Die Spinne unter dem Regenbogen

Gundar kniete sich vor dem Götterbild in den Schnee. Ole hatte es tatsächlich gewagt! Dies hier war der Ort, an dem seine Pilgerfahrt im Wahn geendet hatte.

Der Priester tastete über die raue Oberfläche des Holzes. Man hatte das Bildnis des Luth aus einem dicken Eichenstamm geschlagen. Der Kopf mit seinen wulstigen Augenbrauen war gut ausgearbeitet, doch unterhalb der Schultern hatte der Künstler nur vage die Formen des Körpers angedeutet. Und das Wenige war längst unter einem Panzer miteinander verbackener, rostiger Eisenstücke verschwunden. Da fanden sich Nägel, Bruchstücke von zerbrochenen Klingen, Ringe, Blechstücke, ein Hufeisen. Entlang der Passstraße gab es ein Dutzend oder mehr dieser Götterbilder. Jeder Reisende opferte an ihnen ein Stück altes Eisen und bat den Schicksalsweber um Schutz für den Weg über die Berge. So kleideten sich die Statuen über die Jahrhunderte in einen Panzer aus Eisen und Rost. Man nannte sie Eisenmänner.

Ulric hatte den Hammer mit dem Steinkopf gepackt, der neben der Statue auf einem flachen Felsen lag. Mit all seiner Kraft trieb der Junge einen Nagel in den Fuß des Götterbildes.

Gundar betrachtete noch immer die Lücken, die in den Rostmantel der Statue gebrochen waren. Was hatte Ole dazu gebracht, einen Gott zu berauben?

»Wird Luth uns schützen?«, fragte Ulric und legte den Hammer zurück.

»Dein Onkel hat den Schicksalsweber erzürnt«, antwortete der Priester ernst. »Beten wir, dass wir Luth gnädig stimmen können.«

»Aber wir bringen doch alles zurück. Ist es dann nicht wieder gut?«

Gundar seufzte. »Vielleicht.« Er öffnete den Lederbeutel mit den rostigen Eisenstücken, die Ole in seine Peitschenschnüre eingeflochten hatte. Dann nahm der Priester den Hammer und versuchte, sie vorsichtig wieder in das Holz zu treiben.

»Gundar?« Ulric rieb sich die Hände, die rot vor Kälte waren.

»Wenn ich meinen Zauberdolch in den Eisenmann stoße, wird Luth Halgard dann wieder ganz gesund machen?«

Der Priester hielt in seiner Arbeit inne und blickte zum Himmel. Was sollte er auf diese Frage nur antworten? »Der Dolch ist dein größter Schatz, nicht wahr?«

Der Junge nickte.

»Und du würdest ihn für Halgard opfern?«

»Wenn Luth sie wieder gesund macht.«

»Es ist nicht die Art des Schicksalswebers, uns zu berauben. Ich bin mir sicher, Luth hat gehört, was für ein Opfer du bringen würdest. Und er weiß, dass du mit reinem Herzen sprichst. Behalte den Dolch. Luth war es, der den Pfad deines Lebens so knüpfte, dass du den Schwertmeister der Elfen trafst und dass Ollowain dir dieses Geschenk machte. Der Dolch ist also auch ein Geschenk Luths an dich. Und Geschenke gibt man nicht zurück. Damit würdest du den Gott beleidigen.«

»Ich wollte ihn nicht kränken«, sagte Ulric zerknirscht.

»Manchmal ist es sehr schwer, die Götter zu verstehen. Gut, dass du da bist und erklären kannst, was sie wollen.«

Gundar schluckte. »Ja«, sagte er leise. Er dachte daran, wie oft er selbst im Zweifel war. Das Vertrauen des Kindes tröstete ihn. Und zugleich war es ihm eine Bürde. Er durfte Ulric nicht enttäuschen! Hoffentlich würde dieses Wolfspferd verschwinden.

Der Priester starrte in die großen Augen der Statue. Gelassen erwiderte der Gott seinen Blick. Luth hatte ihm den Traum in der letzten Nacht geschickt. Spinnen wachten über den goldenen Palast des Gottes. Und manchmal halfen sie ihm auch beim Weben der Schicksalsfäden.

»Ich habe dir doch von meinem Traum erzählt, Ulric. Suche für mich nach einem Regenbogen. Luth wird ihn uns als ein Zeichen schicken, wenn er mit uns versöhnt ist.«

Der Junge blickte zweifelnd in den strahlend blauen Winterhimmel. Keine Wolke zeigte sich. Es war viel zu kalt, um mit Regen rechnen zu können. Woher sollte da ein Regenbogen kommen? Gundar war sich bewusst, dass sie auf ein Wunder warteten.

Der Priester nahm seine Arbeit wieder auf und versuchte, die gestohlenen Eisenstücke ins Holz zu bringen, ohne dass sie zerbrachen. Er hatte auch einen kleinen Tiegel mit klebrigem Fichtenharz mitgebracht. Ihn benutzte er, wenn ihm etwas zu zerbrechlich erschien, um es Hammerschlägen auszusetzen.

Die Arbeit ging nur schleppend voran. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Ulric den Engpass des Bergweges untersuchte. Er sah sich die kahlen Büsche an und suchte nach Spuren im Schnee oder auf den Felsen. Nachdem Gundar mit dem gestohlenen Eisen fertig war, öffnete er einen zweiten Beutel. Jeder Bewohner Firnstayns hatte ihm ein kleines Geschenk für Luth mitgegeben. Unermüdlich hämmerte er und blickte sich kaum noch nach dem Jungen um.

Plötzlich ließ ein schriller Ruf ihn aufschrecken. »Da ist sie!« Ulric hüpfte wie eine junge Ziege, die nach einem langen Winter zum ersten Mal wieder aus dem Stall kommt. »Der Schicksalsweber hat uns sein Zeichen geschickt! Komm, Gundar. Komm schnell! Hier ist der Regenbogen. Und ich sehe auch die Spinne!«

Gundar sah einen bunten Lichtfleck auf der grauen Felswand gegenüber dem Eisenmann tanzen. Ungläubig staunend stand er auf. Seine alten Knochen knirschten, und die Knie taten ihm weh. Hinkend ging er zu dem Jungen hinüber.

»Sieh nur, Gundar! Dort auf dem Felsen. Man muss sehr genau hinsehen. Direkt unter dem Regenbogen!« Der Priester blinzelte und rieb sich die Augen. Dann trat er noch näher an die schroffe Felswand. Seine Finger tasteten über die schwachen Linien, als forderten sie einen Beweis für das undeutliche Bild, das sich seinen Augen bot. Fast verwittert war dort eine Spinne in den Fels geritzt, nicht größer als sein Handteller. Und über der Spinne stand ein gekrümmter Lichtfleck, der in allen Regenbogenfarben schimmerte. »Die Spinne unter dem Regenbogen«, flüsterte Gundar. Sein Herz machte einen Satz. Das war ein Zeichen seines Gottes! Wie hatte er nur jemals an Luth zweifeln können! Ihr Opfer war angenommen.

Der Priester blickte den Pass hinauf. Die Sonne stand schon tief zwischen den Bergen. Ein funkelnder Eiszapfen, der von einem Fichtenzweig hing, erregte Gundars Aufmerksamkeit. Lag dort der Ursprung des Regenbogens? Doch was scherte ihn das! Luth hatte ihm ein Zeichen gegeben. Das war alles, was zählte.

»Lass mich den Schnee zur Seite räumen«, bat Ulric aufgeregt.

»Was für ein Geschenk mag sich dort verbergen?«

Gundar breitete lächelnd die Arme aus. »Woher soll ich das wissen?« Selig blickte er zum Himmel. Ein Geschenk Luths! Der Schicksalsweber ehrte ihn über alle Maßen.

»Ich komme hier nicht mehr weiter.« Ulric hatte den Schnee mit bloßen Händen zur Seite geschaufelt. Doch nun war er auf eine Schicht aus mit Eis verklebten welken Blättern gestoßen.

»Vielleicht liegt das Geschenk an uns ja schon sehr lange hier. Dann ist es mit dem Laub der verstreichenden Jahre bedeckt. Vielleicht ist es sogar eingegraben? Glaubst du, du kannst hier ein Feuer machen, damit der Boden auftaut?«

»Ich habe keinen Feuerstein und auch keinen Zunder«, sagte der Junge traurig.

»Aber ich. Such einfach ein wenig welkes Gras und trockene Ästchen. Vielleicht auch einen dicken Ast, den wir als Grabstock nehmen können.« Gundar blickte wieder zum Himmel. Die Sonne stand schon sehr tief. Sie würden es nicht vor Einbruch der Dämmerung zurück zum Wehrberghof schaffen. Wenn sie ihren Schatz heute noch heben wollten, dann müssten sie hier oben übernachten. Bei so klarem Himmel würde es sehr kalt werden. Der Priester deutete auf eine Gruppe Fichten, die von Dickicht umgeben waren. »Lass uns dort drüben ein Nachtlager vorbereiten. Dort sind wir vor dem Wind geschützt, und es gibt einen großen Felsen, der die Wärme des Feuers zurückstrahlt. Zuallererst müssen wir dort einen Holzvorrat anlegen, der uns über die Nacht bringt. Dann können wir hier weitermachen. Kannst du uns Holz suchen, Ulric? Ich muss noch einige der Opfergaben in den Eisenmann schlagen.«

Ulric nickte begeistert und lief los.

Zwei Stunden später schoben sie mit Stöcken die Glut an der Felswand zur Seite. Ulric hatte ein wenig übertrieben und ein Feuer entfacht, auf dem man einen Ochsen hätte braten können. Das welke Laub war zu Asche geworden. Gundar war unruhig. Zu spät erst war ihm aufgegangen, dass Luths Geschenk rettungslos verloren war, sollte es brennbar gewesen sein.

Ulric stieß seinen Grabstock mit aller Kraft in den Boden. Es bereitete einige Mühe, das mit Humus durchsetzte Geröll zu bewegen. Der Priester hielt eine Fackel, um dem Jungen zu leuchten. Ohne sich zu schonen, arbeitete Ulric und kniete bald in einer flachen Grube. Manchmal half Gundar ihm, wenn es galt, einen größeren Stein freizuhebeln.

»Hier ist ein Spalt!«

»Darf ich sehen?« Der Priester beugte sich weit vor. Alfadas‘ Sohn hatte einen fingerbreiten Riss am Fuß der Felswand freigelegt. Davor lag eine Gruppe faustgroßer Steine. »Die Steine dort sehen seltsam aus. Als hätte man sie aufgeschichtet.«

Ulric nahm sich einen dünnen Ast aus den Resten des verloschenen Feuers und schob ihn in den Felsspalt. »Da geht es tief runter! Vielleicht finden wir eine Schatzhöhle?«

Gundar musste lächeln. Er hatte keine rechte Vorstellung von dem Geschenk, das der Gott ihnen gemacht haben mochte, aber an eine Schatzhöhle glaubte er keinesfalls. Er zwängte seinen Grabstock in den Spalt. Mit einem Ruck hebelte er die Steine zur Seite.

Ulric war eifrig dabei, die Felsbrocken aus der flachen Mulde zu werfen. Je tiefer sie gruben, desto breiter wurde der Spalt. Schließlich konnte Ulric einen Arm hineinstecken. Er legte sich flach auf den Bauch und angelte mit seinen Fingern in dem Versteck. »Da unten ist etwas Glitschiges.«

»Kannst du es hochziehen?«

»Es ist schwer. Ich kann es nicht richtig greifen. Es rutscht mir immer wieder zwischen den Fingern hindurch.« Ulric richtete sich wieder auf. Sein weißer Mantel war ganz mit Schmutz bedeckt.

Schweigend gruben sie tiefer, bis die Öffnung weit genug wurde, dass Gundar seinen Arm hineinstecken konnte. Seine Finger ertasteten etwas Kaltes, Rutschiges. Modergeruch stieg aus dem Versteck. Als der Priester den geheimnisvollen Schatz endlich fest zu packen bekam, musste er all seine Kraft aufbieten, um ihn emporzuziehen.

Luths Geschenk war in schimmeliges Leder gehüllt. Etwas darin klirrte leise, als Gundar seinen Fund auf den Boden legte. Offenbar war das Leder einmal sehr sorgfältig eingeölt worden. Dort, wo keine Schimmelflecken waren, schimmerte es noch immer feucht.

»Willst du es nicht aufmachen?«, fragte Ulric ungeduldig.

Gundar schüttelte bedächtig den Kopf. Er hatte eine Ahnung, was er im Leder eingeschlagen finden würde, doch konnte er sich nicht vorstellen, was er als Priester damit anfangen sollte.

Wie es schien, schickte Luth ihn in den Krieg. Aber gegen wen? Mochte es sein, dass das Wolfspferd gar nicht vom Schicksalsweber gesandt worden war?

»Gehen wir hinüber zu unserem Nachtlager und legen dort neues Holz ins Feuer. Wir wollen unseren Schatz doch bei Licht betrachten.«

Das Logbuch des Eisseglers Rosenzorn

1. Tag der Reise, Vormittag: Lange vor Morgengrauen wurde der Kriegsrat einberufen. Ein ungünstiges Omen überschattet den Tag unseres Aufbruchs aus dem Schneehafen von Phylangan. Alle Fische im See der Himmelshalle sind verendet. Es gibt keine Erklärung für dieses Ereignis, genauso wenig wie für die toten Kobolde, die man vor drei Tagen gefunden hat. Ein unsichtbarer Feind scheint sich in die Felsenburg eingeschlichen zu haben.

Nachmittag: Die Rosenzorn riecht nach frischer Farbe. Wie die Weidenwind und die Schwertwal wurde der Eissegler weiß, gestrichen, damit er in der Eislandschaft schwerer zu entdecken ist. Der Menschenfürst Alfadas ist an Bord gekommen. Er wird das kleine Geschwader führen. Sein Bordoffizier ist eine Gestalt, der die halbe Nase fehlt. Außer mir sind nur noch sieben Elfen an Bord. Auf den beiden anderen Schiffen sieht es ähnlich aus. Auf Befehl des Herzogs wurden zahlreiche Veränderungen vorgenommen. Schwere Windenarmbrüste sind auf die Reling aufgesetzt. Und entlang des Rumpfes schmiegen sich lange Metallblätter, die aus stählernen Schiffskufen geschmiedet wurden. Die Menschen an Bord sind ein verwegener und ungewaschener Haufen. Obwohl ich nur als Windsänger die Flottille begleite, kann ich es nicht lassen, das Logbuch zu führen wie einst in glücklicheren Zeiten.

Abend: Die Flotte hat in der Dämmerung den Schneehafen verlassen. Der Abschied ist mir schwer gefallen. Shaleen befürchtet, dass ich nicht wiederkehren werde. Ich habe sie gebeten, an Bord des nächsten Eisseglers, der aus dem Himmelshafen ausläuft, Phylangan zu verlassen. Drohendes Unheil liegt über der Felsenburg wie ein alles erstickender Schatten.

2. Tag der Reise, Vormittag: Die Segler machen gute Fahrt. Wir hoffen, bis zur Mittagsstunde die Hügel zu erreichen, bei denen wir das Trollheer zuletzt gesichtet haben.

Nachmittag: Die Trolle sind verschwunden. Alfadas lässt drei kleine Eissegler aussetzen, die uns als Späher vorauseilen sollen. Die Flottille bewegt sich mit langsamer Fahrt in östliche Richtung.

Abend: Einer der kleinen Eissegler ist nicht zurückgekehrt. Es herrscht Unruhe unter den Menschen. Sie sehnen sich nach einem Kampf. Ich habe Alfadas angeboten, morgen im ersten Tageslicht mit meinem Falken Schneeschwinge zu reisen, um nach dem vermissten Boot zu suchen.

3. Tag der Reise, Vormittag: Ich entdecke das Wrack des Eisseglers. Das Boot scheint mit hoher Geschwindigkeit in raues Gelände gefahren zu sein. Unbegreiflich! Obwohl überall Blutspuren im Schnee sind, sind keine Leichen zu finden.

Nachmittag: Wir haben einen Späher der Trolle entdeckt. Nachdem wir ihn mit den Schiffen weit über eine Meile über das Eis gehetzt haben, geht Lysilla, die Schiffsführerin der Weidenwind, von Bord und tötet ihn mit obszöner Leichtigkeit. Ich weiß nicht, ob ich sie als Meisterin im Schwertkampf bewundern oder als Mörderin eines hoffnungslos unterlegenen Gegners verachten soll. Die Flottille hält weiter östlichen Kurs. Alfadas sieht davon ab noch einmal die kleinen Eissegler einzusetzen. Stattdessen bittet er mich, mit meinem Falken zu fliegen.

Abend: Habe zwei weitere Späher der Trolle entdeckt, denen wir jedoch ausweichen können. Der Wind weht stetig aus Nordwest. Wir machen gute Fahrt.

4. Tag der Reise, Vormittag: Alfadas bittet mich, mit Schneeschwinge nach Osten bis zur Walbucht zu fliegen. Wir sind nicht mehr weit vom Rosenberg entfernt.

Später Nachmittag: Die Trolle sind in der Walbucht gelandet. Ihr Heer marschiert das Tal zum Rosenberg hinauf. Die Kolonne reicht von Horizont zu Horizont. Ich soll noch einmal fliegen und auskundschaften, wo sich ihr König befindet. Ich habe ein ungutes Gefühl...

Niedergeschrieben von Fenryl, Graf von Rosenberg

Windsänger der Rosenzorn

im 786. Jahr der Rückkehr

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