Orgrim blickte auf den endlosen Zug, der das Swelm-Tal hinaufkam. Stolz erfüllte sein Herz. Sie waren wie eine Lawine aus Fleisch! Nichts, das sich ihnen in den Weg stellte, würde sie aufhalten können.
Ein schriller Schrei ließ ihn herumfahren. Birga heftete einen langen Hautstreifen auf den türgroßen Schild, den sie vor ihrem Opfer in den Schnee gerammt hatte. Der Menschenkrieger, den sie verhörte, war nackt auf einen zweiten Schild gebunden. Von seiner Brust und den Oberschenkeln hatte die Schamanin breite Hautstreifen abgezogen. Sie ging schnell vor, anders als bei den Elfen. Es erforderte keine große Kunstfertigkeit, um den Willen eines Menschen zu brechen.
Branbart und die übrigen Fürsten der Trolle standen um die Schamanin versammelt und sahen ihr wie gebannt zu. Auch Skanga war dort. Sie hatte sich auf einem Bündel alter Felle niedergelassen. Ihre Augen waren geschlossen, doch Orgrim kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie nicht schlief.
»Und, was sagt der Kerl?«, fragte Branbart neugierig. »Woher kommen sie?« Die Schamanin redete in einer seltsam zischelnd klingenden Sprache auf den Krieger ein. Er antwortete stoßweise. Was für Weichlinge! Sie hatten bisher nur zwei Menschen lebend fangen können. Der Erste war schon bei einer leichten Befragung verreckt. Den Zweiten hatten sie aufgehoben, um ihn in Anwesenheit des Königs zu verhören. Orgrim wusste, dass Branbart solche Schauspiele schätzte.
»Der Mann sagt, er kommt aus einer großen Stadt, die Honnigsvald heißt. Sie scheint von einem mächtigen Erdwall umgeben zu sein.«
»Honnigsvald?« Der König sprach das Wort langsam aus, als koste er den fremden Klang auf seiner Zunge wie ein gutes Stück Fleisch. »Wo ist das?«
»Die Stadt gehört zum Fjordland. Ein alter König regiert dort.« Branbart machte eine ärgerliche Geste. »Ich kenne das Fjordland. In meiner Jugend war ich auf Jagdausflügen in den Bergen im Norden dieses Königreichs. Die Menschen dort glauben, sie könnten uns von den Pässen fern halten, wenn sie Holzmänner aufstellen, die mit Eisen gespickt sind.« Er zog geräuschvoll die Nase hoch und spuckte aus. »Diese Narren! Wir haben sie jahrzehntelang verschont, und das ist der Dank. Honnigsvald soll brennen! Und dem alten König ziehst du die Haut ab und schickst sie mir! Ihnen wird es noch Leid tun, dass sie dem Elfengewürm ihre jämmerlichen Krieger geschickt haben.«
Er trat dicht an den Gefesselten heran und blickte ihm ins Gesicht. »Hörst du mich, du feiger, kleiner Scheißer? Die Stadt, die dich geboren hat, werde ich verbrennen. Jede jämmerliche Hütte werde ich abfackeln lassen. Der Schnee in deiner Heimat wird unter Asche verschwinden. Euch Menschen wird es wie jedem ergehen, der den Normirga hilft!« Er zog die Nase hoch und spuckte dem Mann einen Schleimklumpen in die offene Wunde über seinem Herzen. »Lästige kleine Läuse!« Branbart legte seine Hand auf das Gesicht des Menschen. Es verschwand gänzlich unter der großen, grauen Pranke.
»Mein König, es ist nicht klug ...«, wandte Orgrim ein.
»Erzähl mir nichts über Klugheit, du neunmalkluger Versager!« Der Mensch stieß einen schrillen Schrei aus. Sein Schädel knirschte. Die Adern auf Branbarts Arm traten hervor, seine Muskeln zeichneten sich deutlich ab. Der Herrscher zitterte vor Anstrengung. Blut spritzte auf. Zufrieden lächelnd trat er zurück und betrachtete den kopflosen Kadaver, während er seine blutige Hand lässig an seiner Hose abwischte.
»Man kann sie wie Läuse zerquetschen.« Dumgar, der Herzog vom Mordstein, grinste. »Hundert von uns könnten wohl ein ganzes Menschenreich auslöschen.«
»Ich habe schon Läuse zwischen den Fingern gehabt, die mehr Widerstand leisteten«, murmelte Branbart, und seine Herzöge lachten.
Orgrim dachte an den Heerhaufen mit den langen Speeren. Sie hatten keine Ahnung, diese Speichellecker! Für ihre Dummheit und Überheblichkeit würden ihre Krieger mit Blut bezahlen.
»Du erinnerst mich da an etwas, Dumgar!« Branbart drehte sich zu Orgrim um. »Mein Freund, der Schiffeversenker, hat es wieder einmal geschafft, unserem Heer Schande zu bereiten. Wie mir zu Ohren kam, hat der Feigling sich auf einem Hügel verschanzt und keine Anstalten gemacht, die Weichschädel und ihre Elfenfreunde zu verfolgen, als sie geflohen sind.«
Orgrim traute seinen Ohren nicht! Er hatte getan, was vernünftig war, und er hatte seinen Gegnern eine blutige Niederlage beigebracht, als sie versucht hatten, den Hügel zu stürmen. Sie waren die Feiglinge, die davongelaufen waren! Wie konnte dieser alte Bastard die Wahrheit nur derart verdrehen!
»Orgrim! Ich entziehe dir dein Kommando als Rudelführer!«
Orgrim legte die Hand auf den schweren Kriegshammer in seinem Gürtel. Er sollte dieser Narrenposse ein Ende machen!
»Man kann das auch ganz anders sehen«, erklang Skangas leise Stimme. »Bis auf den Königsstein haben die Elfen alle Felsenburgen fluchtartig verlassen. Man könnte also sagen, dass Orgrim mit nur zweihundertfünfzig Kriegern die Snaiwamark erobert hat. Nie zuvor hat ein Troll einen eindrucksvolleren Sieg über die Normirga errungen.«
»Misch dich nicht in die Geschäfte des Krieges ein, Weib!«, schrie Branbart auf. »Ich weiß, warum du diesen kleinen Welpen beschützt. Man hat dich gesehen, Alte. Es stimmt doch wohl, dass du nach der Schlacht von Vahan Calyd eine Nacht mit ihm allein in einer Höhle verbracht hast.« Der König lachte anzüglich. »War er so gut, dass du ihm immer noch bei jeder Gelegenheit die Stange hältst?« Branbart sah sich Beifall heischend um, doch keiner seiner Herzöge wagte es, über Skanga zu lachen.
»Große Könige benutzen ihren Kopf zum Denken, Branbart, und nicht das kleine Ding, das zwischen ihren Beinen hängt. Aber seit du den Schlag vor den Kopf bekommen hast, scheinst du jedes Mal, wenn du die Nase hochziehst, ein Stück deines Verstandes mit auszuspucken. Orgrim ist der Krieger, der im Verlauf des Feldzugs die größten Erfolge für dich errungen hat. Oder ist jemand hier anderer Meinung?« Skanga sah die versammelten Herzöge einen nach dem anderen an. Niemand wagte es, ihr zu widersprechen. »Orgrim war als Erster hier. Er hat die Wolfsgrube besetzt, ganz gleich, ob er nun kämpfen musste oder nicht. Allein seine Anwesenheit hat genügt, um die Elfen in solchen Schrecken zu versetzen, dass sie alle Felsenburgen bis auf den Königsstein aufgegeben haben. Und was wird ihm das bringen? Dein Freund Dumgar vom Mordstein wird die Wolfsgrube übernehmen, ebenso wie den Mordstein, weil er als Wiedergeborener das Recht hat, seine alten Besitztümer einzufordern. Und der Lohn des Mannes, der dies alles vollbracht hat, wird es sein, dass du ihm den Titel des Rudelführers nimmst? Trottel! Schick deine Herzöge los, und die Eroberung des Königssteins wird ein ähnliches Massaker werden wie der völlig unnütze Kriegszug gegen Reilimee!« Sie deutete hinab auf die marschierenden Truppen. »Fast viertausend deiner Männer sind vor der Hafenstadt verblutet. Und wer war der Krieger, der als Erster auf den Mauern von Reilimee stand?« Wieder sah sie herausfordernd zu den Herzögen. »War einer deiner Fürsten darunter?«
Orgrim lächelte. Er nahm die Hand von seiner Waffe. Es mochte sein, dass er vielleicht niemals seinen Herzogstitel errang, aber mit Skanga als Verbündeter fühlte er sich stärker als der ganze Kriegsrat des Königs.
»Weiber haben noch nie Einsicht in die Notwendigkeiten eines Kriegszugs gehabt«, wandte Branbart lahm ein. »Doch weil ich dich dennoch ehre, große Schamanin, werde ich dich weiterhin in meinem Rat dulden. Wir sollten nun darüber reden, wie lange es dauern wird, unsere Krieger bis zum Königsstein marschieren zu lassen.
Orgrim wandte sich ab und blickte wieder das weite Tal hinab. Zwischen den marschierenden Trollen hatte er riesige Gestalten entdeckt. Mammuts! In der Welt der Menschen waren diese Geschöpfe sehr selten. Aber in den alten Geschichten über die Snaiwamark hieß es, dass dort einst große Herden von Mammuts gelebt hatten und auch Wollnashörner sehr verbreitet gewesen waren.
Nun erstand die Welt dieser Geschichten um sie herum wieder. Orgrim fühlte sich glücklich. Wie ungerecht Branbart ihn auch behandelte, er hatte Teil an etwas Großem, an der Rückeroberung ihrer alten Heimat. Und er und seine Krieger waren die Ersten, die ihren Fuß in dieses Sagenland gesetzt hatten. Allein deshalb schon würde er selbst einmal eine Sagengestalt sein, ganz gleich, was Branbart noch gegen ihn unternahm.
Wenn sie die Weiber aus den Felsenburgen in der Anderen Welt holten, würden etliche bei ihm liegen wollen. Er würde der Vater vieler Welpen werden! Zufrieden beobachtete er, wie die Wildrufer die Mammuts auf das letzte, steile Wegstück führten. Er hatte diese Jäger und Kundschafter schon immer bewundert. Sie wurden mit der besonderen Gabe geboren, selbst über weite Entfernung ein geistiges Band zu Wildtieren knüpfen, sie anlocken und ihnen ihren Willen aufzwingen zu können. Ein Rudel, dem ein Wildrufer angehörte, musste niemals Hunger leiden!
Die Maurawan hassten die Wildrufer. Soweit Orgrim wusste, besaßen die Elfen die Gabe des Wildrufens nicht. Sie waren der Meinung, dass der Jäger seiner Beute stunden- oder tagelang hinterherlaufen sollte. Dass eine Jagd so viel einfacher sein konnte, wollten sie nicht hinnehmen. In vergangenen Zeiten hatten die Maurawan immer wieder ihre Wälder verlassen, um die Wildrufer der Snaiwamark zu suchen und zu töten. Angeblich, weil sie auch Wild aus ihren Wäldern herbeiriefen. Aber an dieses gewaltige Heer würden sich die Maurawan nicht heranwagen. Hier gab es keine Deckung wie in ihren Wäldern. Keine Möglichkeit, feige aus dem Hinterhalt einen Pfeil abzuschießen. Und wenn sie es dennoch wagten, würden sie dem gerechten Zorn hunderter wütender Trolle niemals entgehen.
Die ersten Mammuts erreichten die Hochebene. Sie waren mit Bündeln von Lebensmitteln, Waffen, Brennholz und aller nur erdenklichen Ausrüstung beladen. Manche zogen auch wuchtige Schlitten.
Zufrieden erkannte Orgrim, dass man noch weitere Kriegsgeräte der Elfen mitgebracht hatte. Sobald das Heer den Königsstein erreichte, würde man die Mammuts schlachten. Hatten sie erst einmal alle Lasten in die Eiswüste gebracht, wäre ihr letzter Nutzen, die Mägen hunderter hungriger Trolle zu füllen.
Auf manchen der Gepäckbündel kauerten dick in Pelze und Decken gehüllte Kobolde. Sie würden all jene Arbeiten verrichten, für die man kleine, flinke Finger benötigte. Und in den Felsenburgen würden sie nützliche Diener abgeben.
Die Vergangenheit kehrte zurück, dachte Orgrim zufrieden und rieb sich fröstelnd die Arme. Etwas hatte sich verändert ... Plötzlich war da eine unnatürliche Kälte, die bis tief ins Mark der Knochen schnitt. Eine Kälte, die nichts mit dem Winter zu tun hatte!
Alarmiert wandte er sich um. Branbart hatte mitten in seinem endlosen Vortrag über den Angriff auf den Königsstein innegehalten. Auch Birga wirkte beunruhigt. Nur Skanga hatte wieder ihre Augen geschlossen und tat so, als schlafe sie.
Plötzlich schob sich aus dem Eis vor den Füßen des Königs ein geisterhafter Tierkopf. Branbart machte erschrocken einen Satz zurück und strauchelte. Dumgar schlug mit seiner Keule nach der Kreatur, die sich aus dem Eis schob, doch seine Waffe glitt wirkungslos durch die Geistergestalt hindurch.
Jetzt erkannte Orgrim, was dort vor ihnen stand. Während alle Herzöge erschraken und selbst Birga zurückwich, bewahrte er die Ruhe, auch wenn sein Herz beim Anblick dieses widernatürlichen Geschöpfs wild wie eine Kriegstrommel schlug.
»Ich grüße dich, Fürst Shahondin«, erklang Skangas leise Stimme. »Bringst du mir die Nachricht, die dich wieder in dein Fleisch kleiden wird?«
»Ich bringe Nachrichten, die viele Trollkrieger davor bewahren werden, ihr Fleisch abzulegen«, entgegnete der Elfenfürst spitz. Seine Stimme erklang in Orgrims Kopf. Der Troll griff sich an die Stirn. Wie war dieser verdammte Elf, oder was immer er jetzt war, in seinen Verstand gekommen? Auch die übrigen Krieger im Rat des Königs wirkten bestürzt.
»Dies ist die einzige Art, auf die unser Freund zu uns sprechen kann«, beruhigte sie Skanga. »Nun berichte uns, Shahondin.«
Der Elf beschrieb in allen Einzelheiten die Verteidigungsanlagen von Phylangan und welche Truppen sie besetzt hielten. Als er seinen Vortrag beendete, war es totenstill. Selbst Branbart schien klar zu sein, welch schreckliche Opfer ein Angriff auf den Königsstein verlangen würde.
Mit Schaudern erinnerte Orgrim sich an das Blutbad auf den Mauern von Reilimee. Und nun würden sie ein enges Tal stürmen, das von Dutzenden Elfenkatapulten und einigen hundert Armbrustschützen gesichert wurde. Und sie würden ein Tor einrammen müssen, das darauf ausgelegt war, selbst Trollen zu widerstehen. »Wir brauchen Rammböcke, die von Mammuts geschleppt werden«, sagte Branbart. »Damit werden wir selbst das Tor vom Königsstein öffnen können.«
»Aber die riesigen Baumstämme für solche Rammen könnten wir nur aus den Wäldern der Slanga-Berge holen«, wandte Dumgar ein. »Die Maurawan werden wie wilde Hornissen über uns herfallen.«
»Hast du Angst vor Hornissenstichen?«, fragte Branbart verächtlich. »Vielleicht hat Skanga Recht, und ich sollte es mir noch einmal überlegen, dir deine alten Felsenburgen zurückzugeben.«
»Kannst du die Tore nicht von innen öffnen?« Mandrag wandte sich direkt an den Elfenfürsten. Shahondin ging auf den Ältesten zu und blieb dicht vor dem Greis stehen. Plötzlich schnellte sein Kopf vor, und er drang in den Leib Mandrags. Fast augenblicklich zog er sich zurück. Der Alte ächzte und griff nach seinem Herzen. Seine Lippen hatten sich blaugrau verfärbt, und seine Beine zitterten.
»Ich kann nach nichts greifen, was von fester Form ist«, erklang die unheimliche Stimme des Elfenfürsten in Orgrims Kopf. »Solange ich in dieser Gestalt gefangen bin, werde ich keine Hilfe dabei sein, die Tore zu öffnen. Ich gleite durch die Zugketten und Hebel hindurch. Wenn ich meinen Leib zurückbekäme, wäre das freilich etwas anderes. «
»Ich lasse nicht mit mir feilschen«, entgegnete Skanga scharf.
»Du weißt, was du mir schuldest. Es gibt keinen anderen Weg für dich!«
»Gib mir fünfhundert Krieger, und ich werde dir die Tore des Königssteins von innen öffnen, Branbart«, forderte Orgrim. Er hatte die Schilderungen des Elfen aufmerksam verfolgt und war überrascht, welche Schwächen die Festung aufwies.
»Du willst durch den Albenstern gehen?«, fragte Shahondin.
»Er liegt auf einer Brücke, die über einem Abgrund endet. Am anderen Ende steht ein Festungsturm. Dort gibt es kein Durchkommen.«
»Fünfhundert Krieger, mein König«, forderte Orgrim. »Wenn du Glück hast, dann wirst du mich für immer los. Und wenn ich dir die Tore öffne, dann machst du mich zum Herzog.«
Branbart knetete nachdenklich sein Kinn. Plötzlich erhellte ein Lächeln seine Züge.
»Gut, ich nehme dein Angebot an! Öffne mir die Tore des Königssteins, und du wirst bekommen, was du dir so sehr wünschst.«
»Du schickst deine Männer in den sicheren Tod.« Der Elfenfürst trat dicht an Orgrim heran. Ein eisiger Hauch streifte den Troll. »Der Geruch des Todes haftet dir jetzt schon an.«
»Das ist der Geruch der Feinde, die ich erschlagen habe.« Orgrim wandte sich an Skanga. »Du musst mich und meine Männer sicher über die Albenpfade führen. Und du, Elf, wirst mir alle Fragen beantworten. Ich muss genau wissen, wie es in der Festung aussieht. Heute Nacht noch werde ich meine Männer aussuchen.« Er blickte zum Himmel. Die Dämmerung tauchte den Horizont in blutiges Rot. Hoch über ihren Köpfen zog ein einsamer Schneefalke seine Kreise.