Das Ritual

Das Abendrot färbte das Wasser des Hafens rot wie frisch vergossenes Blut. Schwarz zeichneten sich die ausgebrannten Wracks der Elfenschiffe gegen die Fluten ab. Es wimmelte nur so von Haien im Hafenbecken. Gierig stritten sie um das Aas. Es war drückend schwül, und unerträglicher Verwesungsgeruch trieb über dem Wasser. Orgrim rann der Schweiß in breiten Bahnen über den nackten Oberkörper. Mit gemischten Gefühlen blickte er zurück zur Stadt. Er hatte seine Waffen und seine wenigen Habseligkeiten zurückgelassen. Hoffentlich kümmerte sich Boltan darum. Als Orgrim vor weniger als einer halben Stunde in den Hafen gekommen war, hatte ihm Skanga befohlen, an Bord ihres Schiffes, der Geisterwind, zu gehen. Es war keine Zeit mehr geblieben, in die Stadt zurückzukehren und seine Sachen zu holen.

Steuerbord schäumte das Wasser auf. Riesige Kiefer stießen aus der See und zerteilten eine der treibenden Leichen mit einem einzigen Biss. Ein abgetrennter Arm drehte sich träge in der roten Flut. Es schien, als winke er Orgrim einen Abschiedsgruß zu, dann versank er.

Mit einem mulmigen Gefühl wandte der Troll den Blick ab. Skanga hatte nicht gesagt, was sie von ihm wollte oder wohin die Fahrt gehen sollte. Das große Schiff glitt zwischen den in fahlem Weiß leuchtenden Türmen an der Hafeneinfahrt hindurch. Die See lag spiegelglatt vor ihnen. Obwohl sich nicht das geringste Lüftchen regte, knarrten die Segel der Geisterwind und blähten sich. Orgrim hatte schon viele Geschichten über das Schiff der Schamanin gehört. Hätte er gewusst, dass sie ihn nicht in ihrem Zelt empfangen wollte, sondern an Bord dieses verfluchten Schiffes befehlen würde, dann wäre er erst gar nicht gekommen.

Skanga stand auf dem Achterdeck. Sie hatte eine Hand feierlich auf ihr Herz gelegt und blickte nach Osten.

Wie in feierlicher Prozession strebten dreieckige Haifischfinnen dem Hafen entgegen. Es mussten hunderte sein. Für den Augenblick vertrieb der Ärger über all das verlorene Fleisch seine Furcht. Er hatte auch Gerüchte über ein großes Fest gehört, das morgen im Rosenturm gefeiert werden sollte. Bis dahin würde er wohl kaum zurück sein.

Ein Stück voraus standen Shahondin und sein Sohn am Hauptmast der Geisterwind. Wie konnte Skanga diesen beiden Wichten nur trauen? Sie verrieten ihr eigenes Volk! Warum sollten sie den Trollen Treue erweisen?

Die große Galeasse machte gut Fahrt. Ihr Rumpf schwenkte langsam nach Osten und hielt auf das Waldmeer zu. Orgrim kauerte sich am Schanzkleid nieder und beobachtete die Besatzung. Es hieß, dass Skanga jeden einzelnen ihrer Männer persönlich ausgesucht hatte. Auch einige von seinen Leuten waren vor der Invasion an Bord der Geisterwind befohlen worden. Die Schamanin wollte auch Boltan haben. Orgrim hatte seinen Geschützmeister nur behalten, weil der nach dem Zwischenfall mit der Feuerkugel schwer verletzt gewesen war. Beunruhigt überlegte Orgrim, ob Skanga an ihm Gefallen gefunden haben könnte. Der Schamanin ging ein gewisser Ruf voraus. Lieber würde Orgrim darauf verzichten, je wieder mit einem Weib sein Lager zu teilen, als sich mit dieser alten Vettel einzulassen. Sollte sie sich doch mit den beiden Elfen vergnügen! Er grinste bei der Vorstellung, was Skanga mit den beiden wohl alles anstellen mochte. Hochnäsiges Pack! Jetzt war es an den Elfen zu lernen, was es hieß, der Gnade der Sieger ausgeliefert zu sein.

Seine Gedanken schweiften ab, und er brütete darüber, wie groß wohl seine Aussichten waren, jemals wieder von einem Weib auserwählt zu werden. In der Nacht, nachdem er Rudelführer geworden war, war er zum ersten Mal erwählt worden. Es waren stets die Weiber, die entschieden, wem sie sich hingaben. Und sie nahmen sich nur die Berühmtesten oder Größten unter den Kriegern. Gran stand trotz seines niederen Ranges in hohem Ansehen bei ihnen, dachte Orgrim eifersüchtig. Und der Mistkerl ließ keine Gelegenheit aus, mit seinen Abenteuern zu prahlen.

Auf zehn Krieger kam ein Weib. Viele Trolle warteten ihr ganzes Leben lang vergeblich darauf, erwählt zu werden. Das war der Fluch seines Volkes. Ihre Weiber waren nicht unfruchtbar, so wie man es von den Elfen erzählte, wo nur wenige Kinder geboren wurden. Die meisten Weibchen gebaren ständig neue Brut. Aber sie waren ein Volk von Kriegern. Die Weiber blieben wohl verborgen und gut bewacht in den Felsenburgen. Jede von ihnen hatte drei oder vier Leibwächter, die sie herumkommandieren konnte.

Orgrim dachte an den Einfluss, den Skanga auf den König hatte. Vielleicht waren sie ja insgeheim ein Volk, das von seinen Weibern kommandiert wurde. Er lächelte in sich hinein. Aber das würde immer ihr Geheimnis bleiben. Fremde bekamen niemals ein Trollweib zu sehen. Unter den übrigen Albenkindern machte eine Legende die Runde, dass Trolle in dunklen Höhlen aus Stein geboren wurden. Sollten sie das nur glauben! Es würde die Furcht schüren, die viele vor ihnen empfanden.

Das sanfte Wiegen der Wellen ließ den Troll eindösen. Es war angenehm, keine Verantwortung für das Schiff zu haben, auf dem man reiste. Im Halbschlaf dachte er an die wenigen Nächte zurück, die er mit Weibern verbracht hatte. An die liebestollen Ringkämpfe, den Duft ihrer schweißüberströmten Leiber. Die wunderbaren Tätowierungen auf den kahlen Schädeln seiner Gespielinnen, üppige Brüste und starke, zupackende Hände.

Ein Ruf riss Orgrim aus dem Halbschlaf. Er spürte, wie das Schiff an Fahrt verlor. Blinzelnd sah er sich um. Der Mond stand hoch am Himmel. Es mussten drei oder vier Stunden vergangen sein, seit sie Vahan Calyd verlassen hatten. Zwei Anker rasselten ins Wasser. Mit dem Flaschenzug am Hauptmast wurde eines der großen Beiboote zu Wasser gelassen. Die Seeleute versahen ihren Dienst tadellos. Doch es herrschte eine gedrückte Stimmung an Bord. Nie wurde geflucht oder gelacht. Die Männer verrichteten ihre Arbeit in verbissener Stille. Eine Aura der Angst lag über der Geisterwind.

Ein Trupp Ruderer sammelte sich mittschiffs unter dem Kommando eines jungen Rudelführers. Ringsherum ragten riesige Zeugenbäume aus der See. Die Geisterwind musste tief ins Waldmeer vorgestoßen sein, während er geschlafen hatte. Etwa eine halbe Meile entfernt erhob sich eine Insel gleich einem großen Fangzahn aus der See. Am Strand brannten einige Feuer.

Schlurfende Schritte ließen Orgrim herumfahren. Skanga! Sie trat ans Schanzkleid und winkte ihn zu sich herüber. Mit einer knappen Geste deutete sie zur Insel. »Da haben unsere Späher heute Mittag die Spur der Flüchtigen aufgenommen und wieder verloren«, erklärte die Schamanin. »Es gibt dort einen großen Albenstern. Ich hatte geahnt, dass Emerelle und ihre Getreuen an einen Ort wie diesen kommen würden. Sie waren schnell.«

»Werden wir sie dann noch stellen können?«

Skanga bedachte ihn mit einem ärgerlichen Blick. »Zweifelst du an meinen Fähigkeiten? Die Elflein haben sich mit dieser Flucht ein wenig Zeit erkauft, mehr nicht. Im Labyrinth der Albenpfade können sie tausend Wege eingeschlagen haben. Ich werde einen besonderen Zauber wirken müssen ...« Sie sah zu den beiden Elfen. »Und die hochverehrten Elfenfürsten werden mir dabei eine große Hilfe sein. Komm mit mir, Orgrim. Ich wünsche, dass du alles verstehst, was heute Nacht geschieht.«

Skanga stieg in einen Sitz aus geflochtenen Lederriemen und ließ sich mit dem Flaschenzug über Bord hieven. Gestützt von zwei Kriegern, stieg sie aus und ließ sich im Beiboot nieder. Plötzlich stürzte sich eine ganze Gruppe Trolle auf die beiden Elfenfürsten. Sie wurden gefesselt und ohne auf ihre Proteste zu achten, über Bord geworfen. Vom Boot aus fischte man sie mit langen Stangen aus dem Wasser. Orgrim sah mit gemischten Gefühlen dabei zu. Den ganzen Tag über beteuerte Skanga, wie wichtig diese beiden Elfen waren. Und dann wurden sie so behandelt, nur um sich die Plackerei zu ersparen, sie mit dem Flaschenzug herabzulassen.

Der Troll kletterte das Fallreep hinab und ließ sich am Bug des Bootes nieder. Die Ruderer stießen das kleine Gefährt vom Rumpf der Geisterwind ab und begannen aus Leibeskräften zu pullen. Dabei hielten sie respektvollen Abstand zu den Zeugenbäumen, die von stachelartigen Wurzeln umringt waren. Der Mond überzog das Meer mit metallenem Licht. Jede Welle und jede Klippe hob sich überdeutlich von der silbernen See ab. Orgrim konnte sehen, wie sich Krabben die zerklüfteten Stämme der Baumriesen hinaufarbeiteten. Was war dies nur für eine seltsame Weltgegend! Es gab Bäume, die das Land verließen, um in der offenen See zu wurzeln, und Krabben, die das Meer verließen, um auf Bäume zu steigen. Was die Viecher dort oben zwischen den Ästen wohl machten? Nisten?

Sie hatten sich der Insel nun auf fast hundert Schritt genähert. Zwei Trolle mit Fackeln standen am Eingang einer felsigen Bucht. Nahe der Insel war die See zerwühlt. Riffe schienen die Bucht zu schützen wie Mauerringe eine Burg.

Das Boot begann in der unruhigen See zu schaukeln. Gischt sprühte ihnen in die Gesichter. Der Bootsführer riss die Ruderpinne herum und brachte sie auf einen Kurs parallel zu den Riffen. Sie hielten jetzt auf einen Zeugenbaum zu, der wie ein Wachturm am nördlichen Ende der Zufahrt stand.

»Wir kommen hier nicht durch!«, rief der Bootsführer verzweifelt. »Die Ebbe hat bereits begonnen. Das Wasser steht zu niedrig, um noch in die Bucht einfahren zu können. Die Riffe würden uns den Rumpf zerreißen.« Orgrim sah, dass das Fahrwasser dicht beim Baum ruhiger war. »Versuch es dort drüben!«

Der Bootsführer schüttelte den Kopf. »Dort müssen Wurzeldornen sein! Die sind nicht weniger gefährlich als die Korallen.«

»Mamk, überlass Orgrim das Ruder!«, befahl Skanga.

Der Bootsführer sah ihn hasserfüllt an, erhob sich aber von seinem Platz im Heck. Als Orgrim sich an ihm vorbeidrängte, zischte ihn der andere an: »Du hast wohl vor, jetzt jeden Tag ein Boot zu versenken, Klugscheißer! «

Orgrim versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber die Worte hatten ihn tief getroffen. Warum hatte er auch nicht den Mund gehalten? Das war nicht sein Boot. Es ging ihn nichts an, wenn der Bootsführer vor einer schwierigen Passage kniff. Jetzt hatte er den Ärger am Hals. Und er konnte sich keine Niederlage mehr leisten. Er nahm auf der Bank im Heck des Bootes Platz und legte den rechten Arm auf die Pinne des Ruders. Das dunkle Holz schmiegte sich angenehm in seine Hand. Orgrim schloss die Augen und versuchte eins zu werden mit dem Boot und der aufgewühlten See. Er spürte, wie die Wellen den Rumpf sanft hoben.

»Die Ruder flach!«, befahl er mit fester Stimme.

Zwei Dutzend Männer starrten ihn an. Die meisten von ihnen blickten unfreundlich. Offenbar war der Bootsführer beliebt. Zumindest beliebter als irgendein dahergelaufener Fremder, dem der Ruf vorauseilte, dass er auf dumme Art ein Schiff verloren hatte.

Orgrim konzentrierte sich ganz auf die Wellen. In den kalten Meeren des Nordens, die er mit der Donnerer befahren hatte, war es so, dass jede siebte Welle mit größerer Kraft heranrollte. Doch dies hier war eine andere Welt. Ein fremder Ozean, in dem Bäume wuchsen. Hier mochte das Meer einen ganz anderen Rhythmus haben. Jetzt! Das Boot war stärker angehoben worden. Er drehte es in die Welle und begann zu zählen. »Worauf wartet der noch?«, raunte einer der Ruderer.

Nicht aus der Ruhe bringen lassen, dachte Orgrim. Vier. Er spähte auf die enge Durchfahrt. Gerade weil der Mond wie eine Laterne am Himmel erstrahlte, erschienen Orgrim die Schatten der Nacht nur umso tiefer. Er konnte einzelne Wurzeldornen erkennen. Aber sie schienen im Bereich der Durchfahrt keine geschlossenen Kreise zu bilden. Jemand hatte eine Bresche in die Verteidigungswälle des Zeugenbaums geschlagen. Auf irgendeinem Weg mussten doch auch die Elfen in die Bucht gelangt sein. Orgrim konnte sich nicht vorstellen, dass diese Wichte immer bis zum höchsten Stand der Flut warteten. Das passte so gar nicht zu ihrer überheblichen Art. Sie hatten sich einen Weg gebahnt. Ganz bestimmt!

»Alles vor!«, kommandierte er.

Und sicher haben sie auch eine Falle gestellt, meldete sich eine leise Stimme in seinem Hinterkopf. Heimtücke war einer der ausgeprägtesten Wesenszüge dieser Wichtel. Orgrim starrte angespannt in die Finsternis. War da etwas?

»Wagst du die Durchfahrt nicht, nun, da du das Ruder führst?« fragte Skanga.

Orgrim fühlte, wie sich seine Gedärme zusammenzogen. Den Zorn der Schamanin zu erwecken, war das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte. Seine Faust schloss sich fester um die Ruderpinne. »Und los! Pullt!«, befahl er den Männern.

Die Trolle legten sich so kräftig in die Riemen, dass das Boot einen regelrechten Satz nach vorn machte. Orgrim steuerte an einigen Wurzeldornen vorbei. Sie waren dem felsigen Ufer sehr nahe gekommen. Wieder spritzte Gischt ins Boot. Wie eine riesige Hand zerrte die Macht der Gezeiten an dem zerbrechlichen Gefährt. Sie hatten das ruhige Fahrwasser in der Bucht fast erreicht, als Orgrim entdeckte, was er befürchtet hatte. Eine letzte Reihe Dornen. Bis zu diesem Hindernis war eine Gasse durch die Dornenkränze des Zeugenbaums geschlagen. Die ganze Zeit über hatte Orgrim stumm den Rhythmus der Wellen mitgezählt. Würde die siebente Welle das Boot hoch genug anheben, um es über die Dornen zu bringen?

»Die Ruder halt! Alles zurück!«, befahl er den Trollen. Sie durften es nicht zu früh versuchen. Die Ruderer stemmten sich in die Riemen. Langsam zog der Gezeitensog sie in den Kanal zurück. Orgrim blickte hinaus aufs Meer. Da war sie. Eine feine Linie, die über die See auf sie zueilte. Einen Augenblick noch ... Sie durften nicht zu weit vom Hindernis entfernt sein, wenn die Welle sie packte.

»Und vor! Jetzt!« Die Ruderer kämpften ein weiteres Mal gegen die Gewalt der Ebbe an. Das Boot wurde von der Dünung angehoben. Sie ritten auf dem Wellenkamm. Orgrim wusste, dass dies nur für ein oder zwei Herzschläge gut gehen konnte. Ihr Boot war zu schwer und zu lang, um sich lange auf dem Wellenkamm zu halten.

Orgrim hielte den Atem an. Sie setzten über die Dornenbarriere hinweg. Da erklang ein nervenzerreißendes Knirschen. Orgrim konnte fühlen, wie das hintere Drittel des Rumpfes auf den Dornen aufsetzte. Einen Augenblick lang schien es, als wolle der Gezeitenstrom sie zurück aufs Meer ziehen. Dann schob sie eine neue Welle voran. Knirschend kam das Boot frei. Orgrim rechnete damit, dass die harten Holzdornen den Rumpf der Länge nach aufschlitzten. Ein trockenes Krachen kündete von einer gesplitterten Planke. Sie glitten in das ruhige Fahrwasser der Bucht. Ein paar Ruderschläge, und das Boot lief auf dem schmalen Sandstrand auf.

Eine Gruppe von Kundschaftern kam ihnen entgegen. Sie hoben Skanga auf ihre Schultern und trugen sie den Strand hinauf.

»Das hast du gut gemacht, Welpe!«, lobte ihn die Schamanin, als sie wieder auf eigenen Füßen stand.

»Dein Bootsführer hätte es gewiss nicht schlechter gemacht.« Orgrim war nicht im Geringsten daran gelegen, sich in Skangas Gunst einzuschleimen. »Er kennt das Boot besser. Wahrscheinlich wäre er nicht einmal auf den Wurzeln aufgesetzt.«

»Schmälere deine Taten nicht. Das erledigen deine Neider schon. Spiel ihnen nicht in die Hände, Welpe. Und jetzt komm mit! Du wirst genau tun, was ich dir sage, und keine dummen Fragen stellen.«

Der Anführer der Kundschafter gesellte sich zu ihnen. Er war ein bulliger Kerl. Ein wenig kleiner als Orgrim, hatte er eine breite Brust, die mit wulstigen Schmucknarben bedeckt war. Sie zeigten das Abbild eines Falken. Bis auf drei Zöpfe hatte der Kundschafter seinen Schädel kahl rasiert. Sie hingen ihm über die rechte Schulter hinab und waren mit Falkenfedern geschmückt. Seine Haut erschien im Mondlicht graugrün und hatte helle Einsprengsel.

Der Blick des Fährtenlesers wirkte seltsam. Seine Augen strahlten eine wohlwollende Wärme aus, wie Orgrim es bei den Weibern erlebt hatte. Gewiss hatte sein Gegenüber dafür schon manchen Spott in seinem Leben geerntet. Helle Narben auf Armen und Beinen zeigten, dass er Streit nicht aus dem Weg ging. Am rechten Oberarm, halb unter den Zöpfen verborgen, zeugten vier helle Striemen vom Kampf mit einem Höhlenbären. Nein, dachte Orgrim, ganz gleich wie seine Augen aussahen, der Kerl hatte nicht viel mit ihren wohl behüteten Weibchen gemein. Selbst wenn eine von ihnen aus einer Laune heraus darauf bestand, auf die Jagd zu gehen, wurde sie stets von so vielen Kriegern abgeschirmt, dass ihr nichts geschehen konnte. Der Kundschafter war anders. Orgrim schätzte ihn als einen Mann ein, der gern allein in die Wildnis zog.

Ihr Führer brachte sie zu einer Fährte, die ein Stück von ihrem Landungsplatz entfernt den Strand hinauf lief. »Es waren ein Kentaur, ein Kobold oder Holder und drei Elfen, die selbst gelaufen sind«, erklärte der Kundschafter. »Dort drüben liegt ihr Nachen. Ein seltsames Boot. Es hat Holzscheiben im Rumpf, die man herausnehmen kann. Mir ist es ein Rätsel, wozu das gut ist. Vielleicht um den Nachen bei Gefahr schnell zu versenken?«

Orgrim dachte an die Geschichten über die eigentümliche Sänfte der Elfenkönigin, die er den Tag über aufgeschnappt hatte. Er blickte zu Skanga. Die alte Schamanin hatte jetzt etwas Wölfisches. Den Kopf vorgestreckt, wirkte sie wie ein Raubtier, das Witterung aufnahm. Gewiss hatte auch sie von der Sänfte der Königin gehört.

»Wann sind sie hier angekommen, Brud?«

»Mit dem höchsten Stand der Flut am frühen Nachmittag.« Der Kundschafter wies zu einem dunklen Höhleneingang.

»Dort drüben haben sie gelagert. Die Glut war noch nicht verloschen, als wir ankamen. Ich schätze, wir haben sie um höchstens eine Stunde verpasst, Ehrenwerte.«

Die Schamanin rieb sich über ihr breites Kinn. »Habt ihr das Schiff sofort zurückgeschickt?«

»Ja, Skanga. Ganz wie du es befohlen hast. Von der Höhle führt ein Tunnel zu einem Ort der Macht... Wir haben ihn nicht betreten, aber man konnte ihn auch vom Tunnel aus gut einsehen.« Der Kundschafter schlug ein Zeichen gegen Geister. »Der Fels dort leuchtet. Es ist ein unheimlicher Platz. Es führt nur ein Weg dorthin. Die eisenbeschlagenen Hufe des Kentauren haben feine Spuren auf dem Felsboden hinterlassen. Zumindest ist er zu diesem Ort der Macht gegangen und nicht zurückgekehrt. Es scheint, als habe ihn der Berg verschlungen und die übrigen mit ihm. Sie haben zwar keine Spuren auf dem Felsen hinterlassen, aber in der Zeit, in der wir auf dich warteten, Skanga, haben wir die ganze Insel abgesucht. Hier ist niemand mehr. Wir werden uns noch ein paar Küstenhöhlen ansehen, in die man nur bei Ebbe gelangt, doch ich bin mir sicher, dass unsere Beute auf und davon ist.«

Brud hatte sie inzwischen in eine niedrige Höhle geführt. Orgrim musste den Kopf einziehen, um nicht an die rußgeschwärzte Decke zu stoßen. Ihr Führer deutete auf die Feuerstelle und auf zwei flache Mulden im Sand. »Zwei der Flüchtlinge haben sich hier niedergelegt. Ich habe den Verdacht, dass sie zwei Verwundete dabei haben, die nicht aus eigener Kraft laufen können. Dann wären es also insgesamt sieben.«

»Eine magische Zahl«, murmelte Skanga. »Ein starker Bund. Nicht zu teilen.« Die Schamanin ging neben der kleineren der beiden Mulden in die Hocke und strich mit den Fingern durch den Sand. Orgrim fragte sich, ob sie die Macht hatte, mit den Sandkörnern zu reden. Den Blick in sich gekehrt, schien die Schamanin alles um sich herum vergessen zu haben. Bewegten sich ihre Lippen? Zauberte sie?

Plötzlich stutzte Skanga. Mit spitzen Fingern zog sie etwas aus dem Sand, das wie ein kleines Stück von einem welken Blatt aussah.

»Was ist das?«, fragte Brud.

Skanga lächelte und zerrieb ihren Fund zwischen den Fingern. »Ein Stück von einem verbrannten Schmetterlingsflügel. Bring mich jetzt zu dem magischen Ort und lass auch die Elflein und die Kiste im Boot dorthin schaffen.« Mit einem lang gezogenen Seufzer richtete sie sich auf. »Ach, Brud. Dies hier ist Orgrim. Ich denke darüber nach, ihn zum Rudelführer auf der Geisterwind zu machen.«

Der Kundschafter blickte kurz zu Orgrim. »Ich habe schon von ihm gehört«, war alles, was er sagte.

Orgrim fluchte stumm. Ja, alle hatten schon von ihm gehört! Von dem glücklosen Rudelführer, dem die Elfen das Schiff versenkt hatten. Er wünschte sich, er würde mit der Donnerer zusammen auf dem Meeresboden liegen. Und die Aussicht, zum Rudelführer auf der Geisterwind zu werden, stimmte ihn alles andere als glücklich. Das war kein Kommando. Das war der Abstieg zum Speichellecker der launischen Schamanin. Er sollte sehen, dass er so schnell wie möglich aus ihrer Reichweite kam!

»Orgrim?« Sie winkte ihm. »Wir sehen uns jetzt diesen Ort der Macht an, wo unsere Jagdbeute im Felsen verschwunden ist. Du hast doch keine Angst, nicht wahr?«

Der Troll straffte sich und stieß mit dem Kopf leicht gegen die Höhlendecke. »Ich habe mein Schiff durch das Nichts geführt. Warum sollte ich eine Höhle fürchten?«

»Tja, warum solltest du?« Skanga lachte leise und auf eine Art, die dem Troll Schauder über den Rücken jagte. »Nur eine Höhle, nicht wahr? Was sollte da schon geschehen?«

Orgrim fand schneller Gelegenheit, seine Worte zu bereuen, als er sich hätte träumen lassen. Brud führte sie in einen Tunnel, in dem man nur noch gebückt gehen konnte. Sie waren umschlossen von weißem Gestein. Zunächst brauchten sie noch Fackeln, um sich zurechtzufinden. Doch bald schon veränderte sich das Gestein auf unheimliche Weise. Es begann von innen heraus zu leuchten. Die Grenze zwischen Luft und Stein schien zu verschwimmen. Der Fels wurde blassblau und durchscheinend. Er hatte eine Farbe wie der Himmel an einem klaren Sommertag. Doch er war noch da, wie Orgrim schmerzhaft feststellen musste, wenn er vergaß, den Kopf einzuziehen. Er konnte weit in den Felsen hineinsehen. Goldene Adern durchzogen das lichte Gestein. Sie alle strebten einem Punkt entgegen, der irgendwo am Ende des Tunnels lag.

Je länger Orgrim hinsah, desto mehr bekam er das Gefühl, dass die Adern im Stein sanft vibrierten. Ganz so, als seien sie lebendig. Seine Nackenhaare sträubten sich. Die Vorstellung, sich nicht durch einen Tunnel im Felsgestein zu bewegen, sondern inmitten von etwas Lebendem zu sein, jagte ihm Angst ein. Das war, als seien sie gefressen worden. Mit jedem Schritt konnte er Brud besser verstehen, der es nicht gewagt hatte, die Höhle am Ende dieses Tunnels zu betreten. War sie so etwas wie ein steinerner Magen? Und würde von ihnen nichts bleiben als ein Rülpser, der durch den Tunnel hinaus zum Strand hallte, wenn sie die Höhle betraten? Orgrim schalt sich stumm einen Narren. Skanga würde sich niemals herwagen, wenn hier eine tödliche Gefahr lauerte. Oder hatte sie sich durch einen Zauber geschützt?

Am Ende des Weges lag nur ein Albenstern, redete sich Orgrim ein. Ein magischer Ort, ja, aber von ihm ging keine unmittelbare Gefahr aus. Es war eine Pforte zu den Pfaden der Alten. Er kannte das doch! Er hatte sein Schiff sicher über einen Albenpfad gebracht! Nur, dass das Tor auf See völlig anders ausgesehen hatte. Da war nichts gewesen, bis Skanga einen Bogen aus Wasserdampf hatte aufsteigen lassen, der in allen Regenbogenfarben geglänzt hatte. Groß genug war er gewesen, dass selbst das Schiff Branbarts hindurchgepasst hatte und noch viele Schritt Raum zwischen den Mastspitzen und dem Scheitel des Bogens geblieben waren.

Orgrims Schritte wurden unsicherer. Er erkannte zwar noch vage den Boden der Höhle, aber auch dort war der Fels durchscheinend geworden, und er hatte das Gefühl, als laufe er durch den Himmel. Unter ihm lag eine bodenlose Tiefe, während er durch die Felswände bis hinaus zur mondbeschienenen See blicken konnte.

Magischer Schnickschnack, sagte sich der Troll. Das haben die Elfen ersonnen, um Trollen wie mir Angst einzujagen. So leicht würde er es ihnen nicht machen. Trotzig reckte er das Kinn vor und stieß sich wieder den Kopf. Jetzt heftete er seinen Blick fest auf den Rücken Skangas, die unmittelbar vor ihm ging. Endlich weitete sich der enge Tunnel, und sie traten in eine Höhle. Hier waren auch schwarze Adern im durchscheinenden Felsgestein zu sehen. Sie waren wie Zöpfe mit den goldenen Adern verflochten.

»Bringt die Elfen hierher«, kommandierte Skanga die Ruderer. »Und schafft die Kiste heran.«

Brud und seine Kundschafter setzten keinen Fuß in die Höhle. Wussten sie es besser?, fragte sich Orgrim. Neugierig sah er sich um. Er spürte ein seltsames Prickeln auf der Haut wie kurz vor einem Sommergewitter. Ein unangenehm metallischer Geruch lag in der Luft. Und der Duft von Salz, Tang und Meer.

»Ich will Maruk hier haben!« Die Schamanin hatte die Holztruhe geöffnet und einen Kreidestein herausgeholt. Sie begann damit, um die beiden Elfen einen großen Kreis auf den Boden zu ziehen. Shahondin und Vahelmin wanden sich vergeblich in ihren Fesseln. In ihren Augen stand die nackte Angst. Wussten sie, was Skanga plante?

»Mach dich nützlich, Welpe!« Skanga drückte ihm den Kreidestein in die Hand. »Zieh die Linie noch einmal nach. Sie muss nicht hübsch und auch nicht regelmäßig sein. Sie darf nur keine Lücke haben. Also streng dich an!«

Orgrim gehorchte, und er hielt sich an ihren Befehl, keine Fragen zu stellen. Sorgfältig zog er den Kreidestrich nach, während Skanga mit einem Blutstein einen zweiten, kleineren Kreis zeichnete. Dann holte sie aus der Truhe Schmuck und Kleider aus hauchzartem Stoff. Den Sachen haftete ein Brandgeruch an, der den Duft des Meeres aus der Höhle vertrieb.

»Du dachtest, du könntest dich über Branbart lustig machen, nicht wahr?« Erschrocken blickte Orgrim auf. Doch Skanga meinte nicht ihn. Sie sprach mit dem geknebelten Elfenfürsten.

»Du denkst, wir Trolle sind dumm. Und es war dein Plan, uns zu hintergehen. Dir würde es niemals einfallen, uns deine Hilfe anzubieten, wenn du nicht ganz sicher wärst, du könntest uns hereinlegen. Doch ich habe dich durchschaut, Shahondin. Dir ging es nicht allein darum, Emerelle zu töten, wie du uns erzählt hast. Du wolltest ihre Krone. Und selbst jetzt hast du diesen Traum noch nicht aufgegeben.« Der Elf setzte sich halb auf. Erstickte Geräusche drangen durch seinen Knebel.

»Nein. Ich habe heute Morgen genug von dir gehört. Doch weißt du was? Du wirst Branbart und mir ein treuer und aufopfernder Diener sein. Du wirst uns hassen. Mehr noch als Emerelle. Und trotzdem wirst du alles geben, um mir meinen Wunsch zu erfüllen.« Die Alte kicherte. »Verlässt dich dein Mut? Glaub mir, du kannst dir in deinen wildesten Albträumen nicht ausmalen, was ich mit dir und deinem Sohn vorhabe. Ihr werdet Emerelle für mich finden. Ich werde euch zu vollkommenen Jägern machen.«

Skanga beugte sich vor und schnupperte an Shahondins Haar. Dabei machte sie ein enttäuschtes Gesicht. »Nicht einmal jetzt riechst du nach Angst, Elflein. Gar kein Geruch haftet euch an, es sei denn, ihr schmückt euch mit ihm. Ich hatte das schon befürchtet. Dabei mögen sie starke Gerüche. Sie werden davon angezogen, wie der Geruch des Blutes die Haie von weither in den Hafen von Vahan Calyd lockt.« Sie wandte sich um. »Ah, Manuk. Da bist du ja.« Sie winkte den Bootsführer zu sich, der etwas unschlüssig an der Mündung des Tunnels stand. »Komm hierher und stell dich kurz zu den beiden Elflein. Achte darauf, dass sie nicht zu sehr herumrutschen und den Rand des Kreidekreises verwischen.«

Die Schamanin begutachtete Orgrims Arbeit und nickte zufrieden. »Sehr gut, Welpe. Hol nun die Kerzen, die du in der Kiste findest, und stell sie hier nach deinem Gutdünken auf. Kerzen sind immer gut, wenn man mit der Finsternis zu tun hat, nicht wahr?«

»Ja, gewiss«, antwortete Orgrim zögerlich. Er fragte sich, ob Skanga verrückt geworden war.

Die Schamanin zog eine kleine, lederne Flasche aus einer der Falten ihres Flickengewandes. Mit einem Zug trank sie die Flasche leer; dabei blähte sie die Backen. Sodann pustete sie durch ihre zusammengepressten Lippen einen Nebel dunkelbraunen Saftes über die beiden Gefangenen. Wieder lachte sie. »So ist es besser, meine Hübschen. Lebertran und Robbenblut. Nun riecht ihr nach etwas, Elflein. Ich muss nur noch Sorge dafür tragen, wie ich euch später auseinander halte.«

Orgrim holte die Kerzen aus der Truhe, doch er fand nichts, um sie anzuzünden. Brud und die Seeleute mit den Fackeln hatten sich zurückgezogen. »Skanga?«

Die Schamanin brachte ihn mit einer ärgerlichen Geste zum Schweigen. »Stell sie einfach hin. Um den Rest kümmere ich mich später. Störe eine alte Frau nicht, wenn sie noch einmal Freude an ihrem Leben hat.« Sie strich mit ihren krummen Fingern über Shahondins Gesicht. »Du bist doch sicher hunderte Jahre alt, Elflein. Und trotzdem ist dein Gesicht so glatt und makellos, wie es die Titten einer Jungfrau sind, der zum ersten Mal das Blut fließt. Darum habe ich euch Elflein schon immer beneidet.«

Orgrim ließ Skanga nicht aus den Augen, während er die dicken, schwarzen Kerzen aufstellte. Was sollte dieses Getue mit den Elfen? Plötzlich drückte die Schamanin einen Finger seitlich in Shahondins Auge, sodass der Augapfel heraussprang. An einem dünnen Fädchen hing das Auge über der Wange des Elfen. Der Fürst bäumte sich in seinen Fesseln auf. Sein Knebel erstickte seinen Schrei zu einem dumpfen Gurgeln.

Skanga schloss die Hand um das Auge auf der Wange. »Ich liebe es, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Ich muss dich doch von Vahelmin unterscheiden können.« Mit einem Ruck zerriss sie den dünnen Faden, an dem der Augapfel hing, und schob ihn sich in den Mund. Genüsslich kauend wandte sie sich zu Orgrim um.

»Du hast genug Kerzen aufgestellt. Geh nun in den anderen Kreis und bewege dich nicht dort hinaus, bevor ich es dir erlaube.«

Skanga legte die Linke auf ihr Herz und schnippte mit den Fingern. Augenblicklich flammten alle Kerzen auf. Sie verbreiteten einen schweren, ranzigen Geruch.

Orgrim tat, wie ihm geheißen. Der rote Kreis war eng. Was hatte sie mit ihm vor? Warum musste er hier allein stehen? Und warum grinste ihn dieser Manuk so an? Wusste der Bootsführer, was geschehen würde? Er stand nun zusammen mit Skanga neben dem großen, weißen Kreis. Die Schamanin hatte ihm vertraulich die Hand auf die Schulter gelegt.

Orgrim roch, dass er den säuerlichen Geruch der Angst verströmte. Er war kein Feigling! Aber er kämpfte am besten, wenn er seinen Feind klar vor Augen hatte. Das hier war ihm unheimlich.

Skanga begann leise zu singen. Die dunklen Adern tief im Fels tanzten im Rhythmus ihres Liedes. Der Boden schien leicht zu vibrieren. Nahe dem weißen Kreis stieg ein Bogen aus goldenem Licht aus dem Fels. Er umschloss einen Durchgang in die Finsternis.

Das Nichts!

Wer es einmal gesehen hatte, würde es immer wieder erkennen. Selbst die Finsternis einer bewölkten, mondlosen Nacht konnte man nicht damit vergleichen. Das Nichts war dichter ... Und man ahnte, dass kein Licht jemals jenseits des goldenen Pfades scheinen würde. Skangas Lied hatte sich verändert. Ihre Stimme formte keine Worte mehr. Sie war zu einem tiefen, kehligen Knurren geworden. Gleichzeitig ging mit Manuk eine seltsame Veränderung vor sich. Seine Haut schrumpelte und wurde faltig. Er hatte die Augen weit aufgerissen. Aus seinem Mund troff ein Faden aus klebrigem, goldenem Licht. Sich windend wie ein Wurm, tanzte der Faden zu Skangas Gesang. Schwerelos hielt er sich in der Luft und verschwand durch das Portal, das die Schamanin geöffnet hatte.

Ein hechelnder Laut antwortete aus dem Nichts. Etwas schob sich durch die goldene Pforte. Gebückt, heimtückisch lauernd. Ein lebendig gewordener Schatten. Es wurde kühler in der Höhle. Der goldene Faden schien den Schatten durch das Tor gezogen zu haben ... Nein. Orgrim erkannte seinen Irrtum. Es war anders. Dieses Schattenwesen verschlang das Licht.

Noch eine zweite Kreatur trat aus der Finsternis. Die beiden begannen einen stummen Kampf um das Licht.

Maruk war kleiner geworden. Seine Haut spannte sich jetzt straff wie bei einem Greis über den Schädel. Deutlich zeichneten sich all seine Knochen ab. Er sah aus, als habe Skanga alles Fleisch aus seinem Leib geschmolzen. Seine Augen waren milchig weiß. Er war blind und musste nicht mehr mit ansehen, was sich an seiner Lebenskraft labte.

Der goldene Faden riss ab. Maruk kippte vornüber. Gierig verschlangen die Schattengestalten den Rest des Lichts. Dann strichen sie leise knurrend durch die Höhle. Sie erinnerten an große Hunde, nur dass sie keine Schwänze hatten. Ihre Form schien veränderlich. Sie schnupperten an den Kleidern und dem Schmuck, der auf dem Höhlenboden verteilt lag.

»Dies gehört Emerelle, der Königin der Elfen«, sagte Skanga leise. »In ihr brennt ein starkes Licht. Ich möchte, dass ihr sie für mich findet. Ihr werdet es spüren, wenn sie zurückkehrt. Immer wenn eine Zauberweberin mit einem Albenstein das Netz betritt, gibt es eine Erschütterung.«

Orgrim hatte das Gefühl, dass diese Schattenwesen die Schamanin verstanden. Sie hielten inne, und auch wenn sie keine sichtbaren Augen oder Ohren hatten, schienen sie ihre Sinne auf den weißen Kreis zu richten. »Ich werde den Bann der Alben von euch nehmen, sodass ihr durch ihre Sterne schreiten könnt, ohne dass man euch gerufen hat. Und ich leihe euch zwei Körper, stark und von Magie durchdrungen, damit ihr das Leben fühlen könnt. Dafür verlange ich lediglich, dass ihr für mich Emerelle findet, bevor der nahende Winter vorüber ist. Ich will sie lebendig. Und ich selbst werde sie holen kommen. Euer Lohn wird das Licht von hundert Albenkindern sein. Ich werde euch ein unvergessliches Festmahl bereiten. Ihr werdet so viel Macht gewinnen, dass ihr fortan aus eigener Kraft auf die Jagd gehen könnt. Alle Fesseln, die euch jetzt noch halten, werden abgestreift sein.«

Eine der Gestalten wandte sich abrupt um. Sie strich um den roten Kreis. Dann schnellte eine Pfote vor. Dunkle Krallen glitten über eine unsichtbare Wand. Ein grässliches Knirschen erklang, so als ziehe man einen scharfkantigen Stein über eine Stahlklinge.

Orgrim hielt den Atem an. Der Schatten streckte eine zweite Pfote aus und zog sich an der unsichtbaren Barriere hoch. Orgrim kämpfte den Impuls nieder, einen Schritt zurückzuweichen. Wenn er den Bannkreis verließ, war er verloren. Ängstlich starrte er zu Boden. War die dünne, rote Linie wirklich lückenlos? Unter ihm pulsten die schwarzen Adern im durchscheinenden Fels. Sie waren zahlreicher geworden.

Das Schattenwesen ließ von ihm ab. Die beiden Kreaturen strichen nun wieder um den weißen Kreis. »Sind wir handelseinig?« fragte Skanga fordernd.

Orgrim konnte keine Antwort hören. Dennoch verwischte die Schamanin einen Teil des Bannkreises mit dem Fuß. Ein Schatten glitt durch die Lücke und schnupperte an den beiden wehrlosen Elfen. Der zweite pirschte in Skangas Rücken.

»Vorsicht!«, schrie Orgrim.

Die Schattengestalt hatte sich aufgerichtet und schnappte nach Skangas Nacken. Weißes Licht flackerte auf. Ein Geruch wie verbranntes Fell breitete sich aus. »Kinderchen, glaubt ihr, ich würde euch rufen, wenn ich mich nicht zu schützen wüsste?« Sie griff nach dem Schatten und zwang ihn ohne Mühe zu Boden. »Den Bannkreis habe ich nur gezogen, damit ihr euch nicht zu schnell an die Elflein heranmacht. Nun nehmt ihre Körper! Ihr wisst, was ich von euch erwarte!«

Die Schatten kauerten über den beiden Gefesselten. Orgrim brauchte eine Weile, bis er erkannte, was dort vor sich ging. Er hatte damit gerechnet, dass die widerlichen Kreaturen die Elfen zerreißen würden. Doch nichts dergleichen geschah. Shahondin und sein Sohn atmeten die Schatten ein. In dünnen Schlieren drangen sie den beiden durch die Nase. Ganz langsam verblassten die Schattengestalten, bis sie schließlich ganz verschwunden waren. Die Elfen lagen wie tot. Skanga trat in den Bannkreis, durchtrennte ihre Fesseln und zog ihnen die Knebel aus den Mündern. »Du kannst jetzt zu mir kommen, Orgrim. Es besteht keine Gefahr mehr für dich.«

Die Worte waren Skanga kaum über die Lippen gegangen, als sich Vahelmin mit einem Schrei aufsetzte. Er griff nach seinem Gesicht. Sein Antlitz verformte sich so, als stecke etwas unter seiner Haut, das ihm mit Gewalt ein neues Aussehen geben wollte. Die Kiefer drückten sich nach vom. Seine Hände krallten sich in das zuckende Fleisch. Die Stirn des Elfen wurde flacher und wich zurück. Vahelmins feines Seidenhemd zerriss. Muskelstränge, dick wie Schlangen, wanden sich unter der Haut seiner Schultern. Aus seinen Fingerspitzen brachen Krallen. Er warf sich herum und kauerte nun auf allen vieren wie ein Tier. Sein Rücken krümmte sich. Arme und Beine wurden dünner und länger. Inzwischen hatte auch Shahondin begonnen sich zu verändern. Wie bei seinem Sohn verwandelte sich sein Leib. Lange Kiefer mit weißen Reißzähnen schoben sich aus seinem Gesicht. Sein verlorenes Auge füllte sich mit einer blutig roten Kugel.

Als die unheimliche Verwandlung beendet war, kauerten zwei riesige Bestien in dem Kreidekreis. Die Schatten waren keine körperlosen Schemen mehr, doch sie waren nicht wirklich Gestalten aus Fleisch und Blut geworden. Die Geschöpfe sahen ein wenig aus wie Wölfe, nur dass sie groß wie Pferde, jedoch viel hagerer waren. Sie hatten kurzes weißes Fell, sehr lange Schnauzen, und ihre Ohren erinnerten ein wenig an Elfenohren. Blauweißes Licht umspielte sie, und man konnte durch sie hindurchsehen, so wie durch die Felswände dieser Höhle. Orgrim fragte sich, ob die Magie dieser Höhle Einfluss gehabt hatte auf ihre Erscheinung.

»Weder Klaue noch Zahn kann euch etwas anhaben«, sagte Skanga feierlich. »Noch der Silberstahl der Elfen. Doch hütet euch vor dem Eisen der Kobolde. Ihre Waffen vermögen euch zu verletzen.« Die Schamanin wandte sich zu Orgrim um. »Sind sie nicht hübsch geworden, meine Kinderchen?«

»Sie sehen gefährlich aus«, entgegnete der Troll ausweichend.

Skanga lachte. »Gefährlich! Das sind reißende Bestien. Sie zerren dir dein Licht aus dem Körper, die Essenz deines Seins, das, was wiedergeboren werden kann. Wenn sie dich anfallen, schlagen sie keine Wunden. Doch am Ende wirst du aussehen wie Maruk.« Sie deutete auf den Kadaver aus Haut und Knochen, der noch im Bannkreis lag. »Sie zerstören nicht deine fleischliche Hülle wie andere Raubtiere. Sie vernichten dich gänzlich. Vor allem die Elfen, die häufiger wiedergeboren werden als alle anderen Albenkinder, fürchten sie. Sie nennen diese Ausgeburten der Finsternis Shi-Handan, das heißt Seelenfresser, Wer immer so dumm ist, Emerelle Zuflucht zu gewähren, der wird es bereuen.« Sie bedachte die beiden Bestien mit einem herzlichen Lächeln. »Tötet aus ihrem Gefolge, wen immer ihr mögt. Nur die Königin ist euch verboten.«

»Shahondin und Vahelmin sind ihre ersten Opfer?«

»Nein!« Die Schamanin schüttelte so entschieden den Kopf, dass die Amulette auf ihrer Brust leise klapperten. »Sie können uns hören. Ihr brennender Hass treibt die Shi-Handan an. Sie leben weiter in ihnen. Ich kann ihnen sogar ihre Gestalt zurückgeben.« Skanga lächelte keck. »Hört ihr? Im Grunde habe ich euch einen Gefallen getan. Ihr könnt Tod und Verderben unter das Gefolge der Königin tragen und Emerelles Untergang bewirken, ohne dass euch jemand erkennen würde. Niemand weiß um euren Pakt mit mir. Tut, was ihr schon immer tun wolltet. Und als Lohn erhaltet ihr eure Körper zurück. Die Seelenfresser werden euch nicht mehr brauchen, wenn ich sie mit dem großen Opfer belohne. Schau dir ihre Augen an, Orgrim. An ihnen kann man erkennen, dass jetzt zwei Seelen in den Shi-Handan leben.« Sie winkte die Seelenfresser zu sich heran.

Der Troll musste seinen ganzen Mut zusammennehmen, um vor den Ungeheuern nicht zurückzuweichen. Ein eisiger Luftzug streifte ihn, als die beiden Kreaturen um ihn strichen. Eine hatte ein blaues und ein blutrotes Auge. Und aus jedem Auge starrten ihn zwei schwarze Pupillen an.

»Geht nun, meine Kinderchen. Ich wünsche euch eine gute Jagd!« Skangas Geschöpfe gehorchten ihr wie gut abgerichtete Jagdhunde. Ohne zu zögern, stürmten sie in die Dunkelheit jenseits der goldenen Pforte.

»Wirst du Shahondin und Vahelmin wirklich zurückverwandeln können?« Die Schamanin zuckte leichthin mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich glaube eher nicht, dass eine Trennung möglich ist. Aber darauf kommt es nicht an. Wichtig war nur, dass die beiden Elflein mir glauben. Auch die Sache mit dem Auge habe ich nur getan, um sie zu verängstigen. Im Grunde schätze ich lauwarme Augen nicht als kleinen Happen zwischendurch. Aber wer sich fürchtet, der ist umso eher bereit zu glauben. Shahondin war ein harter Bursche. Und er verstand etwas von Magie. Unter anderen Umständen hätte er sich nicht gefügt. Er lebt tatsächlich in dem Shi-Handan weiter. Deshalb war es wichtig, dass er glaubt, es gäbe noch einen Weg zurück. Sein Geist wird die Bestie im Zaum halten, wenn sie Emerelle finden. Er wird es sein, der dafür verantwortlich ist, dass wir sie lebend fangen. Und nun folge mir, Rudelführer. Sobald der Stand der Flut es erlaubt, will ich zurück an Bord der Geisterwind. Dort wartet ein neues Schiffskommando auf dich.«

»Wie mir scheint, ist es sehr leicht, deine Gunst zu verlieren, Skanga.«

»Nur wenn man mich enttäuscht, Orgrim.« Sie wandte sich um und sah ihn durchdringend an. »Ich schätze es, wenn meine Männer den Mut haben, mir ihre Meinung frei ins Gesicht zu sagen. Jedenfalls so lange wir unter vier Augen sprechen. Bring ein paar deiner Leute von der Donnerer mit.« Sie stieß mit dem Fuß gegen den schlaffen Kadaver Manuks. »Manchmal hat man überraschende Verluste. Da ist es immer gut, ein paar überzählige Männer an Bord zu haben.«

Orgrim dachte, dass er bestimmt niemanden, den er schätzte, mitnehmen würde. Das hieße, seinen Kameraden die Treue schlecht zu vergelten. »Es gibt da einen Krieger. Er ist ein wahrer Riese. Ihn wüsste ich gern an meiner Seite. Gran heißt er. Vielleicht hast du schon von ihm gehört.«

»Nein.« Skanga schlurfte in Richtung des Tunnels davon.

»Aber ich kenne Boltan. Seine Wunden müssten inzwischen doch verheilt sein. Bring ihn auch mit, Rudelführer. Der ganze Hof redet von seiner außergewöhnlichen Tapferkeit.«

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