Das Feenlicht verblasste am Nachthimmel, als die drei schweren Eissegler langsam Fahrt aufnahmen. Ragni und Lysilla waren gerade erst an Bord ihrer Schiffe zurückgekehrt. Alfadas hatte ihnen beiden noch einmal seinen Plan eingeschärft. Er wollte keine Schlacht, sondern nur einen Überfall. Die Trolle sollten sich in den nächsten Tagen keinen Augenblick mehr sicher fühlen, wenn sie über die weite Eisebene marschierten. Verärgert dachte der Herzog an seinen Streit mit Landoran. Es war ein Fehler, sich hinter den Befestigungen von Phylangan zu verkriechen. Bis zur Stunde ihres Aufbruchs noch hatte Alfadas versucht, den engstirnigen Fürsten davon zu überzeugen, einen Krieg der Eissegler zu wagen. So viele Schiffe standen im Schneehafen. Wenn man sie so wie die Rosenzorn, die Weidenwind und die Schwertwal umbaute, müsste man nicht einfach in der Festung sitzen und darauf warten, was die Trolle unternehmen würden. Er hasste es zu warten!
Alfadas müsste lächeln. Seine Krieger hielten ihn für einen ruhigen, beherrschten Mann. Wie wenig sie ihn kannten!
Der Herzog umklammerte einen der Haltegriffe an der Reling. Scharfer Fahrtwind schnitt ihm ins Gesicht. Mit jedem Herzschlag erhöhte sich die Geschwindigkeit der Rosenzorn. Die Götter waren ihnen hold an diesem Morgen, insbesondere Firn, der Herr des Winters. Er hatte ihnen einen klaren Himmel und einen stetigen Westwind geschenkt. Das war alles, was sie brauchten, um sich mit einer hundertfachen Übermacht anzulegen.
Das Eis spritzte unter den scharfen Kufen hinweg. Manchmal ruckte das schwere Schiff, wenn ein größerer Eisklumpen zermahlen wurde. Noch immer beschleunigte die Rosenzorn ihre Fahrt. Dichtauf folgten die Weidenwind und die Schwertwal. Alle drei Schiffe hatten jeden Fetzen Segel gesetzt. Die Masten knarrten leise unter dem Druck des Windes. Raureif splitterte von den eingeölten Tauen, wenn sie sich spannten. Die feinen Unebenheiten auf der weiten Eisfläche ließen das Deck sanft erzittern. Alfadas liebte die Geschwindigkeit. Die Ängste, die er während seiner ersten kurzen Eisseglerfahrt empfunden hatte, waren längst vergessen. Jetzt berauschte er sich daran, schnell wie ein Falke über das Eis dahinzuschießen. Alle an Bord waren auf Posten, bereit für das Gefecht. Auf der Reling waren zu beiden Seiten zehn schwere Windenarmbrüste aufgesetzt, und im Bug stand ein schwenkbares Katapult gefechtsbereit. Die Männer an der Reling hatten breite Ledergurte um ihre Hüften geschlungen, um während der Schlacht nicht von den Beinen gerissen zu werden. Kobolde, Menschen und Elfen fieberten dem Kampf entgegen. Alle an Bord glaubten an seine Idee und waren überzeugt, dass sie siegen würden.
Fenryl stand neben Alfadas am Ruder. Der Elfengraf spähte mit zusammengekniffenen Augen auf das schillernde Eis hinaus. Es war an der Zeit, die Schneebrillen anzulegen. Noch zeigte sich im Osten nur ein schmaler Silberstreif am Horizont, doch bald schon würde die tief stehende Sonne sie blind machen. Alfadas drehte das Gesicht aus dem Fahrtwind und blickte zu Lambi und Veleif, die mit ihm auf dem Achterdeck standen. Der Jarl verstand ihn, ohne dass er etwas zu sagen brauchte. Er wickelte den geschlitzten Lederstreifen von seinem Gürtel und band ihn sich vor die Augen. Dann rief er mit Donnerstimme: »Heh, ihr verschnarchten Hurenböcke. Die Schneebrillen auf, oder ich komm runter, um euch den Hintern aufzureißen und euch das, was ich da finde, frühstücken zu lassen.«
»Das ist doch wohl nicht sein Ernst!«, rief Fenryl, der inzwischen einige Worte ihrer Sprache verstand. »Ich finde, es ist jetzt kein guter Zeitpunkt zum Frühstücken.«
Alfadas verknotete die Riemen der Schneebrille hinter seinem Kopf. »Das ist metaphorisch gemeint«, erwiderte er in der Muttersprache des Fürsten. »Der Jarl spricht gern in farbigen Bildern.«
»Er macht gar nicht den Eindruck, ein ...«
»Feind in Sicht!«, brüllte Mag vom Ausguck.
Jetzt sah auch Alfadas die dünne, schwarze Linie am Horizont. »Alles gefechtsklar!«, rief er mit ruhiger Stimme. Die Schützen legten Bolzen in die Armbrüste. Zwei Elfen standen im Bug bereit, um mit einem schweren Hebel ihre geheime Waffe zu entsichern, wenn es an der Zeit dazu war. Alfadas fühlte sich plötzlich unwohl. Hatte er wirklich alles bedacht? Oder führte er gerade drei Schiffe in die sichere Vernichtung?
Die Linie am Horizont nahm überraschend schnell Konturen an. Deutlich konnte Alfadas nun eine Marschkolonne und einen Lagerbereich erkennen. Fenryl korrigierte leicht den Kurs, sodass sie auf das Feldlager einschwenkten.
Der Herzog blickte über die Schulter. Die Weidenwind und die Schwertwal folgten dem Manöver. Noch dreihundert Schritt, dann erreichten sie das Lager. Alfadas trat an die Reling und legte einen Sicherungsgurt an.
»So, Jungs, die Ohren anlegen, die Eier einklemmen und durch!«, brüllte Lambi über das Pfeifen des Fahrtwinds hinweg.
Noch hundert Schritt! Die meisten Trolle starrten einfach nur verblüfft den drei Eisseglern entgegen. Sie ahnten nichts von der Gefahr.
Alfadas gab mit dem rechten Arm das vereinbarte Zeichen. Die Elfen auf dem Vordeck legten den schweren Hebel um. Mit scharfem Klacken schnellten die langen Kufenblätter vor, die seitlich des Rumpfs angebracht waren. Sie hatten niemals das Eis berühren sollen! In rechtem Winkel standen sie wie riesige Sensen vom Schiffsrumpf ab, bereit, ihre blutige Ernte einzubringen.
Die Armbrustschützen begannen zu schießen. Surrend wurden die Winden aufgezogen, um die stählernen Arme erneut zu spannen. Mehrere Trolle reagierten auf sie und warfen Keulen und Steinäxte nach dem Schiff.
Es gab einen leichten Ruck. Blut spritzte die Bordwand entlang. Alfadas blickte auf die verstümmelten Rümpfe, die hinter ihnen auf dem Eis lagen. Leicht versetzt und dreifach übereinander gestaffelt, hatten die Sichelklingen ihre Opfer in Höhe der Knie, der Leibesmitte und dicht unter dem Kopf getroffen. Die zerschnittenen Körper lagen auf zehn Schritt verteilt auf dem Eis.
Schon ruckte das Schiff wieder. Alfadas sah, wie Lysilla die Weidenwind auf einen besonders mörderischen Kurs brachte. Sie erwischte mit den Backbordklingen die Spitze einer Marschkolonne. Abgetrennte Gliedmaßen wirbelten nur so durch die Luft. Schon nach wenigen Schritt musste sie seitlich ausscheren, weil sie drohte, zu sehr an Fahrt zu verlieren. Der Rumpf der Weidenwind troff von Blut. Es war bis über die Reling hinauf in die Gesichter der Bordschützen gespritzt. Nur Lysilla stand noch in makellosem Weiß auf dem Achterdeck und rief mit klarer Stimme ihre Befehle.
Die Rosenzorn machte einen Satz. Ihre Kufen kreischten auf dem Eis. Der Segler setzte über eine Senke hinweg. Einen Herzschlag lang schwebte das große Schiff. Alfadas biss die Zähne zusammen und klammerte sich an der Reling fest. Dann gab es einen Schlag. Der Herzog wurde hart gegen die Bordwand geschleudert. Seine Beine gaben nach. Nur der Ledergurt verhinderte, dass er zu Boden gerissen wurde.
»Legt euch gefälligst nicht schlafen, ihr faules Gesindel!«, keifte Lambi. Eine der Armbrüste war aus der Verankerung gerissen. Ein Kobold hing halb über der Reling in seinem Gurt gefangen.
Lambi selbst rieb sich über die geprellten Rippen und fluchte leise.
»Dort!«, rief Fenryl. »Das ist der Ort.« Er deutete zu einer Stelle dicht am Klippenrand. Zwei große Holzschilde waren hier in den Schnee gerammt. Von einem hing etwas wie helle Stoffstreifen herab.
»Dort hatten sich gestern ihre Anführer versammelt.« Alfadas fluchte. Jetzt konnte er dort niemanden entdecken, der aussah, als sei er von Bedeutung. Fenryl hatte ihnen gestern die Hauptleute der Trolle genau beschrieben. Sie waren fort.
Mit einem Seufzer blickte Alfadas auf das riesige Lager, das sich über mehrere Meilen entlang der Mündung des Passwegs erstreckte. Er hatte gehofft, einen buchstäblichen Enthauptungsschlag gegen das Heer der Trolle zu führen. Er wollte mithilfe der Eissegler mitten im Heerlager die Anführer niedermetzeln. Von einem solchen Schlag hätte sich der Feind womöglich auf Wochen nicht erholt. So hätten sie die Zeit gewonnen, ein großes Bündnis unter den übrigen Völkern der Albenkinder zu schmieden. Vielleicht wäre der Krieg damit sogar ganz beendet worden.
»Siehst du die Packschlitten?«, schrie Alfadas, bemüht, den Schlachtenlärm zu übertönen.
Fenryl nahm sich Zeit, das unübersichtliche Schlachtfeld zu mustern. Überall lagen Stapel mit Versorgungsgütern, Kriegsbeute und allerlei Plunder, den das Heer mit sich schleppte. Der Graf steuerte den schweren Segler mit ruhiger Hand zwischen den tödlichen Hindernissen hindurch. Klemmte sich ein Rundholz oder etwas Ähnliches vor die Kufen des Eisseglers und bremste ihn, dann mochten die Trolle auf die Idee kommen, die Rosenzorn zu entern. Ihre Geschwindigkeit war ihr bester Schutz.
Beklommen blickte Alfadas auf das Gewühl ringsherum. Sie waren inmitten von Tausenden von Trollen. Trotz der steifen Brise verloren die Segler langsam an Fahrt. Zu viele Leiber gerieten in die Sichelblätter. Es war an der Zeit, hier zu verschwinden. Sie hatten nicht erreicht, was sie wollten, aber die Trolle würden gewiss noch lange an ihren Besuch denken!
»Dort drüben«, rief Fenryl und deutete auf einen flachen Hügel, auf dessen Kuppe etliche Schlitten standen. Eine Gruppe Trolle war damit beschäftigt, die Planen über der Ladung zurückzuschlagen. »Das sind sie! Die Geschütze!«
»Kommen wir den Hang hinauf?«, fragte der Herzog, obwohl er die Antwort schon ahnte.
»Am Hang verlieren wir zu viel Schwung. Denk nicht einmal daran! Wir würden direkt vor den Geschützen stehen bleiben.«
»Wer hat diesen ungewaschenen Bastarden beigebracht, Geschütze zu bedienen?«, fluchte Lambi.
Alfadas beobachtete, wie die Trolle auf dem Hügel die Katapulte gefechtsklar machten. Ein Teil dieser Horde war erschütternd diszipliniert. »Abdrehen! Schnell! Den roten Wimpel hoch!«, rief er zum Hauptdeck hinab. Wenn der Wimpel vom Hauptmast flatterte, war dies das Zeichen für die Weidenwind und die Schwertwal, den Angriff abzubrechen und sich zurückzuziehen.
Ein Kobold öffnete die Truhe, die am Hauptmast festgelascht war. Er kramte zwischen den verschiedenen Fahnentüchern, bis er endlich den roten Wimpel fand.
Ein erstes Geschoss stanzte ein rundes Loch in das Hauptsegel. Fluchend blickte Alfadas zu dem Hügel. Würde ihm der Troll, der diese Katapulte befehligte, denn jedes Mal in die Suppe spucken?
»Viele solcher Treffer können wir uns nicht leisten«, rief Fenryl vom Ruder herüber. »Jedes Loch in den Segeln macht uns langsamer.«
»Ich weiß!«, schnauzte Alfadas zurück. Er brauchte jetzt keine Belehrungen! Wieder blickte er zum Hügel. Er war so nah und doch unerreichbar. »Kurs West-Süd-West! Wir brechen den Angriff ab.«
Die Kufen des Seglers knirschten. Feine Eiskristalle sprühten über Deck. Das Schiff neigte sich bedenklich zur Seite. Alfadas klammerte sich an die Reling. Einen Herzschlag lang fuhr der Segler nur auf einer einzigen Kufe. Der Kobold bei der Flaggenkiste rollte über Deck und schlug hart gegen das Schanzkleid. Fluchend zog er sich hoch. Er schüttelte benommen den Kopf – und war plötzlich verschwunden. Dort, wo er eben noch am Schanzkleid gelehnt hatte, klaffte ein gezacktes Loch.
»Ich fürchte, Norgrimm wischt sich jetzt mit unserem Signalwimpel den Hintern ab!«, rief Lambi aufgebracht. »Ich hasse die Scherze der Götter!«
»Bleib auf Kurs!«, befahl Alfadas dem Elfen. »Die anderen werden uns auch ohne ein Signal folgen.« Steinkugeln umschwirrten die Rosenzorn. »Offenbar haben sie Schwierigkeiten, etwas zu treffen, das sich schneller bewegt als ein Block Speerträger«, spottete Lambi.
Alfadas sah, wie einige der Steinkugeln Trolle töteten.
Sie werden bald aufhören zu schießen, dachte er in grimmiger Genugtuung. Lysilla folgte ihnen, doch Ragni lief einen anderen Kurs. Das Hauptsegel der Schwertwal war von sieben oder acht Kugeln getroffen. Der Segler verlor an Fahrt. Und jetzt machte er auch noch ein waghalsiges Wendemanöver. Der Jarl winkte seinen Leuten mit beiden Armen. Dann ging er hinüber zum Ruder.
An Bord des Schiffes herrschte heilloses Durcheinander. Die Männer in den Masten seilten sich ab. Alle schienen zum Achterdeck zu wollen. Und dann begannen sie zu springen. Alfadas konnte nicht glauben, was er sah. Elfen, Kobolde und Menschen verließen das sichere Schiff, während sie inmitten des Heerlagers ihrer Feinde waren. Sie sprangen über das Heck, um den mörderischen Sicheln am Rumpf zu entgehen. »Wenden!«, rief der Herzog wütend.
Fenryl hatte gesehen, was um die Schwertwal herum geschah. Er zog das Ruder herum, doch der Eissegler hatte einen großen Wendekreis. Die Segel flatterten im Wind, und die Rosenzorn verlor gefährlich an Fahrt. Lambi stieß einem Troll, der versuchte, über die Reling zu steigen, sein Schwert in den Hals.
»Gebt unseren Jungs auf dem Eis Deckung. Und zeigt mir, dass ihr schneller nachladen könnt als ein paar gichtkranke Großmütter!«, feuerte er die Armbrustschützen an.
Alfadas’ Gedanken überschlugen sich. Die Gestrandeten zu retten, war ein selbstmörderisches Unternehmen. Aber er konnte sie doch nicht einfach diesen Menschenfressern überlassen!
»Legt die Sicheln an den Rumpf! Macht Seile klar, um unsere Kameraden an Bord zu nehmen!«
Sofort bemannten einige Krieger das große Spill am Bug. Über Seilwinden wurden die tödlichen Sicheln gespannt. Langsam bewegten sich die Sichelblätter der Bordwand entgegen. Sie waren mit Spannwinden verbunden. Binnen eines Herzschlags konnte man sie wieder vorschnellen lassen, doch sie zu spannen, erforderte große Kraft. Unter den Trollen erhob sich Jubelgeschrei. In hellen Scharen stürmten sie den Männern auf dem Eis entgegen, während Ragni die Schwertwal in Richtung der Klippen steuerte. Sein Schiff hatte wieder an Fahrt aufgenommen. Die Trolle, denen er entgegenhielt, warfen sich zu Boden, um den tödlichen Sichelklingen zu entkommen.
Die Lage der Männer auf dem Eis hingegen wurde immer verzweifelter. Sie waren von Trollen umringt und setzten sich verbissen zur Wehr.
»Nimm Fahrt weg!«, rief Alfadas Fenryl zu.
Der Elf sah ihn zweifelnd an, gehorchte aber dem Befehl. Wenn sie zu schnell waren, würde kaum einer es schaffen, nach den Rettungsseilen zu greifen. Waren sie aber zu langsam, dann würden die Trolle in Scharen versuchen, die Rosenzorn zu entern.
Alfadas griff nach einem der Rettungsseile. Er band es sich um die Hüften und vergewisserte sich, dass ein Ende sicher an der Reling vertäut war. Wenn er auf dem geschwungenen Stützbalken der Kufen balancierte, war er wenigstens nicht dazu verdammt, dem Massaker an seinen Männern einfach nur zuzusehen. Es war leichter, nach einer ausgestreckten Hand zu greifen als nach einem Seil, das auf dem Eis hin und her schlingerte.
Plötzlich war Lambi an seiner Seite. »Das machst du nicht allein!« Auch er schlang sich ein Seil um die Hüften. »Lieber geh ich mit dir zusammen drauf, als deiner Frau erzählen zu müssen, dass du verreckt bist, weil du mitten in einer Schlacht ein Tänzchen auf den Kufen eines fahrenden Eisseglers aufgeführt hast. Ich wünschte, ich wäre dir nie begegnet, du Irrer!« Ein Lächeln nahm Lambis Worten die Schärfe. Dann schwang er sich als Erster über das Schanzkleid. Alfadas folgte ihm.
Die Sichelklingen der Rosenzorn lagen nun wieder eng an die Bordwand geschmiegt. Alfadas blickte auf die stählerne Kufe hinab, die mit drohendem Sirren über das Eis schrammte. Sie war nicht breiter als die Schneide eines Schwertes. Handbreite Holzbögen verbanden die Kufen mit dem Schiffsleib. Der Herzog hangelte sich ein Stück an der Reling entlang und ließ sich dann auf einem der Bögen nieder. Er umklammerte das Holz mit den Beinen und verhakte seine Füße ineinander, um einen besseren Halt zu haben. Hoffentlich würde Asla nie davon erfahren, dachte er. Noch einmal prüfte er den Sitz des Sicherungsseils um seine Hüften.
Die Rosenzorn hatte stark an Fahrt verloren. Sie bewegte sich nicht mehr schneller als ein laufender Mann und hielt geradewegs auf ein dichtes Knäuel von Trollen zu.
»Heho, ihr riesigen Dreckfresser«, schrie der Jarl. »Hier kommt Lambi, um euch die Ärsche zu streicheln.« Wie Alfadas saß er rittlings auf einem der Stützbögen. Er streckte sich weit vor und winkte den Trollen mit der Linken.
Ein nackter Trollkrieger mit einem Streithammer kam seitlich auf den Eissegler zugelaufen. Er hatte den Blick fest auf Alfadas gerichtet. Mit Leichtigkeit hielt der Troll mit dem Segler mit und schloss sogar immer dichter auf. Dabei ließ er den Kriegshammer über seinem Kopf kreisen.
Alfadas wurde sich bewusst, wie wenig Spielraum er hatte, einem Schlag auszuweichen, wenn er sich nicht von seinem Sitzplatz fallen lassen wollte. Er blickte zu den Stahlkufen hinab, die zischend über das Eis glitten. Sie waren rot von gefrorenem Blut. Sich fallen zu lassen, wäre keine gute Idee!
Plötzlich wurde der Troll in vollem Lauf nach hinten gerissen. Ein dunkler Armbrustbolzen ragte ihm dicht über der Nase aus der Stirn.
Veleif beugte sich über die Bordwand. »Ich habe allen Armbrustschützen befohlen, auf dich und Lambi aufzupassen. Wir werden ...« Die Worte des Skalden gingen in wildem Geschrei unter. Die Rosenzorn stieß in den Pulk der Trolle hinein. Auch wenn die Sichelblätter eingezogen waren, riss der Rumpf des Seglers etliche Feinde zu Boden. Alfadas sah, wie die messerscharfen Kufen einem Krieger beide Beine abtrennten.
Der Herzog duckte sich unter einem Axthieb. Dem Angreifer wurde die Waffe aus der Hand gerissen, als sich deren Schneide in das Holz der Bordwand fraß. Warmes Blut spritzte Alfadas von den Kufen ins Gesicht. Blinzelnd versuchte er zu erkennen, was vor dem Rumpf vor sich ging. Ein letztes Häuflein Überlebender stand Rücken an Rücken beisammen. Die Trolle hatten sich ein wenig zurückgezogen, um sich vor den Kufen der Eissegler in Sicherheit zu bringen.
Ein Schatten zog an der Rosenzorn vorbei. Die Weidenwind war ebenfalls zur Rettung der Überlebenden eingetroffen. Sie machte jedoch noch wesentlich mehr Fahrt. Lysilla und zwei andere Elfen, die Alfadas nicht kannte, hatten sich Seile umgebunden und stützten sich mit beiden Beinen schräg gegen die Bordwand. Lysilla deckte ihre Gefährten mit zwei wirbelnden Schwertklingen. Mit einem lässigen Hieb prellte sie einen Wurfspeer aus seiner Flugbahn und versetzte einem Troll, der seine Hände nach ihr ausstreckte, einen zielsicheren Stich ins Auge. Dann waren sie bei den Überlebenden.
Kräftige Hände umklammerten einander. Lysilla ließ ihre Waffen fallen und zog einen verwundeten Elfen an Bord.
Alfadas wandte seinen Blick ab, um den Moment, in dem er zupacken musste, nicht zu verpassen. Über ihm war das scharfe Klacken der Armbrüste zu hören, mit denen seine Besatzung die Trolle auf Abstand hielt.
Unter den Überlebenden, die ihnen jetzt mit verzweifelt ausgestreckten Händen entgegenliefen, erkannte der Herzog Egil Horsason, den Sohn des Königs. Der junge Mann stützte zwei Verwundete.
Die ersten Krieger erreichten Alfadas. Er griff nach ausgestreckten Händen, er zog die Fliehenden zu sich heran und half ihnen, nach den Tauen zu greifen, die von der Bordwand hingen. Wer ein Tau zu packen bekam, war binnen Augenblicken an Bord gezogen. Wie Ertrinkende klammerten sich die Männer an Alfadas. Einige wurden vom Eissegler mitgeschleift.
Obwohl das Schiff so langsam fuhr, war es immer noch zu schnell für die Verwundeten. Der Herzog sah Männer, die hilflos schreiend ihre Hände emporreckten. Humpelnd oder gar kriechend strebten sie der Rosenzorn entgegen.
Egil half seinen beiden Kameraden, Seile zu ergreifen. Dann ließ er sich zurückfallen und eilte noch einmal hinaus auf das Eis. Er war unverletzt. Der Königssohn packte einen der Verwundeten. Mit einem Ruck wuchtete er ihn sich auf die Schultern und begann zu laufen.
Lambi winkte ihm zu. »Lass ihn liegen, du Trottel! Du schaffst es nicht.« Die Trolle bewarfen die beiden Schiffe nun mit Eisbrocken. Ein dunkelhaariger Elf wurde in den Rücken getroffen. Der Schlag ließ ihn Alfadas in die Arme taumeln. Das Albenkind hustete ihm warmes Blut ins Gesicht. Alfadas stemmte ihn hoch. Hände griffen über die Reling und zerrten ihn hinauf.
Egil rannte indessen, so schnell ihn seine Beine trugen, und Norgrimm selbst schien seine schützende Hand über den Königssohn zu halten. Kein Geschoss traf ihn. Langsam holte er auf.
Alfadas reckte sich so weit zurück wie nur irgend möglich. Ein paar Zoll trennten sie noch. Egil streckte seine Rechte vor. Ihre Fingerspitzen berührten sich. Er griff um Alfadas‘ Handgelenk. Sein Gesicht war verzerrt vor Anstrengung. »Nimm ihn!«, keuchte er und schob die Hand des Herzogs hoch, sodass er den Gürtel des Verwundeten zu packen bekam. »Ich schaff es schon!«
Alfadas fluchte. Er zerrte am Gürtel und warf sich zugleich zurück. Über ihm zerspritzte ein Eisklumpen an der Bordwand. Kalte Splitter trafen ihn im Nacken. Hastig schlang er ein Seilende um den Gürtel des Verletzten. Der Mann wurde hochgezogen.
Egil war ein wenig zurückgefallen. Sein Atem ging keuchend. Das Gesicht des Königssohns war rot vor Anstrengung.
»Los, Mann. Du schaffst es!«, feuerte Alfadas ihn an.
Wieder berührten sich ihre Fingerspitzen. Alfadas streckte sich verzweifelt. Egil war am Ende. Ihre Hände verloren einander. Alfadas warf sich nach vorne. Das Sicherungsseil würde ihn schon halten. Wenn er Egil zu packen bekam, würde man sie beide gemeinsam hochziehen.
Ihre Hände verhallten ineinander. Alfadas stürzte zwischen die Kufen auf das Eis. Im Fallen riss er Egil mit sich. Der Herzog drehte sich. Verzweifelt hielt er den Königssohn fest. Er sah die Axt in der Bordwand. Über ihr pendelte ein ausgefranstes Seil im Fahrtwind.
Der Rumpf des Eisseglers glitt über ihn hinweg. Alfadas versuchte, mit der Linken eine der Querstangen zu umfassen, auf denen der Schiffsrumpf auflag. In Todesangst schlossen sich seine Finger um das vereiste Holz. Halb kniend wurde er nun über das Eis gezogen. Mit der Rechten hielt er noch immer Egils Hand.
»Greif nach meinem Gürtel!«, schrie er. »Ich brauche beide Hände, sonst kann ich uns nicht halten!« Langsam glitten seine Finger von dem Rundholz ab.
Alfadas‘ Muskeln waren zum Zerreißen gespannt. Er wollte Egil näher an sich heranziehen, damit dieser besser nach dem Schwertgurt greifen konnte.
Etwas berührte leicht die Schulter des Herzogs. Weiße Schemen glitten an ihnen vorbei. Unebenheiten im Eis! Ein Eisbrocken schrammte an Alfadas‘ Knie entlang. Er stöhnte vor Schmerz. Er konnte nicht mehr! Das Rundholz, an das er sich klammerte, war zu dick, um es ganz zu umgreifen.
Egil sah zu ihm auf. Er hielt sich mit der Linken an Alfadas‘ Hose fest. Der junge Krieger lächelte. »Es war richtig, mit dir zu gehen, Herzog. Jetzt rette dich!« Mit diesen Worten ließ er los.
»Nein!« Alfadas schrie aus Leibeskräften. Aber es war sinnlos. Er konnte Egil nicht mehr retten.
Zitternd vor Schmerz und Erschöpfung, griff Alfadas auch mit der zweiten Hand nach der Querstange. Zwischen den Holzstreben hindurch konnte er sehen, wie Egil sich aufrichtete, als das Schiff über ihn hinweggeglitten war. Der Königssohn zog sein Schwert. Ein Troll mit einem Kriegshammer kam auf ihn zugerannt. Egil lief ihm entgegen und verschwand aus Alfadas‘ Gesichtsfeld.
Griff um Griff hangelte sich Alfadas an der Stange entlang zur Seite. Wenn er es schaffte, zurück an Deck zu kommen, würde er dem Schiff befehlen zu wenden. Vielleicht hielt Egil ja lange genug durch. Er konnte ihn doch nicht einfach zurücklassen!
Alfadas hakte seine Fersen an der Stützstrebe ein, um zusätzlichen Halt zu haben. Eisblöcke zischten seitlich an ihm vorbei. Der Segler gewann jeden Augenblick mehr an Fahrt. Alfadas blickte zum Bug. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er unter dem Segler weggerissen wurde. Verzweifelt sah er sich nach einer Möglichkeit um zu entkommen. Der einzige Weg hinauf führte über die Holzbögen, die Stahlkufen und Schiffsrumpf miteinander verbanden.
Breite Balken trennten das Quergestänge unter dem Schiff von den Seitenbögen.
Alfadas versteifte seinen Rücken und streckte die Arme vor. Für einen Augenblick hing er mit dem Kopf nach unten, nur noch mit den eingehakten Fersen an der Querstange. Weit hinter sich auf dem Eis sah er Egil fallen. Der Troll schlug zu. Es war vorbei.
Erschöpft schaffte es Alfadas, den Stützbogen zu packen. Mit letzter Kraft zog er sich hinüber. Einer der Armbrustschützen entdeckte ihn. Starke Hände packten den Herzog, und er wurde zurück an Bord gezogen. Lambi lächelte ihn an. »Ich wusste doch, dass du an dem Schiff klebst wie ein Floh auf ‚nem Hundearsch. Du hast uns ganz schön erschreckt, Mistkerl.« Er reichte dem Herzog die Hand. »Komm hoch und sieh dir an, was Ragni macht, dieser verdammte Bastard.«
Noch ganz benommen trat Alfadas an die Reling. Die Schwertwal raste in voller Fahrt den Passweg hinab und pflügte sich einen blutigen Weg durch die Marschkolonne, die zum Hochplateau marschierte. Es gab dort keine Möglichkeit, dem Eissegler auszuweichen. Plötzlich rammte die Schwertwal einen großen Lastschlitten, neigte sich zur Seite und überschlug sich dann. Die Masten wurden zerfetzt. Und noch immer rutschte der schwere Holzrumpf weiter.
»Nie hat ein einzelner Mann so viele Trolle getötet«, sagte Veleif ehrfürchtig.
»Er hat seine Mannschaft dafür geopfert, der Dreckskerl. Für mich ist er kein Held!«, stellte Alfadas klar. »Opferst nicht auch du in der Schlacht mit jedem deiner Befehle Männer für den Sieg?«, fragte der Skalde. »Hat Ragni etwas anderes getan als du?«
Alfadas fehlten die Worte. Erschöpft wandte er sich ab. Sieben Mann hatten sie retten können. »Wie viele haben es an Bord der Weidenwind geschafft?«
Lambi zuckte mit den Schultern. »Ich glaube nur drei oder vier. Mehr als siebzig sind auf dem Eis geblieben. Wer war der Kerl, der die Verwundeten geschleppt hat? Ich hab sein Gesicht schon einmal gesehen. Aber ich erinnere mich nicht mehr, wo.«
»Man konnte ihm im Gefolge König Horsas begegnen.«
Der Jarl runzelte die Stirn. Dann klappte ihm der Kiefer herunter. »Das war ...«
»Ja, das war Egil Horsason. Ich wünschte, ich hätte ihm das Kommando über die Schwertwal gegeben. Er hätte seine Männer nicht seinem Ruhm geopfert. Und vielleicht wäre er eines Tages ein großer König geworden.« Alfadas winkte dem Elfengrafen am Ruder. »Bring uns zurück nach Phylangan.«
»Du hast uns heute zu einem großen Sieg geführt!«, sagte Lambi ungewohnt feierlich. »Und du hast Egil einen Platz an Norgrimms Festtafel verschafft. Der Junge, den ich heute gesehen habe, hatte mit dem großmäuligen Hurenbock, der einmal Horsas Sohn war, nicht mehr viel gemein.«