Erwachen

Svenja begann zu zittern, als sie den Ruf des Horns hörte. Die Trolle hatten noch nie bei Nacht angegriffen! Als die Sonne untergegangen war, hatte sie sich sicher gefühlt. Zumindest für die Nacht. Sie stellte sich vor, wie ihre Nichte Asla in diesem grässlichen Kettenhemd auf den Wall kletterte, um bei den Männern zu sein. Eine Frau sollte nicht mitten in einer Schlachtreihe stehen! Schon gar nicht, wenn sie ein Kind unter dem Herzen trug. Was hatten sie den Göttern getan, dass sie ihnen eine solch schwere Prüfung auferlegten?

Svenja blickte auf und besann sich auf ihre Pflichten. Sie würde bei den Kindern bleiben. Ganz gleich, was geschah. Sie würde sie niemals allein lassen. Die meisten der Kleinen konnten nicht einmal laufen. Es waren schon viel zu viele Kinder gestorben! Sie sah zu der schweren Pfanne neben dem Feuer. Eine Frau sollte nicht mit einem Schwert herumlaufen! Aber sie musste nicht wehrlos sein.

»Sing uns noch ein Lied«, drängte Loki. Sein Vater war vor zwei Tagen gestorben. Die Trolle hatten ihn mit einem Seil vom Wall gezerrt. Der Junge hatte nicht geweint. Er war sechs. Alt genug, um zu begreifen.

»Mein Vöglein flieg ...«, begann Svenja und stockte. So viele Lieder mochte sie nicht mehr singen. Früher hatte sie über die Worte der Kinderlieder nicht weiter nachgedacht. Sie hatte sie gesungen, so wie ihre Mutter für sie gesungen hatte. Aber jetzt...

»Weiter«, drängte Loki.

Auch Kadlin, die in ihren Armen schlief, bewegte sich unruhig. Man hatte ihr all die kleinen Kinder gebracht, die noch lebten. Es waren nur siebzehn. Die meisten schliefen jetzt ruhig bei der gemauerten Feuergrube. So wie die Königin. Die Elfe war Svenja unheimlich. Sie lag da wie eine Tote. Sie rührte sich nicht, man hörte sie nicht einmal atmen. Ihr Gesicht war weiß wie Schnee und von kalter Schönheit, so wie der Fjord an einem Wintermorgen. Asla hatte ihr erzählt, die Königin sei viele hundert Jahre alt. Das konnte nicht stimmen! Sie hatte ein Gesicht wie eine Jungfer, die noch von Männern träumte, weil sie es nicht besser wusste. Es fehlten all die Narben, die das Leben schlug. Die feinen Fältchen um die Augen, die das Lachen schenkte. Die tiefen Furchen um die Mundwinkel, die von Verzweiflung und Enttäuschung kündeten.

»Das Lied!«, sagte Loki. »Hast du vergessen, wie es weitergeht?«

Svenja lächelte. »Ja, hab ich. Ich sing euch ein anderes. Das Lied vom goldenen König. Das ist auch viel schöner.« Sie atmete tief ein. Kadlin bewegte sich im Schlaf und drückte ihr den Kopf gegen den Busen.

»Sind so viele Fische, tief am Fjordengrund ...«

Svenja versagte die Stimme. Die Elfe! Sie hatte die Augen geöffnet und sah sie an. Was für Augen! Die Amme begann wieder zu zittern. Jetzt glaubte sie, dass die Königin schon seit Jahrhunderten lebte.

»Du musst keine Angst vor mir haben, Menschentochter.« Die Elfe sprach mit weicher, freundlicher Stimme. Wer so eine Stimme hatte, vor dem musste man sich nicht fürchten, ganz gleich, wie die Augen aussahen. Die Kinder blickten jetzt zu der Königin. Keines schien vor ihr Angst zu haben. Loki ging sogar zu ihr hinüber.

»Warum hast du so lange geschlafen?«, fragte der Junge.

»Ich war verwundet und sehr müde.« Die Elfe sah sich um. Ihre Augen erschienen Svenja wie Abgründe. Sie verschlangen gierig, was sie sahen.

»Wie bin ich hierher gekommen, Menschentochter? Und wie ist dein Name?«

»Svenja heiße ich.« Die Amme wunderte sich, wie sicher ihre Stimme klang. Ihre Hände hatten aufgehört zu zittern. Tiefe Ruhe überkam sie. Sie berichtete, wie die Elfen nach Firnstayn gekommen waren, wie der Geisterhund sie heimgesucht hatte und schließlich von Gundar getötet worden war. Dann erzählte sie von den Trollen und der Flucht über das Eis, die bis hierher nach Sunnenberg geführt hatte. Während sie sprach, erwachte Kadlin. Das kleine Mädchen ging hinüber zu der Elfe, so als habe sie die fremde Königin schon immer gekannt. Die Herrin der Elfen strich Kadlin sanft über das Haar. »Du bist die Tochter von Alfadas. Ich kannte deinen Vater schon, als er so groß wie du war.«

»Vater fort«, sagte Kadlin undeutlich.

Svenja lief ein Schauer über den Rücken. Die Kleine konnte noch nicht sprechen! Was hatte die Königin mit ihr gemacht? Svenja wollte aufstehen und Kadlin in die Arme schließen, doch ihre Beine waren wie gelähmt. »Ulric fort. Mama traurig. Gut, dass du aufwachst.« Die Stimme des Mädchens wurde immer deutlicher. Svenja sah seit fast dreißig Jahren nach Kindern, doch so etwas hatte sie noch nie erlebt.

»Lass Kadlin gehen«, sagte sie ängstlich.

Die Kleine wandte sich zu ihr um. »Mir geht es gut, Tante. Mach dir keine Sorgen.«

Emerelle nahm die Hand vom Kopf des Kindes. Wieder war in der Ferne das Kriegshorn zu hören. »Ich bin es, was die Trolle wollen. Ich werde gehen und mich ihnen stellen. Dies ist nicht euer Krieg, Menschenkinder. Er hätte es niemals sein dürfen. Ich habe es nicht gesehen ...«

Die Amme verstand nicht, was die Königin mit ihren letzten Worten sagen wollte. Sie atmete tief ein. Plötzlich fühlte sie sich voller Kraft. Sie sprang auf und schloss Kadlin in ihre Arme.

Emerelle erhob sich von ihrem Lager, als habe sie nur kurz geruht. Blass und mit einem dünnen Nachthemd bekleidet, sah sie wie ein Geist aus. Sie verbeugte sich knapp vor Svenja. »Ich danke dir dafür, dass du so viele Stunden an meinem Lager gewacht hast. Du hast eine sehr schöne Singstimme, Menschentochter. Das ist eine besondere Gabe. Ich hoffe, du wirst den Kindern bald wieder fröhlichere Lieder singen.« Mit diesen Worten öffnete sie die Tür. Der eisige Atem des Winters kroch in die kleine Hütte. »Kadlin mag dich übrigens sehr, Svenja. Sie wollte, dass ich dir das sage.«

Die Amme drückte das kleine Mädchen eng an sich.

»Dada.« Kadlin deutete auf die Tür. Eine Windbö stürmte gegen die kleine Hütte an und ließ die hölzernen Dachschindeln klappern. Die Tür schwang knarrend in den Angeln.

»Sperr den Winter aus, bevor uns Väterchen Firn allen in die Nasen beißt«, befahl Svenja Loki. Dann beäugte sie misstrauisch Kadlin. Das Kind schien unverändert. »Was hast du mit der Elfe besprochen?«

Kadlin legte den Kopf schief und lächelte. »Hawda.« Erleichtert atmete die Amme auf. Der Spuk war vorüber.

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