Zum Licht

Ulric rieb sich über die nackten Arme. Er fror erbärmlich. Gundar hatte nicht Recht behalten. Ihre Kleider waren nicht trocken geworden. Und das Feuer war verloschen. Sie saßen schon eine Ewigkeit in der Dunkelheit. Die Kälte hatte Ulric geweckt. Er hätte nicht einschlafen sollen! Aber er war so müde gewesen. Er hatte verschlafen und kein neues Holz auf die Glut gelegt. Er könnte heulen vor Wut. Aber es half nicht. Er hatte die Asche durchwühlt in der Hoffnung, wenigstens noch einen winzigen Funken zu finden. Vergebens. Er hätte nicht einschlafen dürfen!

Halgard machte ihm keine Vorwürfe. Sie sprach schon lange nicht mehr. Ihre Zähne klapperten. Ihre Hände fühlten sich eisig an.

Wenn wenigstens Blut zurückkehren würde! Ob er wohl noch lebte? Ulric lauschte in die Finsternis. Er betete, das leise Plätschern von Wellen zu hören. Aber es war totenstill.

Totenstill! Ulric musste an Halgards Worte denken. Sie lagen hier in einem Grab. Yilvina atmete nicht. Der Troll... Manchmal glaubte Ulric zu hören, wie er sich ganz leise bewegte. Der Kerl war heimtückisch! Vielleicht hatte er sich ja nur tot gestellt? Oder er war eine Weile ohnmächtig gewesen. Und jetzt wartete er darauf, sie anzugreifen.

Trolle waren heimtückisch, hinterhältig und unbegreiflich! Er dachte daran, wie ihn der Troll mit den Brandnarben auf dem Bauch in Honnigsvald gepackt und ihm seinen Dolch abgenommen hatte. Der Mistkerl hatte sich gar nicht dazu herabgelassen, richtig mit ihm zu kämpfen. Seinen Dolch hatte er einfach weggeworfen. Und dann hatte der Troll ihn zu dem Platz gebracht, wo alle geschrien hatten. Ulric wusste, was da getan wurde! Er hatte es gesehen.

Dort hätte auch er umgebracht werden sollen.

Doch dann war dieser andere Troll mit dem Steinhammer im Gürtel gekommen. Die beiden hatten geredet. Der Steinhammertroll hatte Ulric dann lange angesehen und ihm schließlich etwas in seiner Grenzsprache gesagt. Ulric hatte das natürlich nicht verstanden, aber er hatte begriffen, dass er gehen durfte. Halgard hatte er schnell wieder gefunden. Er war gut darin, Halgard wieder zu finden!

Sie war sehr erleichtert gewesen, als er zurückgekehrt war. Ganz wie in der Stadt, als er von Großvaters Schlitten gesprungen war. Er hatte Erek gesagt, er werde nach hinten zu Kalf und Mutter gehen. Da hatte er gelogen. Hoffentlich würde Großvater ihm das verzeihen.

Halgard war verloren gegangen, als die Schlitten losgefahren waren, ganz wie er es befürchtet hatte. Aber er hatte sie gleich gefunden. Sie hätten es sogar fast noch geschafft, den letzten Schlitten zu erreichen, hätten nur die Wachen das Stadttor nicht so schnell geschlossen ... Als dann Trolle nach Honnigsvald gekommen waren, hatten sie ihn und Halgard wie alle anderen zum Ufer des Fjords gebracht. Und dann hatten sie damit angefangen, einzelne Männer und Frauen zu holen. Ulric erinnerte sich an die Schreie. Das war schlimm gewesen. Daran sollte er nicht denken! Es machte ihm selbst jetzt noch Angst.

Er starrte in die Dunkelheit.

Wenn er nur ein klein wenig sehen könnte! Ulric hob die Hand und bewegte sie langsam auf sein Gesicht zu. Selbst als die Handfläche seine Nasenspitze berührte, konnte er sie nicht erkennen. Zu Hause war es nie so dunkel gewesen. Selbst wenn die dicke Wolldecke vor seiner Nische zugezogen war, kam immer noch ein leichter Lichtschimmer herein. Es war, als habe er keine Augen mehr im Kopf. Er stutzte. Konnte das sein? Vielleicht hatte der Troll ihm ja die Augen fortgehext?

Ulric tastete nach seinem Gesicht. Nein. Sie waren noch da.

»Hast du auch Angst?«, fragte Halgard.

Der Junge konnte ihre Worte kaum verstehen, so schwach war ihre Stimme.

»Nein!«, sagte er entschieden. Er war doch ihr Held! Er durfte keine Angst haben. Er hatte sie vor dem Troll beschützt. Und er war zurück nach Honnigsvald gegangen, um sie zu holen. Wenn es nur nicht so dunkel wäre ... Es war leichter, keine Angst zu haben, wenn man sehen konnte.

»Ob es draußen wohl Tag ist?«

»Ich weiß nicht.« Ulric kam sich so nutzlos vor. Er machte sich von dem Mädchen los. »Ich seh einmal nach Yilvina. Vielleicht kann ich etwas für sie tun.« Eigentlich hätte er nicht einmal aufstehen müssen, um die Elfe zu berühren. Aber Männer taten etwas. Sie saßen nicht nur herum!

Als er Yilvinas Leib anfasste, erschrak er. Sie war eiskalt! Die ganze Flucht über hatte sie immer warme Hände gehabt, Kälte hatte ihr nie etwas anhaben können. Das war bei Elfen wohl so. Sie froren einfach nicht. Er wünschte sich, auch ein Elf zu sein! Wenn sie jetzt kalt war ... Ulric schluckte. Dann war sie wohl auch tot. Wieder packte ihn die Angst. Hier in der Höhle starb man! Das war kein Ort für die Lebenden. »Wie geht es ihr?«, wollte Halgard wissen.

Er konnte ihr das nicht sagen. Es würde ihr sicher noch größere Angst machen als ihm. Sie war schließlich ein Mädchen. »Sie schläft tief und fest. Yilvina wird sicher wieder gesund.«

»Sie hat sich schlimm angefühlt...«

»Yilvina ist eine Elfe. Die bringt so was nicht um. Sie ...« Plötzlich konnte er die Tränen nicht mehr unterdrücken. Es war alles so schrecklich. Niemand würde sie hier in dieser Höhle finden! Halgard kroch zu ihm herüber. Ihre Hand strich sanft durch sein Haar. »Ist es hier ganz dunkel?«

»Ja«, schluchzte er mit halb erstickter Stimme.

»Vielleicht sollten wir ins Wasser gehen? Draußen war doch ein Windbruch, hast du gesagt. Da, wo ich mich mit den Haaren verfangen habe. Da finden wir sicher trockenes Holz. Und eine Erdhöhle, in die wir uns verkriechen und ein Feuer machen können. Yilvina hat irgendwo einen Feuerstein. Ich habe gehört, wie sie Funken daraus geschlagen hat. Den nehmen wir mit. Und ihr Messer.«

»Ich glaube, die Sachen sind in ihrer Jagdtasche.« Ulric tastete aufgeregt umher. Das war eine gute Idee! Hier im Dunklen würde es ihnen niemals mehr gelingen, ein Feuer anzuzünden. Man musste dabei sehen, was man tat!

Aber draußen ... Da würde es schon glücken.

Er fand die Tasche. Hastig durchfühlte er sie. Da waren ein kleiner Dolch, runde Holzdöschen, die sich angenehm glatt anfühlten, lederne Beutelchen, irgendwelche Kräuter, die zwischen seinen Fingern knisterten. Und endlich ertastete er auch den Feuerstein. »Ich hab die Sachen«, verkündete er stolz.

»Dann lass uns zum Wasser gehen. Aber du musst mich bei der Hand halten. Ich habe Angst, dass ich sonst verloren gehe.«

»Ich suche den Gürtel«, entgegnete der Junge eifrig.

»Den schnall ich mir um. Ich brauche meine Hände doch zum Schwimmen und um uns aus dem Eisloch zu ziehen. Mit dem Gürtel wird es gehen!« Die Vorstellung, hinaus zum Licht zu kommen, ließ ihn fast die Kälte vergessen. Nur dumm, dass Halgard auf die Idee gekommen war. Das hätte ihm auch einfallen können. Wäre es bestimmt auch, wenn er noch ein wenig nachgedacht hätte!

Ulric tastete auf dem Boden herum, bis er seinen Gürtel fand. Seine Finger waren so steif vor Kälte, dass er Schwierigkeiten hatte, den Dorn der Gürtelschnalle durch eines der Löcher zu stoßen.

Halgard war plötzlich neben ihm. »Du würdest nicht ohne mich gehen, nicht wahr?«

Was dachte sie von ihm! Er war doch ihr Ritter! Er hatte sie vor einem Ungeheuer gerettet, so wie sie es früher immer gespielt hatten. »Nein«, sagte er fest. »Wenn du so etwas noch einmal sagst, dann rede ich nicht mehr mit dir. Das ist gemein, so was von mir zu denken!«

»Ich wollte dich nicht kränken ...« Sie begann zu weinen. »Es ist nur ... Ich hatte dich plötzlich nicht mehr gehört. Es war, als seiest du fort.« Ulric bekam ein schlechtes Gewissen. Er konnte es nicht ertragen, wenn sie weinte. Er strich ihr über den Rücken. »Ich würde niemals irgendwohin ohne dich gehen. Niemals!« Er nahm ihre Hand und führte sie zu dem Gürtel.

»Halt dich jetzt gut fest. Lass mich nicht los, ganz gleich, was auch geschieht.« Vorsichtig tastete er sich durch die Dunkelheit. Ganz langsam setzte er einen Fuß vor den anderen, bis er das eisige Wasser erreichte. Es benetzte gerade eben einmal seine Zehen. Schaudernd blieb er stehen. »Wir atmen tief ein und dann laufen wir zusammen hinein, ja?«

»Ja!«, bekräftigte Halgard. »Ich zähle bis drei, dann tun wir es. Eins. Zwei.«

Ulric hatte das Gefühl, kleiner zu werden, so sehr zog sich alles in ihm zusammen, wenn er an das Wasser dachte.

»Drei!«

Er atmete tief ein. Halgard zog ihn. Sie begann früher zu laufen. Er war noch nicht bereit... Er schrie! Es fühlte sich an, als wolle das Wasser sein Fleisch zerschneiden. Es schüttelte ihn. Er rutschte auf dem glatten Fels aus, stürzte der Länge nach hin und zog Halgard mit sich. Fast hätte er unter Wasser noch einmal losgeschrien. Er stieß sich mit den Füßen ab. Seine Hände tasteten über glatten Fels. Endlich fand er den Durchgang. Graues Licht begrüßte ihn. Das gab neue Kraft. Er strebte dem Licht entgegen und stieß gegen das Eis. Verwirrt tastete er sich darunter entlang. Wo war die Stelle, an der sie durchgebrochen waren? Das Ausstiegsloch war verschwunden! Zugefroren!

Ulric nahm das kleine Messer und stach auf das Eis ein. Halgard neben ihm trommelte mit nackten Fäusten gegen das Verhängnis an. Sie begann zu bluten. Blassrosa Schlieren zogen unter der Eiskruste hinweg.

Seine Bewegungen wurden immer langsamer. Die Strömung packte sie beide und zog sie unter dem Eispanzer entlang. Deutlich konnte der Junge die Sonne am Himmel sehen. Es hatte etwas Tröstliches, nicht im Dunkeln zu sein.

Das Messer entglitt seinen tauben Fingern. Er fühlte sich müde. Noch einmal drückte er sein Gesicht gegen das Eis. Etwas griff nach ihm. Dunkle Arme umklammerten seine Füße. Astwerk, dachte er noch müde. Er blickte hinauf. Die Kälte spürte er jetzt nicht mehr. Es war angenehm, vom Wasser getragen zu werden. So schön war die Sonne! So fern! So fern ...

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