Das Zelt des Königs war hell erleuchtet. Der kalte Herbstwind riss an dem roten Stoff und ließ die Flammen der Fackeln tanzen. Es war mitten in der Nacht, und Alfadas schäumte vor Wut. Horsa hatte ihn aus den Armen Aslas gerissen und zu sich befohlen.
Der König, sein Hof und die gewaltige Eskorte, die ihn begleitete, lagerten außerhalb des Dorfes. Auch der Großteil des Heeres aus Honnigsvald musste die Nacht im Freien verbringen, da Fimstayn bei weitem nicht genügend Quartiere für so viele Gäste zu bieten hatte. Dutzende Lagerfeuer leuchteten entlang des Fjords. Alfadas konnte sich gut vorstellen, wie seine Männer, in ihre dünnen Decken gehüllt, darauf warteten, dass die Nacht endlich vorüber ging. Wie sie in die Glut ihrer Feuer starrten und sich ausmalten, was der morgige Tag wohl bringen würde.
Ein weiter Kreis von Wachen umgab das Zelt des Königs. Sie standen gerade weit genug entfernt, um nicht hören zu können, was drinnen besprochen wurde. Horsa hatte mehr als zweihundert Krieger mitgebracht. Für eine Eskorte waren das bei weitem zu viele. Der König hatte verkündet, er habe keine Mühen gescheut, um seine tapfersten Recken zu verabschieden, wenn sie nach Albenmark gingen. Und auch sein Skalde Veleif hatte viele schöne Worte gefunden, um die Männer einzulullen. Gerade die Bauern und Handwerker, jene Männer, denen die Ungerechtigkeit im Reich Horsas alles genommen hatte, waren von dieser Geste besonders gerührt gewesen. Eine Nacht lang durften sie sich bedeutend fühlen. Sie glaubten wirklich, der König sei nur um ihretwillen gekommen. Verdammter alter Fuchs, dachte Alfadas. Du verstehst dein Geschäft noch immer gut. Er hatte Ollowain mitgenommen, weil er fürchtete, allein sei er gegen die Schmeicheleien und Intrigen Horsas nicht gefeit.
Die Wachen winkten sie beide durch, ohne Fragen zu stellen. Horsa war allein in seinem Zelt. Er stand neben einer Pfanne mit glühenden Kohlen. Der König hielt seine Hände über die Glut, streckte sie und ballte sie zu Fäusten. »Ich hasse dieses nasskalte Herbstwetter. Alle Glieder tun mir weh in Nächten wie diesen.« Er wies sie mit einem Kopfnicken an, am Tisch Platz zu nehmen, der die Mitte des Zeltes beherrschte. Eine Platte mit Brot und kaltem Hühnerfleisch hatte Horsa kaum angerührt.
Gegenüber dem Eingang stand ein schweres Bett mit einem schön geschnitzten hölzernen Rahmen. Ein Berg von Pelzen türmte sich auf dem Lager.
»Warum hast du mich rufen lassen?«, fragte Alfadas kühl. Er wünschte die unwillkommene Unterredung so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.
»Ragni hat mir von der Ausbildung deiner Männer erzählt.« Horsas Tonfall war nicht zu entnehmen, ob dies ein Lob oder ein Tadel sein sollte.
»Sie werden sich gut schlagen«, entgegnete der Herzog.
»Ich könnte dir noch einige meiner Reiter mitgeben.« Was wollte der Alte? Alfadas stand nicht der Sinn nach solchen Spielchen. Doch musste er seine Ungeduld beherrschen! Allein schon wegen Asla und der Kinder.
»Wir würden die Pferde deiner Reiter nicht versorgen können«, mischte sich Ollowain ein. »Wir müssen über eine weite Eisebene marschieren. Die Tiere würden dort zu Grunde gehen.«
»Aber eine ganze Herde Schafe könnt ihr versorgen?« Der König ballte die Hände wieder zu Fäusten.
»Die werden wir essen«, sagte der Elf lächelnd. »Für sie müssen wir kein Futter mitnehmen.« Horsa nickte. »Wie ich sehe, wurde der Feldzug sorgfältig vorbereitet. Du wirst diesen Trollen sicher viel Ärger machen, Alfadas.« Der König rieb sich seine leere Augenhöhle und setzte sich dann zu ihnen an den Tisch. Horsas Atem stank nach saurem Wein.
Der König ignorierte Ollowain geflissentlich. Vielleicht, weil er Angst vor ihm hatte, dachte Alfadas. War Horsa wirklich so naiv zu glauben, dass der Schwertmeister nicht wusste, welche Intrige gesponnen wurde? Oder vertraute er darauf, dass es dem Elfen gleichgültig war, solange er Krieger für die kommenden Schlachten bekam?
»Ich gestehe, ich mache mir auch Sorgen«, fuhr Horsa fort.
»Wer soll sich um den Schutz Emerelles kümmern? Und wer soll sie versorgen? Es gibt keine Heilerin hier im Dorf, nur einen fetten alten Priester.«
»Deine Sorge um Emerelle ehrt dich, König«, entgegnete Ollowain glattzüngig. »Doch im Haus meines Freundes Alfadas genießt Emerelle alle Hilfe, die wir ihr zuteil werden lassen können. Ich sehe keinen Grund, die Königin den Strapazen einer langen Reise an deinen Hof auszusetzen.«
»Reden wir nicht weiter um den heißen Brei herum!«, polterte Horsa los. »Ich weiß, dass du mich hintergehen willst, Alfadas! Wäre ich nicht hier, du würdest vielleicht nicht einmal durch das Tor auf dem Hartungskliff ziehen. Du lauerst auf meinen Thron. Und dein Heer aus Habenichtsen und Verrätern wie Lambi ist dir völlig ergeben. Selbst wenn du morgen gehst, wer sagt mir, dass du nicht übermorgen schon zurückkehrst?«
Alfadas sah Horsa fassungslos an. Jetzt war der Alte wirklich wahnsinnig geworden! »Verzeih, aber es war doch deine Idee, ein Heer aufzustellen, in dem du die Unzufriedenen sammelst, und mich mit ihnen nach Albenmark zu schicken, um dort gegen die Trolle zu kämpfen.«
»Das war es nicht!«, grollte der König. »Du und deine Elfenfreunde, ihr habt meine Gutmütigkeit ausgenutzt und mich dazu verführt. Aber ich durchschaue euren Plan jetzt. Es gibt gar keinen Krieg mit den Trollen in Albenmark! Welchen Beweis hätte ich auch dafür, außer eurem Wort? Ihr habt gewusst, dass ich sofort meine Hilfe anbieten würde, wenn ich die Geschichte von der vertriebenen Elfenkönigin höre. Und so habt ihr mich dazu gebracht, dass ich dir das Heer verschafft habe, Alfadas, mit dem du meinem Sohn den Thron rauben willst.«
»So ist es nicht!«, beteuerte Alfadas verzweifelt. »Höre auf dein Herz, und du wirst wissen, dass du von mir nichts zu befürchten hast.«
»Das habe ich in der Tat nicht, wenn du nach Albenmark gehst. Und damit ich ganz sicher bin, dass du nicht wiederkommst, werde ich Asla und deine Kinder mit nach Gonthabu nehmen. Und auch diese schlafende Elfe. Ich sehe wohl, dass sie eine bedeutende Persönlichkeit ist. Ich erkenne eine Fürstin, wenn ich ihr begegne. Wenn ich nie wieder von dir höre, Alfadas, dann wird es ihnen allen gut gehen.«
Der Herzog legte seine Hand auf den Schwertgriff. »War es nicht sehr unklug, uns Verräter in dein Zelt zu rufen?«
Horsa sah ihn finster an. »Ich bin auf jeden Verrat gefasst. Dein Haus ist umstellt, Alfadas. Wenn mir etwas geschieht, dann stirbt deine Familie. Und deine Bauernkrieger werden von meinen Männern im Schlaf überrumpelt.« Unvermittelt wich sein Zorn, und der König wirkte nur noch traurig. »Geh, Alfadas, und komm nicht wieder. Das ist alles, was ich von dir will. Und glaub nicht, dass ich nicht wüsste, dass ich der Schurke in dieser Saga bin. Du weißt ja, unsere Heldengeschichten enden immer tragisch und blutig. So ist das im Fjordland. Deshalb hoffe nicht, ich würde zögern, deine Familie ermorden zu lassen, wenn du dich mir widersetzt.«
»Kennst du die Geschichte von Nazirluma und Aileen?«, fragte Ollowain in einem Tonfall, in dem ein Märchenerzähler zu Kindern sprach.
Alfadas fragte sich, ob der Elf den Ernst der Lage nicht begriff Horsa winkte ab. »Dieser Kinderkram tut jetzt nichts zur Sache. Ich werde morgen deine Familie mitnehmen, Alfadas. Sorge dafür, dass hier im Dorf niemand Widerstand leistet. Ich würde nur ungern ein Blutbad anrichten.« Er wandte sich Ollowain zu.
»Und du. Mach der Leibwächterin deiner Königin klar, dass selbst die allerbeste Schwertkämpferin gegen zweihundert Krieger nur unterliegen kann.«
»Wenn dir am Leben deines Sohns gelegen ist, Horsa, dann solltest du dir lieber meine Geschichte anhören.« Der Schwertmeister trug seine Worte höflich, aber mit Nachdruck vor. »Was gibt es Schlimmeres, als vor dem Grab seines Kindes zu stehen?«
»Mein Sohn ist nicht einmal hier!«, schnaubte Horsa. »Und ich werde dir und deiner Brut nicht verraten, wo er steckt. Er ist außerhalb eurer Reichweite!« Seinen Worten zum Trotz wirkte der Alte unruhig. Alfadas hätte gewettet, dass der König gelogen hatte und Egil irgendwo ganz in der Nähe steckte.
»Bist du sicher? Kannst du dir leisten, dich zu irren, Horsa?«, fragte Ollowain. »Soweit ich weiß, hast du nur diesen einen Sohn.«
Alfadas sah aus den Augenwinkeln, wie sich etwas unter den Pelzen auf dem Nachtlager des Königs bewegte. Er wollte schon sein Schwert ziehen, als er erkannte, dass Dalla, die Heilerin, dort lag. Sie schien sich im Schlaf bewegt zu haben.
Ollowains Ruhe machte dem König offensichtlich mehr Angst als der Zorn seines Herzogs. »Dann erzähl deine verfluchte Geschichte, Elf! Aber glaube nicht, das würde etwas ändern. Ich habe alles bedacht!«
»Natürlich!« Der Schwertmeister lehnte sich auf seinem Sitz zurück. »Nazirluma war einer der größten Zauberer seiner Zeit. Er war der König des geheimnisvollen Volkes der Lamassu, und die Geschichten, die man sich von ihm erzählt, sind ohne Zahl. So sollen ihn seine kräftigen Schwingen in einer einzigen Nacht über die weiße See getragen haben, obwohl selbst das schnellste Schiff drei Wochen braucht, um diesen Ozean zu überqueren. Er war berühmt für seine hintersinnigen Rätsel, und mancher Zauber, den er wob, wirkt noch immer fort, obwohl Nazirluma seit mehr als zweitausend Jahren tot ist. Gewiss würde man noch heute in den allerhöchsten Tönen von diesem außergewöhnlichen Weisen sprechen, wäre ihm nicht in seinem Alter die Elfe Aileen aus dem Volk der Maurawan begegnet. Sie kam nach Kandastan an seinen Königshof, als dort ein großes Bogenschützenturnier ausgetragen wurde. Obwohl Aileen im Wettkampf nicht obsiegte, erregte sie die Aufmerksamkeit des alten Königs, denn sie war von großer Schönheit. Als Nazirluma sie sah, wurde er von blinder Liebe ergriffen. Er ersann wunderbare Metaphern auf ihre Schönheit, ja, er dichtete einen Gesang aus über hundert Strophen, den er ihr höchstselbst vortrug. Er minnte um sie wie ein Jüngling, der zum ersten Mal sein Herz zu verschenken hat. Zunächst nahm Aileen seine Geschenke an, denn sie hielt das Liebeswerben des Königs für einen Scherz. Um sie in ihrem Irrtum zu verstehen, solltest du wissen, dass ein Lamassu den Leib eines großen Stiers hat. Aus seinen Flanken aber wachsen ihm weite Adlerschwingen, stark genug, ihn selbst auf den höchsten aller Berge zu tragen. Nur sein Haupt gleicht dem eines Elfen ... Oder eigentlich eher sogar dem eines Menschen, denn die Gesichter der Lamassu sind stets von wuchtigen Barten gerahmt. Einige Zeit verstrich, bis Aileen begriff, dass der König es mit seinem Werben tatsächlich ernst meinte. Nun sind die Maurawan bekannt dafür, dass sie ihr Herz auf der Zunge tragen und dass sie sich gern sehr bildhaft ausdrücken. Und so geschah es, dass Aileen dem König Nazirluma vor seinem Hofstaat ins Gesicht sagte, eher würde sie sich mit einem Wolf paaren als mit einem altersschwachen Stier.
Es heißt, Liebe und Hass seien zwei Seiten derselben Münze. Und so blind Nazirluma in seiner Liebe war, so maßlos war er in seinem gekränkten Stolz. Kaum hatte Aileen die hohe Halle des Herrschers verlassen, da befahl er seinen Leibwächtern, die Elfe zu ergreifen und sie die Freuden der Liebe durch einen Lamassu zu lehren, bis sie ihr Leben dabei aushauchte. Und zu ihrer Schande taten die Krieger, wie ihnen geheißen.
Aileen vermochte drei Pfeile zu verschießen, bevor sie ergriffen wurde. Mit zweien streckte sie zwei der großen Lamassu nieder. Der dritte aber war ein Gryna-Lah, ein Fluchpfeil, und ihn schickte sie senkrecht in den Himmel hinauf, denn sie wusste wohl, wer ihr die Krieger geschickt hatte. So hatte sie Nazirlumas Namen auf den Schaft eines Pfeils geschrieben und das Geschoss mit einem Zauber belegt. So lange sollte der Pfeil im Himmel verborgen fliegen, bis er einen Weg zu seinem Ziel fand.
Als Nazirluma wieder zu Sinnen kam, war es zu spät, seine Mörder zurückzurufen. Als ein Weiser kannte der König die Maurawan, ihre Magie und ihre Waffen wohl.
Und so begab er sich in eine Kammer, die keine Fenster hatte und in die weder ein Kamin noch ein Luftschacht führte. Drei Türen musste man durchschreiten, um in diese Kammer zu gelangen, und der König befahl, dass niemals mehr als eine der Türen geöffnet sein dürfe. Nazirluma verbrachte achtundfünfzig Tage in seinem selbst gewählten Gefängnis, und mit der Zeit wuchs seine Zuversicht, dass der Zauber auf dem Gryna-Lah seine Kraft verloren hatte. Auch seine Diener wurden nachlässig, denn sie spürten wohl, wie die Furcht ihres Herrn wich. So befahl Nazirluma am achtundfünfzigsten Tage, dass man ihm ein Bad richten möge. Seine Diener schleppten viele Krüge mit Wasser in den prächtigen Kerker, und bei der Plackerei geschah es, dass sie nur die äußerste der drei Türen verschlossen hielten. Diese aber war weniger sorgfältig als die anderen beiden gearbeitet, und in ihr fand sich ein Astloch, so klein, dass ich gerade einmal meinen kleinen Finger hindurchstecken könnte. Diesen Weg wählte der Pfeil und bohrte sich in das Herz Nazirlumas. Und der König verblutete in seinem Bade.«
Horsa stand der blanke Schweiß auf der Stirn, als Ollowain seine Geschichte beendete. »Was willst du mir damit sagen, Elf?«
Der Schwertmeister breitete die Hände aus. »Ist das so schwer zu verstehen? Yilvina, die Leibwächterin unserer Königin, führt stets Pfeil und Bogen bei sich. Und auf einem ihrer Pfeile steht der Name deines Sohnes Egil.« Horsa sprang auf und wollte dem Elfen an die Kehle gehen, doch Ollowain wich dem Angriff mit Leichtigkeit aus. Ein Tritt in die Kniekehle brachte den Alten zu Fall. Nun setzte ihm der Elf den Fuß auf die Brust und drückte Horsa in den Staub. Dies alles geschah so schnell, dass Alfadas keine Gelegenheit fand einzuschreiten. Und ihm war es auch nur recht, Horsa im Staub liegen zu sehen.
»Es tut mir Leid, dass dies hier nötig war«, sagte Ollowain betrübt. »Schließlich sind wir Verbündete im Kampf gegen die Trolle. Nun höre mir zu, König. Deine Drohung gegen Emerelle und gegen die Familie meines Freundes Alfadas betrachte ich als eine Verirrung. Sie war nur ein Wahn, wie er einen in der dunkelsten Stunde der Nacht überkommen mag, wenn man dem Wein überreichlich zugesprochen hat. Ich kenne Alfadas so gut, wie ich mein eigenes Herz kenne. Und ich verspreche dir, der Herzog würde niemals einen Verrat an dir begehen.«
Die Worte seines Ziehvaters beschämten Alfadas. Er musste an die Nacht auf dem Floß denken. Hatten die Jahre in der Welt der Menschen ihn so sehr verändert?
»Ich bin bereit, alles zu vergessen, was heute Nacht gesprochen wurde«, fuhr Ollowain fort. »Ich habe dein Zelt als dein Verbündeter betreten, König Horsa. Es liegt nun bei dir, ob ich es auch als dein Verbündeter verlassen werde.« Der Schwertmeister nahm seinen Fuß von der Brust des Königs und trat einen Schritt zurück.
Horsa atmete schwer. Es kostete ihn einige Mühe, sich aufzusetzen. Sein verbliebenes Auge war blutunterlaufen. »Ich habe wohl zu viel getrunken«, stieß er gepresst hervor.
»Ich sehe, wie dich die Sorge um deinen Sohn zerfrisst. Ich vermag nicht darüber zu urteilen, ob deine Ängste begründet sind oder nicht, König.« Ollowain reichte Horsa die Hand. Und zu Alfadas‘ Überraschung griff der Alte danach und ließ sich aufhelfen.
»Es gibt nur eine Macht im Fjordland, welche die Treue des Herzogs zu deinem Thron zu brechen vermag«, sagte der Elf ernst. »Und diese Macht bist du, Horsa. Bedenke dies bei allem, was du tust.«
Der massige alte Mann und der schlanke, hoch gewachsene Elf standen einander gegenüber. In Alfadas‘ Augen verkörperte Ollowain all das, was Horsa verloren hatte. Jugend, Selbstbewusstsein und Weisheit. War sich der König dessen ebenso bewusst? In seinem Blick lag eine Sehnsucht, als sähe er am Horizont den Glanz der Götterhallen. Tränen traten in sein verbliebenes Auge.
»Ich glaube, ich habe auch den tieferen Sinn der Geschichte von deinem Stierkönig verstanden. Ich danke dir dafür, dass du mir das Auge geöffnet hast«, sagte der König mit brüchiger Stimme. Dann blickte er zu seinem Herzog. »Ich wünsche dir Glück für deinen Feldzug, Alfadas. Und ich hoffe, wir werden uns wieder sehen. Brauchst du noch weitere Männer? Ich könnte dir einen Teil meiner Eskorte mitgeben.«
Der Herzog traute seinen Ohren kaum. Zu plötzlich erschien ihm dieser Sinneswandel. Oder hatte Ollowain den König vielleicht mit einem Zauber belegt?
»Ich nehme nur Freiwillige mit«, sagte er entschieden. »Männer, die noch keine Familie gegründet haben.« »Es sind gute Krieger.« Horsa wischte sich über sein Auge. »Du kennst viele von ihnen.«
Dich dachte ich auch einmal zu kennen, ging es Alfadas durch den Kopf. »Fragen wir sie morgen vor dem Tor. Gestattest du nun, dass wir uns zurückziehen?«
Offenbar tief in Gedanken, nickte der alte König knapp.
Als sie außer Hörweite der Wachen waren, musste Alfadas Gewissheit haben.
»Hast du ihn verzaubert, Ollowain?«
»Nein, ich habe nur versucht, ihn an den Mann zu erinnern, der er einmal war.«
»Ich glaube, es ist eher der Gryna-Lah, der ihn nachdenklich gemacht hat. Die Fluchpfeile gehören zu den Geheimnissen der Maurawan, nicht wahr?«
Ollowain lachte leise. »Ja, in der Tat. Sie sind so geheim, dass nicht einmal die Maurawan selbst um sie wissen. Glaubst du, Emerelle würde noch leben, wenn es solche Pfeile gäbe? Wir hätten keine Fürsten und Könige mehr. Die Adelshäuser hätten sich längst gegenseitig ausgelöscht. Keine Blutfehde könnte jemals beigelegt werden, wenn es solche Pfeile wirklich gäbe. Ich habe die Geschichte von Nazirluma und Aileen erfunden. Sie sollte Horsa Angst machen. Aber der Alte hat mich überrascht. Ich glaube, er hat noch etwas anderes verstanden. Seinem Tod kann er nicht entgehen. Zu leben ist eine Schlacht, die wir letzten Endes alle verlieren. Aber es liegt ein Stück weit in unserer Hand, wie man uns in Erinnerung behält. Horsa ist im Grunde seines Herzens ein guter Mann. Er möchte nicht, dass man sich an ihn als einen Tyrannen erinnert. Und wenn er seinem Sohn eine solche Bürde hinterlässt, würde er es noch schwerer haben. Wer möchte schon vom Spross eines Tyrannen beherrscht werden? All jene, die einen Groll auf seinen Vater haben, aber dessen Stärke fürchten, werden sich gegen Egil erheben.«
»Ich hoffe nur, dass Horsas Weisheit länger als eine Nacht währt«, entgegnete Alfadas skeptisch. »Mir wäre es lieber, Yilvina hätte tatsächlich einen Gryna-Lah.«
»Unterschätze Yilvina nicht«, ermahnte ihn der Schwertmeister. »Ich glaube nicht, dass es einen Menschen gibt, der sie umbringen könnte. Sie wird auch auf deine Familie Acht geben. Und dazu braucht sie keinen Fluchpfeil.« Die beiden hatten das Langhaus des Herzogs erreicht. »Ich glaube nicht, dass ich in dieser Nacht noch schlafen werde«, sagte der Elf unvermittelt und verabschiedete sich.
Alfadas sah ihm nach, bis die Dunkelheit Ollowain verschluckte. Wollte er das Zelt des Königs beobachten? Entschlossen, die letzten Stunden bei seiner Familie nicht mit dumpfem Grübeln zu vergeuden, trat Alfadas in das Langhaus. Der vertraute Geruch von Rauch empfing ihn. Bald brannten ihm die Augen. Er fluchte leise. Die Glut in der Feuergrube reichte nicht, die Finsternis zu vertreiben, doch spendete sie gerade genug Licht, um den großen Raum zu durchqueren und nicht auf die einquartierten Gäste zu treten, die in Decken gerollt überall auf dem Boden lagen.
Leise klirrte eine Kette. Alfadas verharrte. Es war nur Lambi oder einer seiner Männer, die sich im Schlaf bewegt hatten. Die rebellischsten seiner Krieger hatte der Herzog vorsichtshalber in sein eigenes Haus eingeladen – auch um sie vor den Männern des Königs zu schützen.
Alfadas wartete, bis sich seine Augen an das rötliche Zwielicht gewöhnt hatten. Dann schlich er zwischen den Schlafenden hindurch zu den Nischen entlang der Wand. Vor Kadlins Lager wachte Blut. Der Herzog sah, wie sich das Licht in den schwarzen Augen des großen Hundes spiegelte. Blut regte sich nicht und gab keinen Laut von sich, doch entging ihm nichts, was im Langhaus geschah. Und wehe dem, der versuchte, sich Kadlin auf mehr als einen Schritt zu nähern.
Alfadas tätschelte Blut über seinen massigen Schädel. Der Hund reagierte nicht. Weder durch ein freundliches Knurren noch indem er sich wie andere Hunde auf die Seite rollte, um sich den Bauch kraulen zu lassen. Angespannt beobachtete er die Schläfer und zuckte einmal kurz, als irgendwo in der Dunkelheit jemand leise im Schlaf vor sich hin murmelte. Erst als Alfadas sich aufrichtete, um nach Kadlin zu sehen, drückte Blut ihm kurz seine feuchte Schnauze in die Hand.
Alfadas dachte an den Abend zurück. Fast jeder der Männer, die hier schliefen, hatte schon getötet. Es waren hartgesottene Burschen. Unter normalen Umständen hätte er sie nicht unter seinem Dach haben wollen. Für die Regeln der Ehrenhaftigkeit, die er seinem Sohn beizubringen versuchte, hätten sie nur Spott übrig. Ehrenhaft war es zu siegen. Wie, das war ihnen gleich. Sie waren schlechte Gesellschaft in friedlichen Zeiten. Und genau die richtigen Männer, um mit ihnen in eine aussichtslose Schlacht zu ziehen. Vielleicht hatte Horsa Recht damit, sie loswerden zu wollen. Das Fjordland sah friedlichen Zeiten entgegen. Es gab keine Feinde. Diese Männer würden Störenfriede sein. Auch Blut hatte das gemerkt. Seit sie im Haus waren, hatte er weder gefressen noch getrunken. Er hatte sie nicht aus den Augen gelassen. Keinen Herzschlag lang. Die Krieger hatten die Gefahr bemerkt, die von dem großen schwarzen Hund ausging. Sie hatten gespürt, dass er ohne Vorwarnung auf sie losgehen würde, sobald sie den kleinsten Fehler machten, und dass diese Bestie ihnen mit einem einzigen Biss die Kehle herausreißen würde. Lambi und seine Kumpanen waren ruhig gewesen, hatten sich nicht betrunken und respektvollen Abstand zu Blut gehalten.
Alfadas kraulte den großen Hund hinter den Ohren. Es war gut zu wissen, dass Blut im Haus war. Er würde auf Asla und die Kinder achten.
Vorsichtig zog der Herzog den Vorhang zur Seite und spähte in Kadlins Schlafnische. Die Kleine hatte ihre Decke fortgestrampelt, streckte den Hintern empor und drückte ihren Kopf in das moosgefüllte Kissen. Dabei machte sie ein ernstes Gesicht, wie sie es manchmal tat, wenn sie etwas Wichtiges zu erklären versuchte. Alfadas musste schmunzeln. Es war ihm ein Rätsel, wie man in dieser Stellung schlafen konnte. Doch Kadlin atmete tief und regelmäßig. Vorsichtig zog er ihre Decke hoch. Dann sah er ihr beim Schlafen zu. Er wollte dieses Bild tief in seine Erinnerung einbrennen. Es sollte sein geheimer Schatz sein in den dunklen Stunden, die da kommen würden.
Endlich riss er sich los, um auch nach Ulric zu sehen. Auch sein Junge lag in tiefem Schlaf. Er drückte den Dolch an sich, den Ollowain ihm geschenkt hatte. Es war eine lange, schlanke Waffe, fast schon ein kurzes Schwert. In die silberne Scheide waren kleine Türkissplitter eingefasst. Ulric hatte sie gezählt. Es waren dreiundachtzig. Der Griff war aus Walbein geschnitten und zeigte zwei Löwen, die auf ihren Hinterbeinen standen und sich in tödlicher Umklammerung hielten. Beide hatten einander die Fänge ins Genick geschlagen. Der Dolch wäre ein Geschenk für einen König gewesen. Seit Ulric ihn bekommen hatte, trug er ihn ständig mit sich herum. Und in Anbetracht der Gäste dieser Nacht war es sicherlich klüger, dieses kostbare Stück nicht herumliegen zu lassen. Eines Tages würde sein Sohn ein guter Krieger sein, dachte der Herzog. Und sicher würde er sich dann darüber ärgern, dass man sich erzählte, er habe einen verzauberten Elfendolch, dem er seine Kraft und sein Geschick verdanke.
Er strich dem Jungen sanft durch das zerzauste Haar. Ulric regte sich unruhig im Schlaf. Vorsichtig zog Alfadas sich zurück, legte die Kleider ab und schlüpfte in die Schlafnische, die er sich mit Asla teilte.
»Was hat der alte Bock von dir gewollt?«, fragte sie leise, nachdem er den Wollvorhang zugezogen hatte.
»Er macht sich Sorgen darum, dass ich ihn bei der Aufteilung der Kriegsbeute betrügen könnte. Horsa ist überzeugt, dass wir alle mit Schätzen beladen zurückkommen werden«, log Alfadas, während er sich fröstelnd unter die Decke drängte. Die Nacht war eisig. Bald schon würde der erste Schnee kommen. Er dachte an die Männer, die draußen am Ufer bei den Feuern kauerten. In Albenmark würden sie nicht mehr frieren.
»Und was wirst du mir mitbringen? Noch eine Kutsche?«
»Ist etwas mit der Kutsche nicht in Ordnung?« Er schlang seinen Arm um sie und zog sie zu sich heran. Ihr Leib war angenehm warm.
Asla schüttelte sich. »Das ist ja, als sei der Winter in mein Bett gekrochen.« Sie drehte sich um und küsste ihn sanft auf die Stirn. »Komm zu mir zurück aus Albenmark, das ist das einzige Geschenk, das ich mir von dir wünsche.«
Wieder hatte er das Gefühl, als sei sein Magen voller Eis. Ahnte sie etwas? »Die Elfen bauen sehr schöne Kutschen«, sagte er, um von etwas anderem zu sprechen.
Asla versetzte ihm einen Knuff. »Willst du eine Kutscherin aus mir machen? Bin ich vielleicht einem deiner Geheimnisse auf der Spur? Schätzt du Elfen, die gern auf dem Bock sitzen?«
Alfadas zog sie auf sich. »Eigentlich bevorzuge ich wilde Reiterinnen.« Aslas langes Haar strich ihm über das Gesicht. Ihre Hände spannten sich um seine Schultern.
»Es gäbe doch etwas, das ich mir wünsche. Diese selbstgefällige, dunkelhaarige Ziege, von der du wolltest, dass sie meinen Bauch betastet... Lündin, oder so. Sie hatte ein kleines Glasfläschchen. Darin war ein wunderbar duftendes Wasser. Ich habe sie einmal beobachtet, wie sie ein wenig davon auf ihren Hals getupft hat. Sie roch danach wie ein Blumengarten. Es wurde einem ganz behaglich bei diesem Duft. So etwas hätte ich auch gerne.« Alfadas vergrub seinen Kopf zwischen ihren Brüsten. »Ich mag den Geruch deiner Haut. Kein Duftwasser könnte mich so berauschen.«
Sie schob sich auf seinen Schoß. »Du bist ein schlechter Lügner. Ich kenne keinen Mann, der sich so oft wäscht wie du. Warum solltest du meinen Geruch schätzen, wenn du deinen eigenen nicht ertragen kannst?«
»Wenn wir uns geliebt haben, wasche ich mich manchmal tagelang nicht.« Er zog sie zu sich herab und küsste sie. Wenn sie einander liebten, dann war alles wie in jenem wundervollen ersten Jahr. Jedenfalls solange Asla ihn nicht neckte. Damals hatte sie ihn zu sehr bewundert, um ihre Spaße mit ihm zu treiben. Was wohl hinter ihrem Wunsch steckte? Duftwasser! Er mochte ihren Geruch wirklich! Es war zu dunkel in der Schlafnische, um irgendetwas sehen zu können. Aber er war sich sicher, dass sie jetzt grinste. Sie wollte ihn mit ihrem Wunsch foppen! Asla rieb sich sanft an ihm. Wohliges Schaudern durchlief seinen Leib. Das Eis in seinem Magen war verschwunden.
»Wirst du mir meinen Wunsch erfüllen?« Sie erhob sich ein wenig.
»Ich werde dir eine ganze Sammlung von Duftwasser mitbringen!« Wieder rieb sie sich an ihm. »Ein Fläschchen reicht mir. Dann würde ich dir auch verzeihen, wenn du noch eine Kutsche anschleppst.« Ihre Wärme umschloss ihn. Alfadas biss sich auf die Lippen. Er wollte nicht, dass die Männer draußen in der Halle ihn vor Lust stöhnen hörten.
Asla begann sich in langsamem Rhythmus zu bewegen. Ihre Wärme umfloss ihn und trug ihn davon. Fort von Horsa und all seinen Sorgen. Sie liebten sich so leidenschaftlich wie schon lange nicht mehr, und als sie später, den Kopf auf seine Brust gesenkt, einschlief, schwor er sich, dass er zurückkommen würde. Ganz gleich, was auch geschehen mochte. Das war sein letzter Gedanke, bevor er einschlief.
In seinen Träumen belästigte ihn Ole. Er hatte einen Hund mitgebracht, so groß wie ein Pferd, und wollte ihn an Asla verkaufen.