos parken.«

»Ich vermute, dass er jemanden in Crozet kannte. Er ist nicht bloß durchgekommen. Ich meine, man kommt nicht einfach durch Crozet. Durch Charlottesville ja, aber nicht durch Crozet. Wir liegen ein bisschen abseits.« Harrys Miene hellte sich auf. Sie liebte es, Dinge auszuklamüsern.

»Die Route 64 ist nicht so weit weg, die 250 auch nicht.«

»Ja, aber wer nach Crozet kommt, hat meistens ein Anliegen oder eine Person im Sinn. Wir sind eben ein bisschen unbedeutend.«

Cooper schwieg eine Weile und dachte nach. »Ich glaube, du hast Recht. Und was jetzt?« Sie fuhr mit den Fingern durch Pewters Fell.

»Ich weiß nicht, aber ich kann helfen.«

»Nein«, sagte Tucker unter dem Tisch.

»Ach Tucker, sei nicht so 'n Piesepampel«, schalt Mrs. Murphy sie.»Diese Sache wird den Frühling beleben.«

»Du bist doch diejenige, die immer zur Vernunft rät«, hielt der Hund ihr entgegen.

»Vielleicht ist mir langweilig.« Die Tigerkatze legte ihre Pfote auf Harrys Unterarm.»Ich könnte ein bisschen Dramatik gebrauchen.«

»Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünschst.« Pewter wandte den Kopf, so dass sie Murphy unter dem Tisch hindurch angucken konnte.

»Und was würdest du dir wünschen?«, erwiderte die Tigerkatze.

»Steak Tartar, garniert mit geschmorten Mäuseschwänzen.«

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