Von Fremden und Freunden

Vorsichtig zog Lyndwyn an dem Schilfröhrchen in seinem Hals. Es zwickte leicht, dann glitt es aus der Wunde. Sie legte ihm die flache Hand auf die Stelle. Ihre Finger verströmten eine wohltuende Wärme. Drei Tage hatte sie sich damit Zeit gelassen. Die Magierin behauptete, die Reise auf den Albenpfaden habe sie zu sehr erschöpft. Ollowain glaubte ihr kein Wort!

Lyndwyn nahm die Hand zurück und sah ihn erwartungsvoll an. »Du solltest jetzt wieder sprechen können.« Der Mund des Schwertmeisters war staubtrocken. Er räusperte sich leise. Alle umstanden ihn und sahen ihn an. Er saß auf einem der drei groben Stühle, die es im Haus von Alfadas gab.

Vorsichtig tastete Ollowain über seinen Hals. Lyndwyn hatte die Lederriemen abgenommen. Weder hartes Narbengewebe noch Schorf verrieten, wo sie in seine Kehle geschnitten hatte. Es war, als habe es dieses Schilfrohr nie gegeben. »Es scheint alles verheilt zu sein.« Seine Stimme war rau und erschien ihm fremd.

»Dein Hals muss sich noch ein wenig erholen«, sagte Lyndwyn selbstsicher. »Deine Beschwerden werden bald vorübergehen. Suche nicht danach, ob etwas mit dir nicht stimmt. Du wirst sehen, es kommt alles wieder in Ordnung.«

Ollowain blickte zu der Schlafnische, in der sie der Königin ein Lager bereitet hatten. Nichts kam in Ordnung! Wie konnte sie nur so reden, solange Emerelle in diesem Zustand war! Die Wunden der Herrscherin verheilten, doch lag sie in einem tiefen Schlaf. Nichts vermochte sie zu wecken. Ihr Schlaf erschien dem Schwertmeister wie eine Flucht vor der grausamen Wirklichkeit. Oder war er das Werk Lyndwyns? Er wusste nicht mehr, was er von der Magierin halten sollte. Ohne ihre Hilfe wären sie niemals hierher in Sicherheit gelangt. Und Silwyna? In ihrem Köcher verwahrte sie Pfeile, die aussahen wie jene, die auf Emerelle abgeschossen worden waren. Jede von beiden hatte ihm auf der Flucht das Leben gerettet. Aber wie sollte es weitergehen? Noch immer sahen ihn alle an. Sie erwarteten Entscheidungen, nun, da er ja wieder sprechen konnte.

Ollowain lächelte. »Ich möchte mich bei unseren beiden Gastgebern bedanken«, sagte er ruhig. »Ich bin mir bewusst, wie sehr unsere Anwesenheit den Frieden deiner Familie belastet, Asla. Wir werden gewiss nicht sehr lange bleiben.«

Die Menschentochter sah ihn mit Augen an, in denen keine Herzlichkeit lag. »Die Gesetze der Gastfreundschaft sind uns heilig. Ihr seid willkommen in diesem Haus.«

Ollowain wusste nicht, was er der jungen Frau getan hatte, doch seit dem ersten Tag spürte er den Widerwillen, den Asla gegen sie empfand. Ob Alfadas so dumm gewesen war, ihr von Silwyna zu erzählen? Gewiss nicht. Doch sie hatten das Leben der Menschenkinder gründlich durcheinander gebracht. Die Leute kamen von weit her, um die seltsamen Gäste zu betrachten, die den Jarl von Firnstayn besuchten. Und Asla musste sie alle bewirten. Der Wintervorrat ihrer Familie schmolz dahin wie Schnee in der Frühlingssonne. Sie hatte allen Grund, wütend zu sein.

»Ich glaube, ich würde jetzt gern ein wenig spazieren gehen. Hättest du etwas dagegen, mich zu begleiten, Alfadas?«

»Nein, Meister. Ganz im Gegenteil.«

Sein Gesicht war noch immer der Spiegel seiner Gefühle. Das hatte Ollowain immer an den Menschen geschätzt. Nur wenige von ihnen konnten sich verstellen.

»Nehmt ihr Kadlin und Ulric mit?« Aslas Worte waren eher ein Befehl als eine Frage. »Und bittet Svenja, dass sie mir für heute Abend noch drei Brote backt. Bringt auch einen Korb voller Äpfel von ihr mit. Dieser Pferdemann frisst einem die Haare vom Kopf!«

»Wie stets sind mir deine Wünsche Befehl«, antwortete Alfadas gut gelaunt, hob Kadlin auf die Schultern und gab seinem Sohn einen Wink mitzukommen. Auch der große, hässliche Hund folgte ihnen.

Solange sie im Dorf waren, wurden sie von neugierigen Blicken verfolgt. Am Fuß des kleinen Hügels, auf dem Alfadas sein Langhaus errichtet hatte, lagerte ein ganzer Trupp von Schaulustigen. Zum Glück wurden sie von Orimedes unterhalten, der gerade ein Fass hochstemmte und daraus trank. Der Kentaur fühlte sich wohl unter den Menschen. Ganz anders Silwyna. Sie war nach dem ersten Abend in die Wälder verschwunden, ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren, warum.

»Du bist der Meister, der meinem Vater das Schwertkämpfen beigebracht hat, nicht wahr?«, fragte Ulric ehrfurchtsvoll.

»Ja. Er war noch jünger als du, da hat man ihn zu mir gebracht. Er war ein sehr guter Schüler.«

»Würdest du mir auch eine Schwertkampflektion erteilen, Meister?«

Ollowain musste lächeln. Einen Augenblick lang sah er wieder den frechen, wissbegierigen Jungen vor sich, der Alfadas einst gewesen war. Ulric ähnelte seinem Vater sehr. Allerdings war er entschieden respektvoller. »Es wird mir eine Ehre sein, mit dem Sohn meines besten Schülers die Klinge zu kreuzen. Wie ich sehen konnte, verfügst du zu Hause über eine gute Auswahl schöner Schwerter.«

»Die hat mir alle mein Vater geschnitzt!«, erklärte Ulric stolz.

»Meistens wenn er Streit mit meiner Mutter hat, schnitzt er mir ein Schwert. Und die beiden streiten sich gern.«

Vielleicht hatte er sich in dem Jungen getäuscht, was den respektvollen Umgang mit Erwachsenen anging, dachte Ollowain amüsiert.

Sie schlenderten den Weg entlang, der auf der Rückseite des Dorfes zum Wald führte. Der Schwertmeister empfand die Welt der Menschenkinder auf schwer in Worte zu fassende Weise als unheimlich. Etwas mit der Luft stimmte hier nicht. Sie verwischte den Blick in die Ferne, und die Ordnung der einfachsten Dinge schien durcheinander geraten zu sein. Die Art, wie die Bäume zueinander standen, oder wie ihr Astwerk wuchs. Selbst das Rascheln der Blätter im Wind klang anders, wenn man genau hinhörte, anders als in Albenmark. Vielleicht lag es daran, dass der Welt der Menschen kaum Magie innewohnte? Vielleicht war es auch ganz natürlich, dass sich Welten voneinander unterschieden. Was wusste er schon von diesen Dingen! Er hatte andere Sorgen.

Ein weites Stück gingen sie schweigend. Nur Ulric rief unsichtbaren Gegnern am Wegesrand Herausforderungen zu und drosch gelegentlich mit seinem Holzschwert auf Büsche und Pilze ein.

»Ist es wirklich so schlimm, wie Yilvina erzählt hat?«, fragte Alfadas unvermittelt.

Ollowain hatte nur stumm dabeigesessen, als seine Gefährtin vom Untergang Vahan Calyds berichtet hatte und vom Kampf mit den Trollen. Der Schnitt in den Hals hatte ihm nicht gestattet zu sprechen, und er war nicht unglücklich gewesen, diese Geschichte nicht erzählen zu müssen.

»Sie hat nicht einmal alles gesagt.«

»Und was wirst du nun tun?«

Ollowain machte eine hilflose Geste. »Ich weiß es nicht. Vielleicht sollte ich in die Snaiwamark. Wahrscheinlich werden sich die Trolle als Nächstes dorthin wenden.«

»Warum glaubst du das?«

»Dort lebt mein Volk. Der Elfenstamm der Normirga. Auch Emerelle gehört zu ihnen. Die Trolle hätten zwei Gründe, sich gegen sie zu wenden. Vermutlich werden sie Emerelle dort suchen, und womöglich steht ihnen der Sinn danach, Blutrache an einem ganzen Volk zu nehmen. Und selbst, wenn das nicht der Fall ist, werden sie ihre alte Heimat zurückerobern wollen. Sie sind aus der Snaiwamark vertrieben worden. Es ist das Land, das die Alben ihnen einst geschenkt haben.«

»Warum sollten sie Blutrache an einem ganzen Volk üben wollen? Was haben sie damit zu tun, was ...« Alfadas brach ab.

»Du lebst schon lange wieder unter den Menschen, mein Freund. Du denkst in ihren Maßstäben. Auch wenn die Gräueltaten des letzten Trollkrieges Jahrhunderte zurückliegen, leben noch immer etliche der Elfen, die daran beteiligt waren. Unsere Völker haben einander zu tiefe Verletzungen zugefügt.«

Kurz überlegte Ollowain, ob er Alfadas von dem Massaker auf der Shalyn Falah erzählen sollte. Vom Mord am König der Trolle und seinen Herzögen. Er zog es vor zu schweigen. Es war zu beschämend, was in dieser Nacht geschehen war.

»Manchmal wird uns unser langes Leben zum Fluch. Die alten Wunden wollen nicht verheilen, weil sie nicht in Vergessenheit geraten können. Du erinnerst dich doch noch an Farodin. Er führt seit über siebenhundert Jahren eine Fehde mit einem Trollherzog. Allein er weiß, wie oft er diesen Troll getötet hat und wie oft der Herzog wiedergeboren wurde, nur um erneut durch Farodins Klinge zu sterben.«

»Du solltest Emerelle nicht zurück nach Albenmark bringen. Nicht solange sie in diesem Zustand ist. Lass sie bei mir. Asla und ich werden uns um sie kümmern.«

»Und ich auch!«, sagte Ulric mit großem Ernst. »Ich kann ihr zu trinken bringen, wenn sie durstig ist. Und ihr Geschichten erzählen, wenn sie sich langweilt.«

Ollowain strich dem Jungen über das Haar. »Ich bin sicher, dass meine Königin dein Angebot sehr zu schätzen wüsste.« Er blickte zu Alfadas. »Aber ich kann euch nicht guten Gewissens eine solche Last aufbürden.«

»Nicht? Du willst sie also mit in das ewige Eis der Snaiwamark nehmen. Dorthin, wo du den nächsten Angriff der Trolle erwartest? Niemand würde sie hier bei mir suchen. Wer würde schon vermuten, dass die mächtige Emerelle in einem bescheidenen Dorf in der Welt der Menschen Unterschlupf sucht. Nenne mir einen Ort, der sicher für Emerelle ist, und ich lasse dich mit ihr ziehen.«

Die Einwände, die Alfadas vortrug, waren nicht von der Hand zu weisen. Und dennoch hatte Ollowain kein gutes Gefühl. Sein Plan war es gewesen, hier für ein paar Tage Unterschlupf zu suchen. Gerade so lange, wie Emerelle brauchte, um wieder zu Kräften zu kommen. Dass sie sich von ihrer Verwundung nicht ohne weiteres erholte, daran hätte er niemals gedacht. Er wusste nicht, was jetzt zu tun war. In seinen Gedankenspielen hatte die Königin hier in Firnstayn bestimmen sollen, wie es weitergeht. »Ich werde darüber noch einmal schlafen«, antwortete Ollowain schließlich.

Der Jarl lächelte breit. »Warum? So zögerlich kenne ich dich nicht. Meine Worte werden morgen noch dieselben sein. Warum also warten?«

»Vielleicht weil ich trotz meines Alters die Hoffnung noch nicht aufgegeben habe, über Nacht zu Weisheit zu gelangen«, entgegnete der Schwertmeister scherzhaft.

Plötzlich blieb der große Hund stehen und knurrte leise. Er sah zu einem Dickicht hinüber. Ollowain konnte dort nichts Verdächtiges erkennen, doch hatte er das Gefühl, dass sie beobachtet wurden. Auch das Kind wirkte verändert. Ulric rieb sich die Arme. »Es ist kalt hier unter den Bäumen.«

»Dann gehen wir eben zum Fjord.«

»Atta, Atta!«, rief Kadlin begeistert, als habe sie verstanden, was ihr Vater gesagt hatte.

»Silwyna?«, rief Alfadas in Richtung des Gebüschs. Doch er bekam keine Antwort.

»Hier hat Opa mit dem Ungeheuer gekämpft«, erklärte Ulric. Der Junge deutete auf den Haselnussbusch. »Dort hat es sich versteckt. Und hier haben sie Opas tote Freunde gefunden.«

»Wer sagt das?«, fragte Alfadas ärgerlich.

»Opa Erek. Er hat mir alles über den Kampf mit dem Manneber erzählt. Erek sagt, dieser Ort sei verflucht, weil hier Opas Freunde gestorben sind. Deshalb ist es hier immer kühl.«

»Und ich sage, dir ist es kalt, weil dein nichtsnutziger Großvater dir Gruselgeschichten über diesen Ort erzählt hat.« Alfadas nahm seinen Sohn bei der Hand. »Wir gehen jetzt.«

Ollowain blickte noch einmal zu dem dichten Haselnussbusch. Dort war etwas. Das konnte er spüren. Auch der Hund war nicht ohne Grund unruhig geworden. Etwas lauerte hier.

War es möglich, dass ihnen die Trolle durch das Labyrinth der Albenpfade gefolgt waren? Nein, die Vorstellung war absurd. Dort hinterließ man keine Spuren.

Mit weit ausholenden Schritten schloss Ollowain zu Alfadas und den Kindern auf. Ulric drosch mit seinem Schwert auf einen jungen Birkenstamm ein und bedachte den Baum dabei mit einem Schwall von Flüchen, von denen einige selbst Orimedes beeindruckt hätten. »Silwyna war bei dem Haselnussbusch«, sagte Alfadas leise. »Ich kann es immer noch spüren, wenn sie in der Nähe ist. So wie damals ... Warum hast du sie mitgebracht?«

Ollowain dachte daran, ihn anzulügen. Aber wem konnte er trauen, wenn nicht ihm? Alfadas war gewiss in kein Komplott gegen Emerelle verwickelt. Also erzählte er ihm, warum sie hier war.

Sie hatten längst den Fjord erreicht, als der Schwertmeister mit seiner Geschichte über die Maurawani und ihre undurchsichtige Rolle während der Flucht endete.

»Sie hat nicht auf die Königin geschossen, da bin ich mir ganz sicher«, sagte der Jarl entschieden. »Das würde sie niemals tun.«

Er war noch genauso gutgläubig wie damals, dachte Ollowain traurig. Es wäre doch weiser gewesen, ihm nichts zu erzählen!

»Du hättest auch niemals gedacht, dass sie dich verlassen würde, nicht wahr?«

Alfadas sah überrascht auf. »Was hat das miteinander zu tun?«

»Du hast den größten Teil deines Lebens in Albenmark verbracht, mein Freund. Aber Menschenleben sind kurz. Ich hatte vorübergehende Launen, die länger anhielten. Du kennst uns nicht wirklich. Weißt du, ob sie nicht einen geheimen Groll gegen die Königin hegt?«

Alfadas schüttelte ungläubig den Kopf. »Du bist zu lange Emerelles Leibwächter gewesen, Meister. Du siehst nur noch Intrigen und Verrat, nicht mehr die Wirklichkeit! Die ständige Sorge um die Königin hat dich ausgebrannt. Warum hätte Silwyna dein Leben retten sollen, wenn sie die Königin ermorden will? Und warum wäre sie dann hier? Sie hätte Emerelle doch wohl leicht nach dem Bienenangriff töten können.«

»Du kannst dich eben nicht in eine Maurawani hineindenken, Menschensohn. Und wer sollte es dir verübeln, wo selbst in Albenmark kaum jemand dieses Volk verschrobener Einzelgänger versteht. Für sie ist das Ganze eine Jagd. Und wenn weder ich noch Emerelle selbst in der Lage sind, sie zu schützen, dann ist die Königin keine infrage kommende Beute mehr. Versuche nicht, sie zu verstehen, Alfadas. Das wäre ein Weg der Schmerzen.«

Die Züge seines Freundes verhärteten sich. Mit seinem kurzen, blonden Bart sah Alfadas eigenartig aus. Älter, härter und menschlicher. »Silwyna wird einen guten Grund gehabt haben, mich zu verlassen. Sie hat ihn mir nie genannt, aber das heißt nicht, dass es ihn nicht gibt.«

So naiv diese Vertrauensseligkeit war, so entwaffnend war sie auch. Wäre die Welt nur tatsächlich so, wie Alfadas sie sehen wollte!

»Warum sie mein Haus wohl so schnell verlassen hat?«, sagte Alfadas tief in Gedanken.

»Vielleicht weil sie einen Wald deinen verräucherten vier Wänden vorzieht?« entgegnete Ollowain scherzend. Der Jarl lachte. »Das tut sie ganz gewiss. Außerdem glaube ich, hat sie sofort verstanden, was zwischen mir und Asla ist.«

»Das konnte wohl jeder verstehen, der Augen dafür hatte, dass du ohne Hose herumgelaufen bist.« Der Menschensohn errötete. »Silwyna ist noch immer wunderschön. Als sie vor mir in der Tür stand, da war es für mich, als wäre sie nur einen Augenblick fort gewesen und nicht zehn Jahre. Ich ... Wenn Asla nicht wäre ...«

»Aber es gibt Asla nun mal. Und sei froh darum, dass du sie hast. Sie ...«

»Sie hat sofort gespürt, dass ich Silwyna kannte«, unterbrach ihn der Jarl. »Dabei habe ich ihr niemals von unserer Liebe erzählt.«

»Hat sie denn nicht gefragt, wie dein Leben am Hof Emerelles verlaufen ist?« Ollowain war überrascht. Er hatte ein anderes Bild von Menschen gehabt. Er stellte sich vor, dass sie nicht sehr feinfühlig waren. Etwa so wie Kentauren. Dass Asla so klug sein könnte, eine Frage nicht zu stellen, deren Antwort sie nicht ertragen könnte, hätte er ihr nicht zugetraut.

»Sie mag es nicht, wenn ich von dieser Zeit erzähle. Ich spüre, wie es an ihr nagt. Sie wird jedes Mal wütend, wenn ich zum Steinkreis hinaufschaue. Aber sie stellt keine Fragen. Asla ist eine wunderbare Frau.«

Sie hatten den Rand des Waldes erreicht. Vor ihnen lag ein felsiger Uferabschnitt. Ulric stürmte voraus zum Wasser. Und die kleine Tochter zog ihren Vater an den Haaren und wollte von seinen Schultern herab. »Ich fürchte, ich bin ihr kein guter Gatte«, sagte er leise. »Sie nennt mich oft mein schöner, fremder Mann. Ihre Worte sollen ein Scherz sein. Und doch ist es genau das, was sie empfindet. Wir haben zwei Kinder. Wir leben seit acht Jahren zusammen. Und ich bin ihr fremd.«

Ollowain legte seinem Freund die Hand auf den Arm. Schon als kleiner Junge, wenn Alfadas niedergeschlagen gewesen war, weil die jungen Elfen ihm in so vielem überlegen gewesen waren und er trotzdem mit ihnen hatte mithalten wollen, war er zu Ollowain gekommen. Schon damals war es dem Schwertmeister schwer gefallen, ihm einen Rat zu geben. Und heute ... Was wusste er von den Herzen der Menschen? Er konnte nur hier sein und zuhören.

Kadlin begann mit ihren kleinen Fäusten auf den Kopf ihres Vaters zu trommeln. Sie gab sich keine Mühe mehr, sich festzuhalten. Sie wollte herunter.

»Wie es scheint, hast du da eine kleine Kriegerin«, scherzte Ollowain, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.

Alfadas lächelte matt und setzte seine Tochter ab. »Hier werden Frauen nicht zum Kampf ausgebildet.«

Kadlin stampfte wütend mit den Füßen auf und beschwerte sich lautstark, als er sie an einem Zipfel ihres Kleides festhielt, statt sie auf dem von tiefen Spalten durchzogenen Klippenstreifen herumlaufen zu lassen. Böiger Wind drückte das Wasser des Fjords gegen das Ufer. Platschend brachen sich die Wellen in einem Labyrinth aus Höhlen und Spalten. Manchmal schoss überraschend eine Gischtfahne aus dem zerklüfteten Untergrund. Ulric war schon ganz nass. Er stand auf einer Felsnase, die weit in den Fjord hineinreichte, und rief dem König vom dunklen Grund eine Herausforderung entgegen.

Ollowains Blick wanderte über das weite Wasser. Das Wetter war umgeschlagen, der Himmel bedeckt, und Wellen mit kleinen weißen Schaumkronen eilten dem Ufer entgegen. Weit entfernt sah er ein kleines Boot, das mit halb gerefftem Segel gegen den Seegang ankämpfte. Es fröstelte den Elfen. Die Landschaft war von rauer Schönheit. Sie passte zu den Menschen, dachte er. »Gegen wen will dein Sohn denn jetzt kämpfen?«, fragte er.

»Wer ist dieser König vom dunklen Grund?«

Alfadas winkte ab. »Nur eine von vielen Geschichten, wie sie sich die Fjordländer gern in langen Winternächten an ihren Feuergruben erzählen.«

»Glaubst du, man könnte sie auch einem Elfen an einem dunklen Herbsttag erzählen?«

Der Jarl sah ihn verwundert an. »Es ist wirklich nichts Besonderes.«

»Zumindest deinen Sohn scheint sie sehr beeindruckt zu haben.«

Ulric stand noch immer auf der Felsnase. Er hielt jetzt sein Holzschwert dem Himmel entgegengestreckt, als habe er gerade einen großen Sieg errungen.

Alfadas musste lächeln. »Ja, es ist die Art von Geschichte, die Kinder, alte Krieger und Narren in ihren Bann schlagen. Vor langer Zeit, als Eisen allein den Waffen der Götter vorbehalten war, regierte an den Fjorden ein stolzer Herrscher, König Osaberg. Viele nannten ihn auch den Goldenen, denn er trug eine schwere Brustplatte ganz aus goldener Bronze. Einen Helm mit Flügeln daran besaß er, ein Kettenhemd, das bis zu den Knien herabreichte, sowie einen großen, runden Schild, auf dem das Bild einer Seeschlange prangte. Er war ein stolzer und ein reicher König. Viele Kriege hatten seine Schatzkammer gefüllt und ihm etliche Feinde beschert. Selbst seine eigenen Fürsten beneideten ihn, denn neben diesem König wurde der Ruhm selbst des tapfersten Kriegers zu Asche. In dieser fernen Zeit fuhren selbst die Herrscher in Booten aus Lederhäuten, so wie es heute noch unsere Fischer tun. Eines Sommers wurden Osaberg und seine Männer auf einer Kriegsfahrt von übermächtigen Feinden gestellt. Es heißt, seine eigenen Fürsten hätten ihren Herrscher verraten. Jedenfalls flohen sie in ihren Booten, noch bevor sie einen Schwertstreich taten. Osaberg und seine letzten Getreuen wurden umzingelt. Sie kämpften mit dem Mut der Verzweiflung, doch die Übermacht der Feinde war zu groß. Der König war der Letzte, der noch focht. Als er sah, dass seine Niederlage unabwendbar war, zerschnitt er mit dem Schwert die lederne Bootshaut und versank in seiner schweren Bronzerüstung im Fjord. Zuletzt rief er seinen Feinden noch zu, er werde wiederkehren, um aus ihren Knochen einen Thron am Grund des Fjords zu errichten. Zwei Tage später sanken die meisten Schiffe der Verräter und der siegreichen Feinde in einem plötzlichen Sturm. Seit jener Zeit, heißt es, wandert König Osaberg rastlos auf dem Grund der Fjorde umher. Und manchmal steigt er aus dem Wasser, um im Zweikampf den Mut der Tapferen zu erproben oder um Schrecken und Tod unter die Feinde des Fjordlands zu tragen.«

»Vielleicht solltest du deinem Sohn nicht gestatten, nach diesem dunklen Herrscher zu rufen. Hast du keine Angst, dass er ihn erhören könnte?«

Alfadas lachte leise. »Wir sind hier nicht in Albenmark, mein Freund. Es ist nur eine Geschichte. Der König lebt allein in der Vorstellung von Knaben wie Ulric und von ein paar alten Narren. Es gibt solche Geschöpfe nicht in meiner Welt.«

»Und der Manneber?«, wandte Ollowain ein. Er sah das aufgewühlte Wasser des Fjords jetzt mit anderen Augen. Lauerte dort in der Tiefe der Geist eines uralten Kriegerkönigs? »Und was ist mit den Trollen? Einige ihrer Burgen sind kaum dreihundert Meilen von hier entfernt. Ganz zu schweigen von den Verstoßenen aus Albenmark, die sich in deine Welt gerettet haben. Es mag ja sein, dass es diesen König Osaberg nicht gibt. Aber vielleicht lauert ja etwas anderes am Grund des Fjordes.«

»Nein, mein Freund. Mein Schwiegervater ist Fischer. Und sein Vater war es auch. Die Tradition reicht viele Generationen zurück. Sie wissen um alles, was im Fjord lebt. Dort gibt es keinen König. Es ist nur eine Geschichte, mit der man die Kinder erschreckt und sie davon abhält, zu nahe ans Wasser zu gehen.«

Ollowain betrachtete den Jungen. Er war kräftig. Sein blondes Haar hing ihm in langen Strähnen in den Nacken. Auf den rutschigen Felsen hielt er ohne Mühe das Gleichgewicht. Er würde gewiss ein guter Schwertkämpfer werden, wenn Alfadas die Zeit fand, ihn angemessen zu unterrichten. »Dein Sohn scheint sich von dieser Geschichte nicht sonderlich schrecken zu lassen.«

Die Augen des Jarls leuchteten vor Stolz. »Er ist in der Tat sehr mutig. Er wird ein besserer Anführer sein als ich, denn er weiß, wohin sein Herz gehört.«

Wehmütig dachte Ollowain, dass er nie ein Kind gehabt hatte. Er hatte nicht einmal eine Frau auf Dauer an sich binden können. Immer hatte es etwas in seinem Leben gegeben, das ihm dringender erschienen war. Seit Jahrhunderten hatte er sich ganz dem Dienste an Emerelle verschrieben. Und er war zutiefst davon überzeugt, den richtigen Weg gewählt zu haben, so befremdlich ihm einige Entscheidungen der Königin auch erscheinen mochten. Sie blickte Jahrhunderte voraus. Niemand konnte verstehen, was sie bewegte. Sie führte verborgene Kämpfe, um die Albenkinder zu schützen. List, Intrige und Einschüchterung waren oft genug ihre Waffen, und sie halfen, Kriege zu vermeiden. Ollowain wusste, dass Emerelle nur das Beste für Albenmark wollte. Auch jetzt ... Und doch, wenn er an den Untergang Vahan Calyds dachte, quälten ihn Zweifel. Wie viel hatte die Herrscherin gewusst? Welcher Schrecken in der Zukunft rechtfertigte ein solches Opfer? Er würde es nur erfahren, wenn er ihr weiterhin treu diente. Er musste sie retten und die Geduld haben abzuwarten, was die Zukunft brachte. Für den Augenblick jedoch konnte er nichts tun, als darauf zu hoffen, dass Emerelle bald aus ihrem magischen Schlaf erwachte. Oder ... Nein, im Gegenteil! Er hatte die Muße, sich mit anderem zu beschäftigen, solange Emerelle ruhte und nicht bedroht war. Allein könnte er gegen die Trolle in Albenmark nichts ausrichten! Nur die Königin hatte die Autorität, alle Albenkinder zum Krieg zu rufen. Niemand anderem würden die Völker folgen.

Ollowain blickte zu Alfadas und dessen Sohn. So frisch waren die Erinnerungen an die Schwertkampfstunden des Jarls. Es hatte ihm Freude bereitet, den Jungen zu formen, sein Talent wachsen zu sehen. Er lächelte verhalten und nickte dann leicht.

»Es wäre mir eine Ehre, wenn ich Ulric einige Schwertkampflektionen erteilen dürfte. Selbst wenn dein Vater das Schwert als unmännliche Waffe verachtete, war er sehr begabt im Umgang damit. Und mir scheint es, dass auch in deinem Sohn dieses Erbe weiterlebt.«

»Welchen besseren Lehrer könnte Ulric jemals haben? Er wird begeistert sein, wenn ich ihm das sage. Er hält große Stücke auf dich, Ollowain. Ich habe oft von dir erzählt.«

Blut, der ziellos über die Felsnase gestreift war, begann plötzlich laut zu bellen. Er kläffte etwas an, das in einer Spalte verborgen war. Ulric rannte zu dem großen Hund hinüber und winkte dann seinem Vater. »Hier ist etwas ... Ein toter Hase. Er sieht seltsam aus.«

Ollowain folgte seinem Freund auf die Felsen hinaus. Inzwischen hatte sich Ulric flach auf den Boden gepresst und stocherte mit seinem Schwert in der Spalte herum. Tief zwischen den Felsen lag ein toter Hase. Er war zusammengeschrumpelt wie eine Dörrpflaume. Sein Fell wies keine Wunden auf.

»Was ist mit dem Hasen passiert, Vater?«

»Das ist nichts Besonderes«, sagte Alfadas leichthin. »Er muss dort hinabgestürzt sein, und dann ist er nicht mehr aus der Spalte herausgekommen. Die Hitze der letzten Tage hat ihn ausgetrocknet. Dort unten kommen Raben und andere Aasfresser nicht an ihn heran. Deshalb hat er sich so gut erhalten.« Der Jarl nahm das Holzschwert seines Sohns, legte sich flach auf den Fels und schaffte es mit ausgestrecktem Arm, den Kadaver herumzudrehen.

Verwundert bemerkte Ollowain, dass keinerlei Maden auf dem Tier zu sehen waren.

»Fühlst du, wie warm die Steine noch sind?«, fragte Alfadas seinen Sohn.

Ulric presste die flache Hand auf den Felsboden und nickte.

»Die Hitze der Mittagsstunden hat sich noch gehalten. Dort unten liegt der Hase wie in einem Ofen. Er ist gänzlich ausgetrocknet und besteht nur noch aus Fell und Knochen.« Blut knurrte, so als würde ihm diese Erklärung nicht gefallen, und Kadlin, die Alfadas endlich losgelassen hatte, fing ebenfalls an zu knurren.

Der Jarl stupste die Kleine leicht an, schnitt eine Grimasse und knurrte zurück. Selbst Ulric machte jetzt bei dem Spiel mit und begann zu bellen. Verwundert sah Ollowain zu. Er würde die Menschen niemals begreifen. Der Elf fühlte sich fehl am Platz und zog sich zurück. Er wollte den anderen den Spaß nicht verderben. Er ging zum Ufer und sah wieder hinaus auf den Fjord. Das Boot, das er vor einer Weile gesehen hatte, war bis auf hundert Schritt herangekommen. Es handelte sich um ein einfaches, fast rundes Fischerboot mit einem Rumpf aus Tierhäuten.

Nur ein alter Mann war an Bord. Er winkte ihm und rief etwas, doch der böige Wind verschluckte einen Teil seiner Botschaft. »Alfadas ... Dorf.. Krieger!«

Die Chronik von Firnstayn

Im fünften Jahr, in welchem Alfadas Mandredson Jarl von Firnstayn war, kehrten die Elfen zurück. Sie suchten Zuflucht in seiner Halle, dort wo heute die Halle der Könige steht. Und niemand Geringeres als eine Königin begab sich in seinen Schutz. Die Herrin der Albenlande, schwer verwundet und von ihren Feinden vertrieben, besann sich auf ihren Ziehsohn. Doch als sie das Land der Fjorde erreichte, versank sie in einen tiefen Schlaf. Kein Rufen oder Schütteln, ja nicht einmal die Macht der Magie vermochte sie aufzuwecken.

Ihre letzten Worte aber richtete sie an Alfadas Mandredson, den kühnen Herzog des Königs. Und sie bat ihn um Hilfe im Krieg gegen die Thronräuber.

Nun waren die letzten Getreuen Emerelles gestrandet, und sie blieben viele Tage in Firnstayn und sannen in ihrer Verzweiflung, was zu tun sei. Die Kunde von diesen seltsamen Gästen verbreitete sich wie der Wind. Und es dauerte nicht lange, bis König Horsa Starkschild erfuhr, wer da vom Hartungskliff herabgestiegen war. Da beschloss der alte Recke, noch einmal sein Schlachtross Mjölnak zu satteln, und er ritt den weiten Weg bis Firnstayn. In seinem Gefolge brachte er die berühmtesten aller Heilkundigen mit. Horsa wusste, dass der König die Seele des Landes ist. Und ist der König krank, so muss es auch seinem Land übel ergehen. Mit seinem großen Herzen hatte er entschieden, Emerelle zu helfen, wo er nur konnte. Doch Edelmut erzeugt stets auch Neid und Missgunst. Und wohl niemand ahnte in jenem Herbst, was für ein Unglück sich aus der Tat des Königs noch in selbigem Winter ergeben sollte.

Niedergeschrieben von Haddu Hjemwal

Band II der Tempelbibliothek zu Firnstayn, s.15

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