Unter dem Stacheltuch

Ein toter Lamassu trieb mit weit ausgebreiteten Flügeln an Ollowain vorbei. Die Strähnen seines geölten Bartes umspielten sein dunkles Antlitz wie tanzende Wasserschlangen. Die riesigen Schwingen und der Stierleib waren von wuchtigen Schlägen zerschmettert worden. Nur sein sonnengebräuntes Antlitz mit der klassischen Nase, den edel geschwungenen Brauen und den sinnlichen, vollen Lippen war unversehrt gewesen. Der Lamassu trieb inmitten des breiten, roten Lichtstreifens, der durch das Tor unter der Zisternendecke aufs Wasser fiel. Und er war nicht der einzige Tote, den man hier herabgeworfen hatte.

Ollowain schwamm zu der Anlegestelle und klammerte sich an einen der goldenen Ringe, die in die Mauer eingelassen waren, um daran Boote zu vertäuen. Es war totenstill. Nichts regte sich. Weder im Wasser noch auf der Treppe oder auf dem Weg hinauf zum roten Licht.

Lautlos glitt der Schwertmeister aus dem Zisternenbecken. Geduckt lief er zur Treppe hinüber. Der weiße Marmorboden war mit Blut verschmiert. Ollowain zog sein Schwert. Mit langen Sätzen eilte er dem Licht entgegen.

Auch hier führte eine geheime Tür von den Zisternen in einen prächtigen Saal. Ein schwarzer Fries mit Bäumen aus Perlmutt war der einzige Schmuck des Marmors. Die meisten der Öllampen auf der Treppe hinauf zur Stadt waren zertreten. Blut war an den Wänden und auf dem Boden. Das schwere goldene Tor war zerschlagen. Es sah aus, als habe ein zorniger Riese mit Fäusten darauf eingehämmert. Dahinter erstrahlte der Himmel in flackerndem Purpur.

Die Treppe führte hinaus in einen Wassergarten. Aus goldenen Fontänen wurden kristallene Blüten geboren. Im aufgewühlten Wasser eines der Becken lagen zwei Holde. Blut trieb in feinen rosa Schlieren hinab zum Abfluss des Beckens. Außer dem Plätschern des Wassers erklang kein Geräusch.

Misstrauisch sah Ollowain sich um. Was immer hier gewütet hatte, war weitergezogen. Den Hügel hinauf hörte er jetzt gellende Schreie. Er musste zurück! Seine Pflicht war, die Königin zu retten! Vahan Calyd war verloren. Ein Schwert konnte das Blatt nicht mehr wenden. Doch es mochte genügen, um Emerelle den Weg aus dem Inferno zu erstreiten.

Ollowain schob die Waffe zurück in die Scheide. Dann eilte er hinab, um seinen Gefährten das Fackelsignal zu geben. Vom Wasserpark aus waren es nur noch wenige hundert Schritt bis zu den Mangroven. Sie hatten es fast geschafft! Die Kentauren zerrten das Boot aus der Zisterne und schleppten es hinaus in die Nacht. Wie zum Gruß erhob sich eine Allee silberner Säulen aus den Wasserbecken, als sie hinaus in die Nacht traten. Ein Schleier aus feinem Sprühwasser hüllte sie ein. Gondoran wies ihnen den Weg.

»Man muss wohl einen Pferdearsch haben, um auf die Idee zu kommen, mitten in der Nacht ein Boot spazieren zu tragen«, erklang eine kräftige Stimme. Schatten zerteilten die Silberschleier. Eine Keule schnellte vor und zerschmetterte Antafes die Vorderläufe. Der Kentaur brach in die Knie. Ollowain sah, wie der nasse Bootsrumpf den verbliebenen Pferdemännern entglitt. Orimedes duckte sich unter einem Keulenhieb und keilte aus. Seine Hufe trafen einen Trollkrieger mitten in die Brust.

Der Nachen schlitterte über die glatten Marmorplatten. Plötzlich neigte er sich nach vorne. Gondoran, der noch immer am langen Heckruder stand, stieß einen schrillen Schrei aus. Das Boot schlitterte eine Treppe, breit wie ein Hügelhang, hinab. Verzweifelt versuchte der Holde, den Statuen auszuweichen, die sich auf massigen Sockeln zwischen den Stufen erhoben. Die Schussfahrt führte den Nachen geradewegs auf das dunkle Wasser der Mangroven zu.

»Wachen, schwärmt aus!«, rief Ollowain und zog seine Klinge. Jetzt, da der unsichtbare Feind endlich ein Gesicht bekommen hatte, spürte er eine unbändige Wut. »Orimedes, du bringst das Boot in Sicherheit.« Der Schwertmeister hütete sich, den Namen der Königin in den Mund zu nehmen. »Yilvina, bewache die Verwundete.«

Mit einem Hechtsprung war Ollowain bei dem Troll, der Antafes niedergestreckt hatte. Ein Hieb durchtrennte das Bein des Hünen dicht unter dem Knie. Zu überrascht, um zu schreien, stürzte der Troll. Ollowain wich einem kraftlosen Angriff aus und stach seinem Gegner durch die Kehle. Orimedes hob die Keule des sterbenden Trollkriegers auf und stellte sich an die Seite des Schwertmeisters.

Von seinem schnellen Sieg offenbar eingeschüchtert, wichen die übrigen Trolle zurück. Einer von ihnen setzte ein Horn an die Lippen und gab ein langes, klagendes Signal. Die letzten Leibwachen der Königin hatten rechts und links von Ollowain Stellung bezogen. Mit gesenkten Schwertern warteten sie auf den nächsten Angriff der Trolle. Während Yilvina seinem Befehl gehorcht hatte, hielt sich Orimedes noch immer an der Seite des Schwertmeisters.

»Fürst, ich muss dich bitten zu gehen!« Ollowain blickte kurz über die Schulter. Der Nachen war in der Dunkelheit verschwunden. »Beschütze die Verwundeten. Ich tue nun, wofür ich seit Jahrhunderten geschult wurde.«

»Ich bin kein Feigling, der einfach fortläuft!«, begehrte der Kentaur auf.

»Jetzt zu fliehen, um vielleicht eines Tages zurückzukehren und diese Nacht zu rächen, erfordert mehr Mut, als hier zu bleiben und zu sterben.« Der Schwertmeister sah sich nervös um. Er verstand nicht, warum die Trolle sich zurückgezogen hatten. Zwischen den Wasserfontänen konnte er die Schatten von sieben der hünenhaften Kämpfer erkennen. Ein Signalhorn antwortete weiter oben in der Stadt. Bald würde Verstärkung kommen. Er blickte zu dem toten Troll. War er der Anführer der kleinen Gruppe gewesen?

»Es gibt nur wenige Fluchtwege aus Vahan Calyd, und unsere Feinde scheinen überall zu stehen. In dieser Nacht wird die Mehrzahl aller Fürsten Albenmarks sterben oder in Gefangenschaft geraten, Orimedes. Albenmark braucht Männer wie dich. Rette dich, du verdammter Dickschädel. Und rette die verwundete Königin. Sie ist unsere Hoffnung auf die Zukunft!«

Aus den Augenwinkeln sah Ollowain, wie sich die Wangenmuskeln des Kentauren spannten. Schließlich neigte der Pferdemann sein Haupt. »Es war mir eine Ehre, dich gekannt zu haben, Schwertmeister. Für einen Elfen ....« Seine Stimme stockte.

»Wenn du auch noch saufen und fluchen könntest, hättest du einen ganz guten Freund abgegeben.« Mit diesen Worten wandte sich Orimedes um und eilte die Treppe hinab, um Emerelle auf ihrem Nachen in Sicherheit zu bringen. Wenn sie aus den Mangrovensümpfen entkamen, würden sie sicher auch bis ins Herzland gelangen.

Ollowain blickte zu den Wachen. Unter ihnen war niemand, der in einer der Künste des Tötens Vollkommenheit erreicht hatte. Der Kampf würde kurz werden. Der Schwertmeister lächelte, um ihnen Mut zu machen. »Schlachten gewinnt, wer das Unerwartete wagt. Lasst uns tun, womit diese tumben Fleischberge am wenigsten rechnen. Greifen wir sie an!«

Ohne die Antwort seiner Gefährten abzuwarten, stürmte Ollowain unter den Fontänen hindurch. In diesem verzweifelten Augenblick fühlte er sich frei. Alle Last war von ihm genommen. Er hatte nur noch zu tun, was er am besten konnte. Er hätte nicht mit dem Kentauren tauschen mögen.

Die Trolle waren völlig überrascht. Ollowain sprang einen der Krieger mit den Beinen voran an. Mit einer Hand klammerte er sich am struppigen Barthaar seines Gegners fest, während er ihm mit der Rechten das Schwert in die Brust rammte. Behände wand er sich unter dem Griff seines Gegners, stieß sich mit aller Kraft von ihm ab, machte einen Salto rückwärts und landete federnd im Brunnenbecken.

»Mögen die Ratten ... dich fressen ... feiger Wicht!«, schrie ihn der sterbende Troll an. Sein Gegner presste beide Hände auf die Brust. Zwischen seinen Fingern quollen Ströme von dunklem Blut hervor.

Die Elfen hatten den Kampf aufgenommen. Schreiend stürmten die Trolle ihnen entgegen. Ollowain duckte sich unter einem wuchtigen Keulenhieb weg. Krachend schlug die Waffe gegen eine der Statuen und zerschmetterte ein Marmorbein. Der Schwertmeister duckte sich erneut, rollte zwischen den Beinen seines Gegners hindurch und traf ihn noch im Aufstehen mit einem Hieb in der Kniekehle.

Kreischend kippte der Troll zur Seite. Ein Schlag nach der Kehle ließ sein Geschrei in blutigem Gurgeln ersticken. Wasser schoss neben Ollowain in die Höhe. Ein Marmorkopf kullerte über den Beckengrund. Ein vollkommen geformtes Steinknie flog ihm entgegen. Mit einem tänzerischen Schritt wich der Schwertmeister aus. Einer der Trolle hatte mit seinem Kriegshammer eine Statue zertrümmert und bewarf ihn nun mit den Steinbrocken. »Bleib stehen und kämpfe wie ein Mann!«

Der Hüne hatte einen glatt rasierten Schädel. Seine tief liegenden Augen leuchteten bernsteinfarben. Er war mehr als anderthalbmal so groß wie Ollowain und wog gewiss viermal so viel.

»Du überraschst mich«, spottete der Schwertmeister. »Es heißt, ihr Trolle seid unüberwindliche Kämpfer, und du bewirfst mich mit Steinen wie ein wütendes Kind, das einem Eichhörnchen nachstellt.«

Der Hüne brach in schallendes Gelächter aus. »Vielleicht liegt es daran, dass du dich ebenso wenig zum Kampf stellst wie ein Eichhörnchen.«

Ein gellender Schrei ließ Ollowain herumfahren. Einer seiner Männer war getroffen worden. Dessen Gegner beugte sich zu dem sterbenden Elfen hinab und riss ihm den Schwertarm aus der Schulter. Eine Fontäne von Blut spritzte aus der grässlichen Wunde. Der Troll leckte sich mit einer langen, wurmartigen Zunge über das Gesicht und grunzte vor Genugtuung.

»Nun, Eichhörnchen, wie steht es mit uns?«, rief der Steinwerfer. »Komm her und stell dich zum Kampf.«

»Wenn ich richtig gezählt habe, habe ich schon zwei von deinesgleichen die Kehle durchtrennt. Glaubst du wirklich, du könntest mich besiegen?«

Der Troll hob den riesigen Kriegshammer auf, der neben ihm im Becken lag. »Bleib einen Augenblick lang still stehen, und ich zeige es dir.«

Ollowain musste schmunzeln. Der Kerl hatte Humor. Einen Troll wie ihn hatte er noch nie getroffen.

»Lass das Quatschen, Urk!«

Aus den Augenwinkeln sah Ollowain jenen Hünen heranstürmen, der seinen Gefährten getötet hatte. Er schwang den Arm des Elfen wie eine Keule.

Der Schwertmeister ließ sich auf die Knie fallen und beugte sich zurück. Bluttropfen sprenkelten sein Antlitz, als der Arm ihn um wenige Zoll verfehlte. Ollowain spannte sich, schnellte hoch und verpasste dem Troll einen kräftigen Tritt ins Gemächt.

Wie ein silberner Blitz fuhr die Klinge des Elfen hinauf Der Trollkrieger riss den Arm seines Opfers hoch. Der kalte Stahl durchtrennte Fleisch und Knochen. Mit einer Drehung des Handgelenks verwandelte Ollowain den Hieb in einen Stoß. Das Schwert fand seinen Weg zwischen den Rippen des Trolls. Ollowain stemmte sich vor und rammte die Waffe bis zum Heft in den Leib seines Gegners. Blut quoll ihm entgegen und spritzte ihm auf Brust und Gesicht. Der Troll wollte seine Keule heben, doch die Waffe entglitt den kraftlosen Fingern. Ollowains Schwert hatte ihn ins Herz getroffen.

Dicke Muskelstränge zuckten unter der dunkelgrauen Haut des Trolls; mit ihren hellen Einsprengseln sah sie aus wie lebendig gewordener Granit. Der Hüne kippte nach hinten. Ollowain nutzte das Gewicht des fallenden Körpers, um mit einer Drehung seine Klinge freizubekommen.

Ein Schlag traf den Elfen an der Schulter. Er wurde halb herumgerissen. Grelle Punkte tanzten vor seinen Augen. Das Schwert entglitt seinen tauben Fingern. Ollowain versuchte den sengenden Schmerz zu verbannen, als ihn ein zweiter Schlag von den Beinen riss. Ein Marmorfuß hatte ihn in den Bauch getroffen.

Urk setzte mit einem langen Schritt über ihn hinweg und kickte Ollowains Schwert außer Reichweite. »Na also, mein Eichhörnchen. Hab ich dich da, wo ich wollte. Du solltest doch nur einen Augenblick lang stillhalten!«

Der Schwertmeister rollte sich zur Seite, war aber nicht schnell genug, um einem Fußtritt zu entkommen. Er schlitterte durch das flache Wasser und schlug gegen den Sockel einer Statue. Bevor er sich aufraffen konnte, war Urk über ihm und setzte Ollowain seinen riesigen Fuß auf die Brust.

»Ich werde dich braten und essen, Elflein.« Die blasse Zunge des Trolls zuckte über seine dunklen Lippen. Geifer rann ihm aus den Mundwinkeln. »Du bist wirklich ein großer Krieger. Ich ...«

Der Druck des Fußes verstärkte sich und presste Ollowain die Luft aus dem Leib. Urk starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Eine zweite, stählerne Zunge ragte aus seinem Maul. Ein Pfeil!

Ein schlanker Fuß traf den Troll in die Kniekehle. Er knickte nach hinten ein und stürzte.

Ollowain sah alles verschwommen. Sein ganzer Leib schien nur noch Schmerz zu sein. Ein Gesicht beugte sich vor.

»Wir sind zu spät«, sagte er mit tonloser Stimme.

»Nein!« Das Gesicht lächelte.

Ollowain blinzelte. Silwyna stand über ihn gebeugt.

»Kannst du gehen? Wir sind ein wenig in Eile.« Die Maurawani streckte ihm ihre Hand entgegen und half ihm auf.

Ollowain hatte das Gefühl, auf Stelzen zu stehen. Seine Beine waren taub, so als gehörten sie gar nicht mehr zu ihm. Jeder Atemzug schmerzte. Seine Rippen schienen wie eiserne Fesseln um seine Lungen zu liegen. »Ich kann alleine stehen«, keuchte er.

Die Bogenschützin schlang sich seinen Arm um die Schultern.

»Natürlich. Ich würde vorschlagen, dass wir uns unterwegs weiter unterhalten.«

Ein junger Elfenkrieger reichte ihm sein Schwert. Ollowain zitterte zu sehr, um es aus eigener Kraft in die Scheide auf seinem Rücken schieben zu können. »Wo sind die anderen?«

»Tot.« Der Elf wich seinem Blick aus. »Wir ... Ich ...«

Ollowain schüttelte müde den Kopf »Sag nichts. Wer einen Kampf mit Trollen überlebt, ist ein tapferer Krieger.«

Dem jungen Elfen standen Tränen in den Augen. »Sie waren so ... Ich sah, wie Marwyn einen von ihnen niederstechen wollte. Sein Schwert ist einfach an den Rippen abgeglitten. Und dann ... Dann ... Der Troll hat ihm mit der bloßen Faust ...«

»Still!«, herrschte Silwyna den Krieger an. »Hör auf zu jammern. Sei froh, dass du noch lebst!« Sie trug Ollowain mehr, als dass sie ihn stützte. So schnell es ihre Last zuließ, eilte sie die Treppen hinab.

»Was machst du hier?« Ollowain brachte kaum mehr als ein Flüstern zu Stande. Jede Bewegung, selbst zu reden, schmerzte.

»Ich dachte mir, du bist der Schwertmeister der Königin, weil du ein besonderes Talent hast, Situationen zu überleben, in denen jeder andere sterben würde. Deshalb bin ich dir gefolgt.«

»Aber wie hast du ...«

»Dich erkannt?« Sie lachte. »Wenn ich blind wäre, würde ich als Jägerin verhungern. Ich sah, wie du mit dem Gardisten unter Deck gegangen bist. Und ich sah jemanden heraufkommen, der zwar Ollowains Gewänder trug, sich aber nicht bewegte wie der Schwertmeister. Andere hast du mit diesem Mummenschanz vielleicht getäuscht. Aber als dann ein einfacher Gardist die Kentauren zur Barke der Königin holte, war mir klar, was du vorhattest.«

Ollowain versuchte den Schmerz aus seinen Gedanken zu verbannen. Er konnte schon wieder freier atmen. »Du bist uns also in die Zisternen gefolgt.«

»Nasses Kentaurenfell hat einen unverwechselbaren Geruch. Ich brauche keine herkömmliche Fährte, um meiner Beute zu folgen. Eine Duftspur ist genauso gut.«

Sie hatten einen kleinen Bootssteg am Fuß der Treppe erreicht. Silwyna deutete auf frische Schrammen im Holz. »Dieser Holde hat es tatsächlich geschafft, das Boot auf Kurs zu halten.« Sie bückte sich und hob einen feinen Holzsplitter auf. »Hoffentlich hält der Rumpf noch dicht.«

Vor ihnen erstreckte sich eine dunkle Wasserlandschaft. Glatte schwarze Flächen, durchzogen von niedrigen Inseln. Auf den meisten Inseln wuchsen Bäume, aus deren Geäst geisterhafte weiße Barte hingen. Wurzeln stachen senkrecht wie die Speere von Fallgruben aus dem Schlamm. Nebelbänke hingen dicht über dem Wasser. Hier gab es keine Lichter mehr. Hinter ihnen erklang der Ruf eines Horns.

»Sie haben die Toten gefunden. Wir sollten uns jetzt beeilen.« Silwyna deutete auf das Ende der Schrammenspur auf dem Steg. »Hier haben die Kentauren das Boot zu Wasser gelassen.« Sie hob den Kopf, witternd wie ein Spürhund. »Ihr Vorsprung ist noch nicht sehr groß. Wir werden sie einholen.«

Ollowain brauchte ihre Hilfe. Sie ließ ihn vom Steg herab, sodass er sich an einen der Pfähle klammern konnte. Das Holz war weich, zerfressen von Wasser und Zeit. Es roch vermodert. Das Wasser selbst war lauwarm und fühlte sich träge an. Nicht wie in den Zisternen oder in einem Quellbach. Es hatte etwas Anschmiegsames und zugleich Schleimiges. Es war dichter, als Wasser sein sollte. Fauliger Geruch trieb mit dem Nebel. Ollowains Füße versanken in Schlamm.

Zwischen den Pfählen des Landungsstegs trieben Leichen. Die Gesichter zeichneten sich als blasse Flecken im dunklen Wasser ab.

Silwyna und der überlebende Gardist ließen sich am Steg hinabgleiten. Die beiden griffen ihm unter die Arme. Ollowain starrte den jungen Mann an. Er kannte sein Gesicht, konnte sich aber nicht mehr an seinen Namen erinnern. Er sollte die Namen seiner Männer kennen! Zumindest das war er ihnen schuldig.

»Wir werden versuchen zu schwimmen, so gut es geht«, flüsterte Silwyna. »Im Schlamm zu waten ist zu laut und zu anstrengend.«

Ollowain ließ sich von den beiden ziehen. Das warme Wasser entspannte seine schmerzenden Glieder. Langsam fühlte er sich besser. Der Mond war hinter dem Horizont verschwunden. Nicht mehr lange, und es würde dämmern. Es war die beste Zeit für eine Flucht durch die Mangroven. Der Atem der ersterbenden Nacht brachte Nebel.

Nach einer Weile schwamm der Schwertmeister aus eigener Kraft. Er hatte Glück gehabt. Ein paar üble Prellungen, sonst hatte er nicht viel abbekommen. Er schuldete Silwyna sein Leben. Einen Herzschlag noch, und Urk hätte ihn mit seinem riesigen Steinhammer zerschmettert.

»Sie sind ganz in der Nähe. Hörst du das?«, fragte die Bogenschützin.

Ollowain lauschte in den Nebel. Da war ein schmatzendes Geräusch.

»Das sind die Kentauren«, flüsterte Silwyna. »Sie müssen in seichtes Wasser geraten sein. Dort entlang.« Sie deutete auf eine dichte Nebelbank und schwamm voraus. Bald war sie zwischen den treibenden Dunstschleiern verschwunden. Allein das leise Schmatzen wies Ollowain den Weg. Und dann sah er sie. Er war ihnen so nahe gekommen, dass er den hintersten der Kentauren fast berührt hätte. Das Boot war nur ein undeutlicher Schemen. »Orimedes?«

Sofort verstummte jedes Geräusch.

»Ich bin es, Fürst. Ollowain.«

»Das ist sein Geist«, hörte er Gondoran flüstern.

»Unsinn!« Ein Schatten löste sich vom Boot und bewegte sich mit schmatzenden Schritten in Ollowains Richtung. »Schwertmeister?« Der Kentaur packte ihn bei den Schultern und hob ihn hoch. Ein blitzendes Lächeln zerteilte den Bart des Pferdemanns. »Verdammt gut, dich wieder zu sehen.«

Ollowain brachte keinen Ton heraus. Stechender Schmerz brannte in seinen Gliedern. Tränen traten ihm in die Augen.

Orimedes setzte ihn ab. »Das hätte ich nicht gedacht, dass dich die Wiedersehensfreude zu Tränen rühren könnte. Ihr Elfen versteckt eure Gefühle zu gut, mein Freund.« Er klopfte Ollowain auf die Schulter. »Den Alben sei Dank, dass du es geschafft hast!«

»Ich bin nicht allein«, stieß der Schwertmeister gepresst hervor. »Eine Bogenschützin hat mir das Leben gerettet. Und einer meiner Männer hat es auch geschafft.«

Gemeinsam wateten sie zum Nachen. »Wie geht es der Königin?«, wollte Ollowain wissen.

Der Kentaur zuckte mit den Schultern. »Unverändert. Sie regt sich nicht. Auch die Verräterin liegt ganz still.« Hinter ihnen erklang der lang gezogene Ruf eines Hornes.

Orimedes senkte die Stimme. »Sie sind auch hier in den Sümpfen. Mistkerle. Wenn der Nebel nicht wäre, hätten sie uns schon längst aufgespürt.« Er runzelte die Stirn. »Es ist ein Wunder, dass ihr uns gefunden habt.« Ollowain nickte. »Ja, das war Glück.« Er wollte so wenig wie möglich über Silwyna sprechen. Die Maurawan hatten keinen guten Ruf.

»Wir müssen uns beeilen«, drängte Gondoran. »Schön, dass du da bist, Schwertmeister, aber das Willkommensfest sollten wir später feiern. Das Wasser fällt. Die Ebbe hat eingesetzt, und wir müssen sehen, dass wir aus den Kanälen der Mangroven hinaus ins Waldmeer gelangen. Erst dort werden wir vor den verfluchten Trollen in Sicherheit sein.«

»Und wenn sie nicht nur hier in den Baumsümpfen sind? Was ist, wenn sie es waren, die uns auch von See her angegriffen haben?«

Der Holde stieß ein kurzes, keckerndes Lachen aus. »Trolle auf Schiffen? Wer hätte davon je gehört! Das ist Unsinn. Im Waldmeer wird man uns nicht suchen. Alle Trolle haben Angst vor dem Wasser. Sobald es so tief ist, dass es ihnen bis zur Brust reicht, machen die sich in die Hosen und trauen sich nicht mehr weiter. Deshalb müssen wir zum Meer.«

»Aber was ist mit denen, die uns von See her beschossen haben?«, wandte Ollowain ein. »Irgendjemand ist da draußen, der keine Angst vor dem Meer hat.«

Gondoran machte eine Geste, als wolle er eine lästige Fliege verscheuchen. »Alles Schnickschnack! Wer weiß, dass wir ...« Er blickte misstrauisch zu Silwyna. »Wer weiß, dass wir hier mit Verwundeten flüchten? Bis die Trolle ihre Verbündeten auf See benachrichtigen können, sind wir über alle Berge. Ihnen steht eine brennende Stadt im Weg, wenn sie zum Hafen wollen. Wir werden entkommen!«

Wie um die Worte des Holden Lügen zu strafen, erklang ein Signalhorn. Es war bedenklich nahe. Die Trolle waren in den Mangroven. Die Jagd hatte gerade erst begonnen.

Schweigend kämpften sich die Gefährten durch den Schlick. Gondoran gab sich alle Mühe, den Nachen in den etwas tieferen Kanälen zwischen den Inseln zu halten. Herabhängende Äste zerzausten ihnen das Haar und schrammten über ihre Gesichter. Außer dem Geräusch ihrer Bewegungen war es still. Kein Tier regte sich. Alles, was lebte, hielt sich verborgen vor einer unsichtbaren Bedrohung.

Plötzlich entdeckte Ollowain ein gutes Stück voraus das blasse Licht einer Fackel. Ein paar Herzschläge lang tanzte es zwischen den Dunstschwaden wie ein fernes Irrlicht, dann war es wieder verschwunden.

Ollowain spürte jetzt deutlicher den Sog der Gezeitenströmung. Das Waldmeer konnte nicht mehr weit sein. Der Wasserstand fiel beunruhigend schnell. Immer schmaler wurde der gewundene Kanal, dem sie mit dem Nachen folgten. Bald würden sie im Schlick festsitzen.

Zu ihrer Linken, dort, wo irgendwo das Meer sein musste, erklang ein Horn. Der Nebel dämpfte den klagenden Laut. So war es unmöglich zu sagen, wie weit ihre Verfolger noch entfernt sein mochten.

»Sie kreisen uns ein«, flüsterte Silwyna. »Nicht mehr lange, und sie haben uns.« Ollowain starrte in die Finsternis. War da ein erster Streifen zarten Lichts am Horizont? Noch lag der Nebel alles erstickend über den Mangroven, wie ein riesiges Leichentuch, ausgebreitet über eine sterbende Welt. Der Gestank faulender Pflanzen war hier allgegenwärtig. Selbst das brackige Wasser war wie tot. Träge Wellen begleiteten lautlos ihre Bewegungen. Obwohl der Schwertmeister ihn hasste, war der Nebel ihr Verbündeter. Doch der beginnende Tag würde ihn schnell vertreiben.

»Woher wissen die Trolle, wo wir sind?«, fragte er die Maurawani.

»Sie wissen es nicht. Sie sind Jäger. Es ist ihr Instinkt, der sie führt. Sie werden uns stellen, noch bevor die Sonne aufgeht. Sie haben Jagdgruppen in den Mangroven zurückgelassen, um Flüchtlinge abzufangen. Nun werden sie zusammengerufen. Warst du einmal bei einer Treibjagd, wo Hunde und Kobolde das Wild aufschrecken, um es den eigentlichen Jägern entgegenzutreiben? Sie warten mit ihren Saufedern und Bogen dort, wohin die Tiere fliehen. Das ist unsere Lage, Schwertmeister.«

»Und wie können wir entkommen?

»Das willst du nicht wissen.«

»Wie?« beharrte Ollowain.

»Wir überlassen Emerelle ihrem Schicksal und versuchen, jeder auf sich gestellt, zu fliehen. Ich würde durchkommen«, sagte sie selbstsicher. »Du vielleicht auch, Schwertmeister. Die Kentauren würden zu viel Lärm machen. Den Holden gelingt es vielleicht, sich zwischen irgendwelchen Wurzeln zu verstecken. Dort werden die Trolle nicht suchen.« Sie blickte zu Lyndwyn, die zusammengesunken neben dem Mast lag. »Sie würde sterben. Selbst wenn sie rechtzeitig wieder zu Bewusstsein kommt. Sie vermag nicht eins mit dem Land zu werden. Diese Magierin zu finden ist keine Kunst, und was deine Schülerin ...«

»Mich zu finden wird auch keine Kunst sein«, unterbrach Ollowain sie scharf. »Ich werde dort sein, wo die Königin ist.«

»Du wirst sie nicht aufhalten können, Schwertmeister. Welchen Sinn macht es, für eine aussichtslose Sache zu sterben? Glaubst du, dies ist dein Weg ins Mondlicht?«

»Dies ist der Weg, den mir meine Ehre gebietet.«

»Gut gesprochen!«, mischte sich der Kentaurenfürst ein. »Jag sie davon, diese kaltherzige Schlange.«

»Ehre?« Silwyna lächelte ironisch. »Man merkt, dass du der Lehrmeister des Menschensohns warst. Alfadas sprach wie du.« Ollowain glaubte einen Hauch von Wehmut in ihrer Stimme zu hören. »Du bist ein Romantiker, Schwertmeister. Männer wie dich findet man nur noch selten unter den Alten. Romantiker sind stets die Ersten, die sterben.« Sie nahm den Köcher von der Schulter und schlug die Schutzkappe zurück. »Meine Treue zur Königin währt so lange, bis dieser Vorrat an Pfeilen erschöpft ist.«

Sie verschloss den Köcher wieder und löste den Bogen, den sie seitlich daran festgebunden hatte. »Ich kämpfe am besten für mich allein. Ich werde mir einen trockenen Platz suchen und eine Sehne aufziehen. Wenn nicht zu viele Trolle kommen, sehen wir uns vielleicht noch einmal wieder.«

Die Jägerin hob Köcher und Bogen hoch über ihren Kopf. Das Wasser reichte ihr bis zur Brust. Ohne sich noch einmal umzusehen, watete sie davon. Einige Herzschläge lang war sie noch als vager Schemen im Dunst zu erkennen, dann war sie verschwunden.

»Was für ein Miststück war das denn?«, fragte Orimedes empört.

»Eine Fremde«, sagte Ollowain nachdenklich. Warum hatte Silwyna ihn in den Köcher blicken lassen? War ihr nicht klar, dass er den Pfeil im Mast gesehen hatte? Oder war es vielleicht sogar eine Drohung? Sechs Pfeile steckten noch in ihrem Köcher. Und zwei davon hatten eine schwarz-weiß gestreifte Befiederung, so wie der Pfeil, den man auf Emerelle abgeschossen hatte. Es waren Würgeulenfedern. Angeblich ließen sie die Pfeile lautlos fliegen. Geschosse, geschaffen für Meuchler. Und für Jäger? Beklommen blickte er in die Richtung, in der Silwyna verschwunden war.

Fahles Morgenlicht dünnte den Nebel aus. Drei Lichtflecke bewegten sich vor ihnen. Es schien, als kämen sie den Kanal hinauf, dem die Gefährten mit ihrem Nachen folgten.

Auf ein Zeichen Gondorans hielten die beiden Holden, die das Boot mit langen Stangen vorangestakt hatten, inne. Die Lichter waren wieder im Nebel verschwunden. Doch es konnte keinen Zweifel daran geben, dass sie sich in ihre Richtung bewegt hatten.

»Wohin ist die Jägerin gegangen?«, fragte der Bootsmeister.

»Sie hält uns den Rücken frei.« Ollowain sah sich nach einer Bucht, einem Seitenkanal oder einem Dickicht aus Wurzeln um. Irgendetwas, das geeignet sein mochte, um den Nachen zu verstecken.

»Unsinn!«, murrte Gondoran. »Von ein paar Pfeilen werden sie sich nicht aufhalten lassen. Was ist dein Plan, Schwertmeister? Wie entkommen wir ihnen?« Der Holde sah ihn erwartungsvoll an. Alle blickten sie zu ihm! Er konnte doch keine Wunder vollbringen.

Wieder erklang das Horn, das ihnen seit der Flucht aus dem Wassergarten gefolgt war. Diesmal waren es drei kurze, atemlose Rufe. Ihre Jäger hatten sie gefunden, wie es schien.

»Dein Plan!«, drängte Gondoran.

»Ich entlasse euch aus den Diensten der Königin, Gondoran. Du und deine Männer, ihr kennt euch in den Mangroven aus. Ihr habt gute Aussichten zu entkommen.«

Nun erschollen rings herum Jagdhörner. Die Schlinge zog sich zu. Ollowain lockerte sein Schwert in der Scheide. Er war bereit!

»Du willst uns jetzt einfach fortschicken? So wie Feiglinge?«, fragte Gondoran empört. »Glaubst du, wir hätten Angst vor dem Tod? Meinst du, wir laufen jetzt fort, um uns in den Löchern von Sumpfratten zu verkriechen und darauf zu hoffen, dass die Trolle weiterziehen? In meinem Volk gelten wir drei als Krieger, Schwertmeister. Wir können alle Trolle töten, wenn wir es nur wollen!«

»Alle, jawohl!«, stimmte einer der anderen Holden zu. »Wir ersticken sie unter dem Stacheltuch!«

Orimedes lachte. »Auf jeden Fall habt ihr das Herz am rechten Fleck, Jungs.«

»Ich mache keine Scherze!«, entgegnete Gondoran feierlich. Er legte den Kopf in den Nacken und blickte hinauf zum dicht miteinander verwobenen Geäst der Baumkronen. »Hast du den Mut, deine Königin mit deinem Leib zu schützen statt mit deinem Schwert, Ollowain?«

»Was hast du vor?«

Gondoran deutete auf eine dicke Wucherung in einer Astgabel über ihnen. Im fahlen Licht sah es aus, als sei das Holz von einer Eiterbeule aufgebläht. Erst auf den zweiten Blick erkannte er, dass es ein Nest war. »Gärtnerbienen«, sagte der Holde leise, so als habe er Angst, das Bienenvolk im Nest über ihren Köpfen könnte sie belauschen. »Sie hegen die Blumen in den Mangroven. Jedes Bienenvolk hat einen eigenen Garten. Und sie vertreiben alle, die ihm zu nahe kommen.«

»Hu, da läuft es einem ja eiskalt den Rücken herunter. Und du Narr glaubst, sie würden die Trolle vertreiben«, spottete der Kentaurenfürst. Orimedes zog sein Schwert. »Das hier brauchen wir. Blanken Stahl, sonst nichts.«

»Du hast noch nie ein zorniges Bienenvolk erlebt, Pferdemann, sonst würdest du nicht so leichtfertig daherreden. Die Gärtnerbienen werden die Trolle nicht vertreiben, sie werden sie töten. Und uns werden sie auch umbringen, wenn wir sie erst einmal gerufen haben. Nur wer es schafft, seinen Mund nicht zu öffnen, wenn sie kommen, wird vielleicht überleben.«

»Was sollte daran so schwer sein?«, fragte Yilvina verunsichert.

»Du wirst es erleben! Nichts hier in den Mangroven ist so tödlich wie die Gärtnerbienen. Nicht die grüne Baumviper und auch nicht die großen Meereskaimane, die manchmal mit der Flut in die Sümpfe kommen. Sie fallen zu tausenden über jeden Eindringling her. Deshalb gibt es hier keine Vögel oder Affen. Nichts. Nicht einmal mehr Wasserratten. Sie alle sind tot oder geflohen. Und wir Fischer wagen uns nur noch nachts hinaus in die Mangroven, solange die Bienenvölker schlafen. Wenn wir drei oder vier der Nester zerstören, dann werden sich alle Bienen erheben. Und dann beginnt das Sterben.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, wie ein paar Bienen einen Troll töten sollen«, sagte Orimedes. »Das sind doch Holdenmärchen.« Wieder tauchten die drei Lichter im Nebel auf. Sie waren ein gutes Stück näher gekommen. Ein paar Augenblicke noch, und die Trolle würden geradewegs in sie hineinlaufen.

»Wie können wir Emerelle beschützen?«, wollte Ollowain wissen. Er war nicht bereit, die Hoffnung aufzugeben, die Königin vielleicht doch noch zu retten.

»Indem du dich über sie legst. Am besten wird sie sich jedoch selbst beschützen. Ich sagte doch schon, man darf sich nicht rühren und auf gar keinen Fall den Mund öffnen. Dann wird man vielleicht überleben.«

»Ruf die Bienen, Gondoran.« Ollowain zog sich ins Boot. Hastig deckte er das Gesicht der Königin mit einem Tuch ab. Noch immer ruhte Lyndwyns Hand auf der Brust der Königin. Es war rührend, mit anzusehen, wie sie selbst ohnmächtig noch Emerelle beschützen wollte. Doch er sollte sich nichts vormachen! Sie tat das gewiss nicht aus Mitgefühl, sondern allein, um ihr eigenes Leben zu schützen.

Die Holden nahmen ihre Stirnbänder ab, und Gondoran holte ein kleines Ledersäckchen mit Kieselsteinen unter einer der Bänke hervor.

»Heho, wer da?« Die Trolle hatten sie entdeckt!

Der Bootsmeister legte einen Stein in sein Stirnband und ließ es über seinem Kopf kreisen. Mit dumpfem Knacken durchschlug sein Geschoss die Hülle des Bienennestes. Gondorans Kameraden zielten auf andere Nester. Das Wirbeln der Stirnbänder verursachte ein leises, zischendes Geräusch.

Ollowain hielt den Atem an. Aus dem beschädigten Nest quoll eine dunkle Masse. Dann war die Luft erfüllt von dumpfem Summen. Eine grauschwarze Wolke löste sich vom Bienennest.

Kaltblütig legten die Holden neue Steine in ihre Schleudern.

Der Schwertmeister kniete nieder und beugte sich schützend über die Königin.

Aus Richtung der Trolle erklang ein Schrei. Ollowain konnte sehen, wie die Bienen auf das Geräusch reagierten. Eben noch waren sie eine ziellos durch das Geäst tanzende Wolke. Jetzt zog sich der Schatten in die Länge und wurde im nächsten Augenblick wieder zu einem dichten Klumpen. Der ganze Schwarm flog den Trollen entgegen.

Erleichtert atmete Ollowain aus. Im Nebel vor ihnen erklang lautes Fluchen. Etwas platschte durch das Wasser. Zu sehen war jedoch nichts. Zwei weitere Bienenvölker erschienen über ihnen im Dickicht der Äste. Plötzlich war eine riesige Gestalt neben dem Nachen. Hilflos mit den Armen rudernd, stolperte sie dahin, stürzte und wälzte sich schreiend im brackigen Wasser. Ollowain erkannte den Troll an seiner Größe, doch der Körper des Hünen hatte alle Konturen verloren. Tausende von Bienen hatten sich auf ihm niedergelassen und verwandelten ihn in eine formlose, zuckende Masse. Die Luft war erfüllt vom Summen, laut wie das Donnern der Hufe bei einer Reiterattacke.

Ollowain versuchte wie versteinert zu stehen. Einzelne Bienen ließen sich auf ihm nieder. Die Gärtnerbienen waren ungewöhnlich groß. Fast so lang wie die oberen beiden Glieder seines kleinen Fingers. Ihre Bewegungen kitzelten unangenehm. Der Schwertmeister spürte, wie sich ein dicker Schweißtropfen auf seiner Stirn bildete. Jetzt waren auch überall auf Emerelles Decke Bienen. Gondoran starrte ihn vom Heck her an. Auf der Nasenspitze des Holden turnte eine große Biene, doch er schien sie kaum zu bemerken. In den Augen des Bootsmeisters lag ein stummes Flehen, sich nur nicht zu bewegen.

Der Troll hatte sich auf eine flache Bank aus schwarzem Schlick geschleppt. Er hielt beide Hände auf die Kehle gepresst, so als versuche er, den Würgegriff eines unsichtbaren Gegners zu überwinden.

Aus den Augenwinkeln sah Ollowain, wie einer der Kentauren von Bienen überfallen wurde. Wild mit dem Schwanz peitschend bäumte er sich auf. Orimedes eilte seinem Gefährten zu Hilfe, nur um ebenfalls unter der Stacheldecke zu verschwinden.

Ollowain biss die Zähne zusammen. Jetzt waren Bienen auf seinem Gesicht. Ihre kleinen Beine tasteten über seine verbrannte Haut. Sogar die Fackel am Schiffsmast griffen sie an. Zu Dutzenden verbrannten sich die Gärtnerbienen die Flügel. Die meisten prasselten auf Lyndwyn hinab, die noch immer beim Mast lag. Die Magierin blinzelte. Einen Moment schlug sie die Augen auf und sah zu Ollowain. Sie wirkte keineswegs wie jemand, der aus tiefem Schlaf erwachte und nicht wusste, was um ihn herum geschah. Sie lächelte fast kokett. Dann schloss sie die Augen wieder. Die Bienen, die sich auf ihr niedergelassen hatten, flogen auf, und keine kam ihr mehr nahe.

Der Schweißtropfen perlte von Ollowains Stirn. Sengender Schmerz durchbohrte sein Kinn. Eines der Mistviecher hatte ihn gestochen. Tränen schossen ihm in die Augen und rannen ihm über die Wangen. Der Tonfall, in dem die Bienen unmittelbar um ihn herum summten, änderte sich. Er wurde dunkler. Bedrohlicher!

Immer mehr Bienen ließen sich auf ihm nieder. Besonders auf seinem Gesicht. Seine Wangen prickelten. Er wurde wieder und wieder gestochen. In die Augenwinkel, in den Hals. Ollowain zitterte vor Anspannung. Das Summen klang lauter. Sie waren jetzt auch in den Ohren. Dann spürte er, wie sich eine Biene in seine Nase schob. Ihre Fühler tasteten über die feinen Härchen.

Kleine Beine krabbelten ihm über die Lippen. Die Bienen versuchten, sich in seinen Mund zu schieben. Denk an etwas anderes, befahl er sich. Er wollte sich an Nomja erinnern. Mehr als hundert Jahre waren vergangen, seit sie zur Wache der Königin gekommen war. Er hatte sie vom ersten Augenblick an geliebt. Und doch hatte er es nie gewagt, ihr seine Gefühle einzugestehen. Sie war lange tot, begraben in einer fremden Welt. Er wollte ihr Gesicht wieder erstehen lassen. Die feinen ebenmäßigen Züge ... Etwas krabbelte über sein Auge! Ollowain zuckte zusammen. Eine Biene stach ihm ins Augenlied. Nomja! Denk an sie ... Er wurde wahnsinnig. Er hielt das nicht länger aus. Die tausend tastenden Beine auf seinem Gesicht, überall auf seinem Körper. Er kniff die Augenlider zusammen und wurde sofort mit weiteren Stichen bestraft.

Gellende Schreie drangen durch das Summen. Das Sterben hatte begonnen. Hätten sie doch nie die Bienen gerufen! Er spürte sein linkes Augenlied zuschwellen. Das Gift der Bienen juckte und brannte. Sich zu kratzen wäre eine Erlösung. Oder ins Wasser zu stürzen.

Denk an Nomja! Welche Farbe hatten ihre Augen? Er versuchte sich ihr Gesicht vorzustellen. Ihr feines Haar. Die großen Augen. Große Facettenaugen. Er sah eine Biene! Mit pelzigem, graubraunem Leib. Die großen Augen musterten ihn ausdruckslos, während die Fühler aufgeregt zuckten.

Die Biene drängte immer tiefer in seine Nase. Und dann spürte er tastende Beine in seiner Kehle! Er schrie auf. Sofort waren sie in seinem Mund. Stacheln bohrten sich in seine Zunge. Etwas kroch über seinen Gaumen. Er zermalmte Bienen mit den Zähnen.

Schützend presste er die Hand auf den Mund. Seine Zunge schwoll an. Etwas stach ihn in die Kehle. Noch mehr Bienen waren in seine Nase gekommen. Warum taten sie das? Was trieb sie dazu, in seinen Körper einzudringen? Es war ihr Tod!

Ein bitterer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus. Noch immer krochen sie. Auf seinem Gesicht, den Annen, im Mund, überall. Ihm wurde schwindelig. Seine Lungen brannten. Er musste atmen. Waren sie in seinen Lungen? Unsinn! Das war unmöglich. Und doch war da etwas. Etwas drückte ihm die Kehle zu. Ruhig! Ollowain dachte an den Troll, der scheinbar mit einem unsichtbaren Gegner gerungen hatte. Machte das Bienengift ihn langsam wahnsinnig?

War da Rauch? Hatte das Feuer sie eingeholt? Der Schwertmeister wagte es nicht, die Augen zu öffnen. Er wollte nicht noch einmal fühlen, wie sie ihm über den Augapfel krochen. Dann würde er vollends wahnsinnig werden.

Waren es seine Lungen, die brannten? Ein Feuer tobte dort. Er riss den Mund auf. Sofort drängten die Bienen nach. Ollowain hechelte wie ein Hund und verschluckte dutzende Bienen. Er musste husten. Krampfhaft atmete er ein. Die Luft wollte nicht in seine Lungen strömen. Seine Hände fuhren zum Hals.

Seine Beine gaben nach. Er hatte den Mund weit aufgerissen. Das Summen wurde leiser. Er hatte das Gefühl zu fallen. Undeutlich sah er dunkle Äste über sich hinweggleiten. Das Feuer in seinen Lungen würde ihn töten. Er hatte keine Kraft mehr. Seine Arme und Beine zuckten, gehorchten ihm nicht mehr. Etwas kroch über sein Auge. Er sah eine einzelne Biene auffliegen. Er spürte nichts mehr. Aller Schmerz war verloschen.

Ein blasses Antlitz schob sich vor die Äste. Nomja! Nein.

Ihre Haare waren nicht schwarz gewesen. Lyndwyn. Keine Biene behelligte sie. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Etwas funkelte silbern. Sie hielt seinen Dolch!

»Du wirst sterben ...« Die Klinge fuhr hinab. Er konnte spüren, wie sie in seine Kehle schnitt. Dann verschwand das Antlitz der Magierin in gleißendem Licht.

Загрузка...