Die Woche verflog in einem Chaos von Tätigkeiten, die zum Zeitpunkt des Geschehens scheinbar ungemein wichtig und hernach rasch vergessen waren. Zum Glück war die Postmenge mäßig, weshalb Harry Freitagmorgen hinauseilte, um ihre Lebensmitteleinkäufe zu tätigen. Miranda, deren Kühlschrank immer gefüllt war, gab ihr gerne frei. Tracy leistete Miranda bei der Arbeit Gesellschaft.
»Weißt du schon, welches Kleid du anziehst?«
»Das Magentarote natürlich, dieselbe Farbe wie meine Pfingstrosen.«
»Du wirst dort das hübscheste Mädchen sein.« Er lächelte und dachte bei sich, ein weißes oder rosa Ansteckbouquet würde ihr Kleid vervollständigen. »Ich kann mich nicht erinnern, dass Tim O'Bannon sich so für karitative Belange eingesetzt hat.«
»Tim war ein Geizkragen. Ida war das immer peinlich. Als die Jungs den Laden übernahmen, haben sie sich an Gemeindeangelegenheiten beteiligt. Ich denke, sie taten es aus Herzensgüte, aber ich glaube, dem Geschäft hat es auch nicht geschadet. >Ein jeglicher nach seiner Willkür, nicht mit Unwillen oder aus Zwang; denn einen fröhlichen Geber hat Gott lieb.< Zweiter Brief an die Korinther, neuntes Kapitel, Vers sieben.«
»Hast du ein Gedächtnis.«
»Da sind wir wieder!«, verkündete Tucker fröhlich.
»Mom ist nach Hause gefahren, hat die Sachen in den Kühlschrank gepackt, hat uns was Leckeres gegeben, und jetzt hab ich Lust auf den Postkarren.« Pewter sprang hinein, was den Karren ein kleines bisschen ins Rollen brachte.
»Ich hab Schweinekoteletts gekauft.« Harry klang triumphierend, der Herausforderung gewachsen. »Ich mache gefüllte Schweinekoteletts nach Ihrem Rezept. Die Frage ist nur, mag Diego Schweinefleisch? Manche Leute essen keins.«
»Bewirten Sie ihn mit einem Laib Brot, einer Flasche Wein et cetera ...« Tracy klopfte ihr auf den Rücken.
»Ihr Männer. Alle gleich.« Sie zog ihn auf, weil er aus dem Rubaijat zitiert hatte, denn in der nächsten Zeile hieß es »und du«. Tracy nahm an, Harry sei alles, was Diego brauchte.
»Geschlechterkriege!«, rief Pewter vom Boden des Postkarrens. »Ichtippe auf eine Frau als Siegerin.«
»Klar tippst du auf eine Frau, du Trottel. Bist ja weiblich.« Mrs. Murphy sprang ebenfalls in den Karren.
Es folgte eine lautstarke Diskussion, nach welcher Mrs. Murphy aus dem Karren hüpfte, mit gespreizten Vorderpfoten auf dem Boden landete und so tat, als jage sie eine Maus in einen offenen Postsack.
Tucker steckte ihre Nase in den Sack. Murphy schlug nach dem Hund, der den Kiefer aufklappte und sehr grimmig schaute.
»Oh, eine Katze oder ein Hund zu sein.« Harry bewunderte die ungezügelte Lust der Tiere.
»Ihre Katze oder Ihr Hund.« Tracy winkte, als Coop im Streifenwagen vorbeifuhr.
Kurz darauf kam sie durch den Hintereingang. »Hi. Wollte nicht vorne parken. Bin auch gleich wieder weg.«
»Neuigkeiten hoffentlich?« Miranda bot ihr ein Plätzchen an, und sie nahm es.
Sie erfuhren die Sache mit Roger. Rick hatte Cynthia erlaubt, es ihnen zu erzählen. Schließlich steckten sie alle in diesem Schlamassel mit drin. Sie hatten bei dem Tresor geholfen und waren Rick nicht im Weg gewesen. Er konnte nicht sagen, ob er weich geworden oder ob er zu erschöpft gewesen war, um zu meckern und zu klagen.
»Paul Carter, der Sheriff von Washington County, hat angerufen. Zwei Leute bei Boojum haben Dwayne Fuqua erkannt. Sie sagen, er hat regelmäßig Autos vorbeigebracht. Roger haben sie natürlich auch erkannt, aber das Interessante daran ist, dass Roger Dwayne bei Boojum abgeholt hat. Bill Boojum hätte das wissen müssen.«
»Hi.« Susan kam durch den Vordereingang gestürmt, gefolgt von Brooks, ihrer Jüngsten.
»Und warum bist du nicht in der Schule, junge Dame?«
Miranda drohte dem Higschoolmädchen scherzhaft mit dem Finger.
Brooks lächelte. »Lehrerkonferenz.«
»So was gab's nicht, als ich zur Schule ging.« Miranda runzelte die Stirn. »Ich weiß noch, dass George Washington gut in Mathe war.« Sie gab ein klingendes Kichern von sich.
»Ach, Miranda.« Harry verdrehte die Augen.
»Brooks, gut dass du hier bist. Ich wollte heute Abend sowieso vorbeikommen und dir noch ein paar Fragen stellen.
Ich wünschte, sie würden mir alle auf einmal einfallen, tun sie aber nicht.« Coop beugte sich über die Trennklappe, Brooks trat heran und lehnte sich auf die andere Seite.
»Wirst du wohl die Rumrennerei sein lassen«, befahl Harry Mrs. Murphy, die von dem Postsack abgelassen hatte, um mit Tucker Fangen zu spielen.
»Spielverderberin.« Murphy setzte sich jedoch hin, wurde aber dann von Tucker gerammt, und sie kippten beide um.
»'tschuldigung, meine Bremse funktioniert nicht.« Der Hund leckte Murphy die Wange, um den Zusammenstoß wieder gutzumachen.
»Ha, wer 's glaubt, wird selig«, rief Pewter im Postkarren.
»Als du den Zucker zum Tisch gebracht hast, wer hat dir da die Zuckerdose gegeben?« Coop zückte ihr kleines Notizbuch.
»Ted, der Koch.«
»Hat jemand dich auf dem Weg zum Tisch aufgehalten?«
»Nein.«
»Und es war eine Dose mit Rohzucker?«
»Ah - ja.« Brooks verschränkte die Arme, lehnte sich fester auf die Trennklappe. »Ich hab sie neben das silberne Sahnekännchen ans Ende vom Tisch gestellt.«
»Die zerbrochene Zuckerdose war aus Porzellan.« Mrs. Murphy sprang abrupt auf.»Porzellan. Oh, warum ist mir das neulich nicht aufgefallen?«
»Und man hat dich nicht gerufen, um den Zucker auf dem Fußboden aufzukehren?«
»Nein. Irgendjemand hat ihn aufgekehrt. Ein Gast, nehme ich an.«
»Thomas Steinmetz. Lottie ist mit ihm zusammengestoßen.« Das hatten mehrere Augenzeugen Coop bestätigt. »Als du die Zuckerdose auf den Tisch gestellt hast, hast du da gesehn, wer zuerst danach griff?« »Ah - Daddy. Er hat eine Tasse Kaffee für Tante Tally geholt.«
»Und warum ist Tante Tally nicht tot?« Susan hob ratlos die Hände.
»Diese Frage stellen sich die Leute seit Jahren«, erwiderte Harry frech.
»Aber das war nicht die Dose!«, jaulte Murphy.
»Spar dir deine Kräfte«, empfahl Tucker.
»Ich kann nicht glauben, dass ich so blöd war.« Murphy war fassungslos.
»Sei nicht so streng mit dir, Miezekatze. Roger O'Bannon lag ausgestreckt auf dem Boden, und Little Mim hat an seinem Arm gezerrt. Das würde die Aufmerksamkeit von jeder Katze auf sich ziehen«, sagte Tucker besänftigend.
»Direkt vor meiner Nase.« Murphy senkte den Kopf und legte die Stirn an Tuckers Brust.
»Hey, sie haben es auch direkt vor ihrer Nase. Sie sind nicht dahinter gekommen, dabei denken sie, ihre Intelligenz ist allen anderen Geschöpfen auf Erden überlegen.« Gelassen äußerte Tucker diese Kritik.
»Ha«, rief Pewter.
»Erinnerst du dich, ob Party-Gäste in die Küche gekommen sind?«, fragte Coop.
Brooks überlegte einen Moment. »Mrs. Sanburne, Little Mim, Tante Tally, Sean ...«
»Sean?«
»Er ist reingekommen und hat gefragt, wann der Kaffee fertig ist. Es können noch viel mehr Leute gewesen sein, aber ich hab ja die Schüsseln rausgetragen. Ging ganz schön rund.« »Das glaube ich gern«, sagte Miranda.
»Jeder, der in die Küche geht, kommt durch die große Kammer, wo Geschirr und Silber aufbewahrt werden. Die Speisekammer ist auf der anderen Seite der Küche«, überlegte Coop laut. »Brooks, erinnerst du dich, ob alle Silberdosen in Gebrauch waren?«
»Nein, Ma'm.«
Coop lächelte. »Na ja, weshalb hätte es dir auffallen sollen. Wie sollte irgendwer von uns ahnen, was passieren würde? Manchmal denke ich, ein Verbrechen lösen ist wie das Zusammensetzen eines Mosaiks, es sind Tausende und Abertausende winzige Teilchen, bis sich am Ende ein Bild ergibt.«
»Ein interessanter Gedanke.« Miranda reichte die Plätzchenschale über den Schalter.
Brooks aß genüsslich eins. Susan widerstand mit äußerster Willenskraft.
»Sie haben natürlich mit dem Koch gesprochen?«, fragte Tracy.
»Ja. Ich war von seinem Gedächtnis für Einzelheiten beeindruckt, insbesondere was Speisen betrifft.« Sie lächelte.
»Was dagegen, wenn ich Tante Tally anrufe?«, fragte Harry.
»Nein«, sagte Coop.
Harry wählte die Nummer.
Tally meldete sich: »Klingeln tut es, bitte nur Gutes.«
»Hi, Tante Tally, ich bin's, Harry.«
»Hab ich ein Päckchen?«
»Nein, ich bin hier im Postamt mit Deputy Cooper, Miranda und Tracy, Susan und Brooks.« »Eine kleine Party.«
»Es würde viel lebhafter zugehen, wenn Sie hier wären.«
»Da haben Sie Recht.« Sie lachte. »So, und was haben Sie auf dem Herzen, Mary Minor Haristeen?«
»Auf Ihrer Teeparty haben Sie doch Ihr eigenes Silber, Porzellan und Kristall benutzt, oder?«
»Natürlich.«
»Wie viele silberne Zuckerdosen haben Sie?«
»Zwei. Eine für weißen Würfelzucker und eine für Rohzucker. Ich benutze Würfelzucker, damit ich das, was die Leute an dem Tag nicht verbrauchen, den Pferden geben kann.«
»Und beide waren auf der Teeparty in Gebrauch?«
»Meine Güte, ja, ich glaube, ich hatte fast alles auf dem Tisch.«
»Frag sie nach dem Porzellan!« Murphy sprang hinten auf den Tisch und hopste unentwegt auf und ab.
»Immer mit der Ruhe«, ermahnte Harry die Katze.
»Ich bin vollkommen ruhig«, antwortete Tally.
»Entschuldigung, Tante Tally, Sie hatte ich nicht gemeint. Mrs. Murphy führt einen Veitstanz auf. Würde es Ihnen sehr große Umstände machen, in Ihre Geschirrkammer zu gehen und die Zuckerdosen zu zählen, einschließlich der Porzellandosen, sofern Sie welche haben?«
»Nein, aber es wird etwas dauern.«
»Macht nichts.«
Während Harry wartete, plauderten die anderen. Mrs. Murphy lief gespannt zu Harry hinüber. Sie setzte sich so, dass sie Tante Tallys Antwort hören konnte. Da sie ein scharfes Gehör hatte, konnte sie lauschen, wenn sie in der Nähe des Hörers war. Sie musste ihn nicht direkt am Ohr haben.
»Ich bin wieder da«, meldete sich die gebieterische Stimme. »Ich habe zwei silberne Zuckerdosen. Dieselben, die ich von Anfang an hatte. Das ist auch gut so, denn sie sind viel zu teuer, um sie zu ersetzen. Ich habe auch eine einzige Porzellanzuckerdose, die gehört zu meinem Frühstücksservice. Hilft Ihnen das weiter?«
»Tante Tally, Sie waren einegroße Hilfe. Wir sehen uns morgen Abend auf dem Ball.«
»Ohne Roger wird es nicht wie früher. Er hat sich immer dermaßen voll laufen lassen, dass er die Maschinen gestartet, ein heilloses Durcheinander angerichtet hat und auf den Bahngleisen umgekippt ist. Alle anderen werden sich manierlich aufführen, leider.«
»Man kann nie wissen.«
Tante Tally lachte. »Harry, in Crozet ist das die absolute Wahrheit! Tschüss.«
Harry legte auf. »Die zwei silbernen Zuckerdosen sind da. Die Porzellandose ist da, aber die Porzellanzuckerdose ist kaputtgegangen. Wie konnten wir das übersehen? Das heißt, die zerbrochene Porzellandose war nicht die von Tante Tally.«
Sie schlug sich mit der Hand an die Stirn.
»Wir haben es alle übersehen«, sagte Murphy bekümmert.
»Das hilft uns bei unserem Problem nicht weiter, aber es bringt uns der Lösung näher, wie Roger vergiftet wurde.« Miranda seufzte.
»Roger ist vergiftet worden!« Brooks Stimme quiekte.
»Ja, Schätzchen, aber das behältst du für dich.« Susans Ton bürgte für Gehorsam.
»Werden Sie nach Lexington fahren? Hört sich an, als müsste man sich Bill Boojum persönlich vorknöpfen.« Tracy fand, dass jeder Vorgang eine bessere Erfolgschance hatte, wenn er Auge in Auge durchgeführt wurde.
»Nächste Woche. Wir wissen, dass die drei Morde zusammenhängen. Wir wissen, dass Boojum etwas weiß, das er nicht mitteilen will, aber wir wissen noch nicht warum. Wenn wir's nur wüssten.«
»Darauf läuft es immer hinaus.« Tracy nickte.
»Drogen. Das Umfeld passt perfekt, aber Rick schluckt es nicht. Zumindest noch nicht.« Cooper trommelte auf den Schalter. »Wir brauchen einen kleinen Schnitzer, einen winzigen Fehler. Nur einen einzigen.«
Den sollte sie bekommen.