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Im Shenandoah-Tal an der Westseite des Blue-Ridge- Gebirges lag die bescheidene Stadt Waynesboro. Wenn auch nicht wohlhabend wie ihre östliche Nachbarstadt Charlottesville, bewies Waynesboro dennoch einen eigenen Charakter, der sich durch Aufrichtigkeit, Fleiß und gute Laune auszeichnete.

Cynthia Cooper mochte die Stadt, deren Wirtschaft von einer DuPont-Chemiefabrik beherrscht wurde. Die Virginia Metallhandwerksbetriebe hatten ihren Sitz ebenfalls in Waynesboro, und Cooper schaute gern vorbei und sah den Männern dabei zu, wie sie die schönen Türschlösser aus Messing und andere Gegenstände schufen, für welche die Firma mit Recht berühmt war.

Cynthia bog rechts ab, fuhr an Burger King und McDonald's vorbei Richtung Westen. Dann bog sie in die Randolph Street ein, die von schmucken, gepflegten Häusern gesäumt war.

Sie parkte vor einem flachen, weiß gestrichenen Ziegelbau mit marineblauen Fensterläden. Die rote Haustür hatte einen großen blank polierten Messingklopfer, der zweifellos in den Virginia Metallhandwerksbetrieben hergestellt worden war.

Sie bediente den Klopfer. Binnen Sekunden wurde die Tür von einer verhärmten Frau geöffnet, die Mitte vierzig sein mochte, aber auf den ersten Blick älter wirkte. Dicht an ihrer Seite war ein hübscher Golden Retriever.

»Mrs. Partlow?«

Die Frau trat unwillkürlich einen Schritt zurück. »Sie sind schon die zweite, die von der Polizei hierher kommt. Mein Sohn ist nicht tot.«

»Ja, das weiß ich, Ma'am, und es tut mir Leid, dass ich Sie belästige. Ich bin Deputy Cynthia Cooper vom Sheriffbüro von Albemarle County. Ist Ihr Sohn zu Hause?«

»Ja, er ist da. Er arbeitet in der Nachtschicht in der DuPont-Fabrik. Er schläft.«

»Verstehe.« Cooper lächelte zu dem Golden Retriever hin.

»Schöner Hund.«

»Das ist Rolex. Wesley hat sie mir zum Geburtstag geschenkt. Er sagte, er kann sich keine Rolex leisten, aber das Hündchen würde mir mehr Freude machen als jede Uhr. Und er hatte Recht, was, Rolex?« Sie tätschelte den seidigen Kopf, und Rolex wedelte mit dem Schwanz.

Cooper griff in die Innentasche ihrer Jacke, zog einen Führerschein hervor und gab ihn Mrs. Partlow. »Ist das Ihr Sohn?«

Ihre Augenbrauen schnellten in die Höhe. »Nein. Wer ist das?«

»Das wissen wir nicht.«

Mrs. Partlow betrachtete den Führerschein. »Alles andre stimmt.«

»Wir hoffen, dass Ihr Sohn weiß, wer der Mann auf dem Foto ist. Würde es Ihnen etwas ausmachen, ihn zu wecken?«

»Nein, überhaupt nicht. Ist sowieso Zeit, dass er aufsteht. Bitte kommen Sie herein, Deputy ...«

»Cooper.« Sie trat ein.

Der Parkettboden in der Diele glänzte.

»Kommen Sie ins Wohnzimmer. Ich gehe Wesley wecken.« Mrs. Partlow verschwand im Flur, Rolex heftete sich an ihre Fersen.

Cooper hörte Grunz- und Stöhnlaute.

Mrs. Partlow kam zurück. »Er ist gleich da. Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«

»Nein danke, Ma'am.«

Wesley erschien bald darauf, er trug ein blaues T-Shirt, Jeans und Turnschuhe ohne Socken. »Hi.«

Cooper stand auf und gab ihm die Hand. »Es tut mir Leid, dass ich Sie störe.«

»Ist schon okay.« Der schmächtige, kraushaarige junge Mann lächelte.

»Hier, Ihr Führerschein.«

Er nahm ihr das steife Stück Pappe aus der Hand. »Ich hab meinen Führerschein. Glaub ich. Ich seh mal nach.« Er lief in sein Zimmer.

Cooper hörte, wie metallene Kleiderbügel auf einer metallenen Kleiderstange geschoben wurden. Rolex hob den Kopf.

»Gute Ohren, Rolex.«

Wesley kam verdattert wieder ins Wohnzimmer. »Er ist weg! Ich hab meinen Führerschein immer in der Tasche von meiner Bomberjacke, außer wenn's richtig heiß ist, dann steck ich ihn einfach hinter die Sonnenblende von meinem Wagen.«

»Haben Sie eine Ahnung, wie lange Ihr Führerschein schon weg ist?«

Er überlegte kurz. »Ich war tanken. Da hatte ich ihn noch. Vorige Woche. Ich ...« Er hielt inne. »Also, erinnern ist irgendwie schwierig. Ich denk halt nie an meinen Führerschein.« »Erkennen Sie den Mann auf dem Foto?«

Er sah sich das Bild genau an. »Irgendwie schon. Gesehn hab ich ihn, weiß aber nicht, wie er heißt.«

»Wer immer er ist, er kann mit Sicherheit einen Führerschein frisieren, oder er kennt einen, der's kann.« Cooper lächelte.

»Ja. Sieht echt aus für mich.«

»Für mich auch«, fiel Mrs. Partlow ein.

»Mr. Partlow, denken Sie mal nach. Jeder Hinweis, den Sie mir geben können, ist eine große Hilfe.«

»Er ist tot, nicht? Mom sagt, der Polizist von Augusta war hier, um ihr zu sagen, dass er tot ist.«

»Ich glaube, ich hab ihn mehr überrascht als er mich.« Mrs. Partlow lächelte schmallippig.

»Ja, er ist tot. Könnten Sie ihn an der Tankstelle gesehn haben?«

»Äh, nein.« Wesley setzte sich und stützte das Kinn in die Hand. »Könnte ihn bei Danny's gesehen haben, das ist die Bar hinter der Post im Zentrum.« Er runzelte die Stirn. »Ja.«

»Und wenn Sie zu Danny's gehen, wo lassen Sie dann Ihre Jacke?«

»Häng sie auf oder leg sie über die Stuhllehne.«

Nach ein paar weiteren Fragen ging Cooper und fuhr zu Danny's. Louis Seidlitz, der Barmann, bereitete sich gerade auf den Abendansturm vor.

Louis erkannte das Gesicht, konnte sich aber nicht an einen dazugehörigen Namen erinnern.

Auf der Rückfahrt nach Charlottesville, bergauf und über den Afton Mountain, dachte Cooper, wie fix und gewandt der falsche Wesley Partlow gewesen war. Fix genug, um einen Führerschein zu klauen. In wie viele Taschen mochte er gefasst haben, ehe er fündig wurde? Offenbar hatte er sie durchwühlt, ohne dass man auf ihn aufmerksam wurde. Cooper musste an den Spruch denken: »Gelegenheit macht Dichter wie Diebe.«

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