Nur ein Wort

Gehetzt zog sich Kalf auf den Wehrgang der zweiten Palisade. Gerade außerhalb der Bogenreichweite sammelten sich die Trolle. Deutlich zeichneten sich ihre Umrisse im Mondlicht vor dem Schnee ab. Sie formierten sich zu einer Kolonne.

Kalf blickte den Wehrgang entlang. Ein Stück entfernt stand der Wagenbauer. Sigvald stützte sich auf den Schaft eines Stangenbeils. Er schien kaum noch die Kraft zu haben, sich auf den Beinen zu halten.

»Wo sind unsere Bogenschützen?«, rief Kalf.

Der Wagenbauer deutete zu dem Steilhang im Westen der Palisade. »Kodran hat sie dort hinaufgeschickt. Er wollte nur Kämpfer auf dem Wall haben, keine Kinder.«

Kalf nickte. Er legte den Kopf in den Nacken und spähte zum Rand der Klippe. Dort rührte sich nichts. Es war ein Fußweg von fast einer halben Stunde bis nach dort oben. Kodran wollte die Kinder und jungen Männer retten. Der Fischer seufzte. Die Trolle hatten sich zwei Tage Zeit gelassen, um ihren neuen Angriff vorzubereiten. Vielleicht brauchten sie ja noch ein wenig länger.

Die zweite Palisade am Ende des Passwegs war nicht so hoch wie der Wall, den sie verloren hatten. Es würde den Trollen leichter fallen, sich hinaufzuziehen. Sie hatten auch weniger Zeit gehabt, die Verteidigungsanlage mit zusätzlichen Stämmen zu verstärken. Der Kampf würde härter werden. Aber die Männer, die hier standen, waren auch die besseren Kämpfer. Auf der ersten Palisade waren jene gefallen, die kein Geschick im Kampf oder einfach kein Glück hatten. Die Überlebenden waren ein härterer Gegner. Und zuletzt, auf der Barrikade nahe dem Dorf, würden nur noch die Besten stehen.

Ein dunkel röhrendes Horn erklang. In die Trolle unten am Passweg kam Bewegung. Sie scharten sich um etwas, das im Schnee lag. Trommelschlag erscholl. Ein langsamer, bedrohlicher Rhythmus.

Kalf kniff die Augen zusammen. Was ging dort unten vor sich? Die Trollkrieger hatten sich zu einer Kolonne formiert. Der Fischer blickte zur Klippe hinauf. Die Bogenschützen waren noch nicht angekommen.

»Was treiben die Bastarde unten am Pass?«, fragte eine wohl vertraute Stimme. Asla! Sie sollte nicht hier sein! Kalf seufzte. Es wäre sinnlos zu versuchen, sie zurückzuschicken.

»Ich glaube, die Trolle wollen uns beeindrucken, indem sie Händchen halten, Herzogin«, rief Kodran. Gelächter erklang. Selbst Kalf musste schmunzeln. Mit Asla kehrte die Hoffnung zurück und das Lachen. Er wusste nicht, wie sie das schaffte. Es war wie ein Wunder.

»Wo hast du dein Kettenhemd, Herzogin?«, fragte Sigvald.

»Um mich mit Händchen haltenden Trollen anzulegen, brauche ich kein Kettenhemd. Wahrscheinlich hätte es sogar genügt, statt meines Schwertes einen großen Kochlöffel mitzubringen.«

Unten am Pass erklang ein einzelner Kommandoruf. Die Trolle hoben etwas an. Sie hielten sich nicht bei den Händen, sie trugen jetzt etwas. Alle gemeinsam!

Im Takt des Trommelschlags setzte sich die Marschkolonne in Bewegung. Kalf weigerte sich zu glauben, was er dort sah. Das war das Ende! Es durfte nicht sein. »Sie tragen einen Baumstamm«, flüsterte Sigvald. Dieser Baum musste hundert Winter und mehr kommen und gehen gesehen haben, bevor die Trolle ihn gefällt hatten. Der Stamm war mehr als dreißig Schritt lang und hatte einen Durchmesser wie ein großes Wagenrad.

Der Takt der Trommel unten im Passweg steigerte sich langsam. Obwohl es bergan ging, beschleunigten die Trolle ihre Schritte.

Kaff blickte wieder zur Klippe hinauf. Dort standen noch immer keine Bogenschützen! Nichts würde die Trolle aufhalten.

»Runter vom Wehrgang!«, rief der Fischer. »Runter mit euch!« Er packte einen Mann und stieß ihn hinab in den Schnee. »Lauft zu den Langspeeren.«

»Was soll das?«, zischte Asla wütend.

»Der Wall ist nicht zu halten. Sie werden beim ersten Ansturm durchbrechen. Wer dann hier oben steht, ist des Todes. Lauf zum Dorf hinauf! Ich werde versuchen, dir etwas Zeit zu verschaffen. Nimm die Kinder und die Alten. Flüchtet in die Berge, zu den Höhlen.«

»Du kannst doch nicht einfach ...«

Kaff packte sie und zwang sie, zu den Trollen hinabzublicken. Die Angreifer waren kaum noch hundert Schritt entfernt.

»Siehst du den Stamm, den sie tragen? Er ist schwerer als all das Holz, das in dieser Palisade steckt. Was glaubst du, was passieren wird?«

Asla drückte seine Hände nieder. »Ich bleibe bei dir«, sagte sie fest.

»Dann lässt du die Kinder sterben! Denk an Kadlin. Ihr müsst fliehen. Schnell!« Er küsste sie auf die Stirn. Dann hob er sie vom Wehrgang hinab.

»Los, los, herunter hier!« Die meisten Männer folgten seinem Befehl. Nur noch zwanzig Schritt. Der Trommelschlag dröhnte in Kalfs Ohren. Er sprang. Federnd landete er im Schnee. »Zu den Langspeeren. Wir machen einen Gegenangriff, wenn sie durchbrechen!« Stolpernd hastete er voran, dorthin, wo ein Spalier dünner Speere aus dem Schnee ragte. Die meisten Männer liefen einfach weiter. Kalf konnte es ihnen nicht verdenken. Er riss einen der Speere an sich.

Die Trolle brüllten einen markerschütternden Schlachtruf. Ihre Trommel schlug jetzt schneller als Kalfs Herz. Winkend sammelte der Fischer einige der Flüchtenden um sich. Kodran war dabei und ein Bäcker aus Honnigsvald. Männer, die niemals Krieger hatten sein wollen. In verzweifelter Wut hielten sie die langen Speere umklammert.

Kalf richtete die kleine Schar der Tapferen zu einer Reihe aus, als mit infernalischem Krachen der Rammbock durch den Wall stieß. Gleich im ersten Ansturm brachen die Trolle hindurch. Die Baumstämme der Palisade knickten wie Grashalme. Sofort drängten die ersten Feinde durch die Lücke.

»Angriff!«, schrie Kalf. Alles um ihn herum verblasste. Er sah nur noch einen Trollkrieger, der sich mit Ruß breite Streifen auf die nackte Brust gemalt hatte. Der Kerl stieg über einen zersplitterten Stamm hinweg. Pfeile gingen auf die Trolle in der Bresche nieder. Endlich! Doch der Beschuss hielt sie nicht auf. Sie spürten, wie nah der Sieg war.

»Angriff!«, rief Kalf immer verzweifelter. »Angriff!.« Er schrie gegen seine eigene Angst an.

Die Beine fest in den Schnee gestemmt, rammte er dem Troll seinen Speer in die Brust. Die eiserne Spitze drang tief ins Fleisch, traf auf eine Rippe, wurde nach oben abgelenkt und trat dicht neben dem Hals wieder aus. Der Troll warf den Kopf in den Nacken und brüllte.

Die plötzliche Bewegung riss Kalf den Speer aus der Hand. Er zog sein Schwert. Mit beiden Händen umklammerte er den langen, lederumwickelten Griff.

Sein Gegner zerbrach den Schaft des Speers. Mit einem wütenden Hieb versuchte er Kalf auf Abstand zu halten.

Der Fischer duckte sich unter dem Blatt der Steinaxt hinweg. Sein Gegner riss die linke Hand hoch. Das Schwert traf ihn zwischen den Fingern, fuhr knirschend durch Knochen und Handgelenk bis in den Arm hinauf. Kalf dröhnten die Ohren vom Geschrei. Sein Schwert steckte im Arm des Trolls fest. Wie ein kleines Kind schüttelte dieser ihn zur Seite. Er fiel in den Schnee. Schwere Füße stampften an ihm vorbei. Immer mehr Feinde drängten durch die Bresche, und er hatte keine Waffe mehr, sie zu bekämpfen. Tränen der Wut standen dem Fischer in den Augen, als er sich aufraffte und zu laufen begann. Er musste es bis zur Barrikade schaffen. Vielleicht konnten sie die Trolle dort noch einmal kurz aufhalten.

Die dünne Linie aus Speerträgern, die er gegen die Bresche geführt hatte, war zerschlagen. Die meisten lagen tot im Schnee. Wer noch lebte, rannte.

Strauchelnd kämpfte sich Kalf vorwärts. Die Trolle kamen im tiefen Schnee besser voran. Ein Stück voraus sah er Asla. Sie versuchte ein paar Männer aufzuhalten und eine neue Kampflinie zu bilden. Hier im offenen Gelände war das ein sinnloser Verzweiflungsakt. Sie würden sofort überrannt werden.

Kalf bückte sich und hob das Schwert eines Toten auf. Dann eilte er an Aslas Seite. Das war das Letzte, was er noch tun konnte: an ihrer Seite sterben. Fortzulaufen war zwecklos. Die Trolle würden sie lange vor der letzten Barrikade einholen.

Der Fischer sah, wie Kodran gepackt wurde. Ein Troll griff in sein Haar und riss ihn nach hinten. Sein Fuß krachte auf die breite Brust des Fährmanns. Es war eine Geste, als wolle der Troll Ungeziefer zertreten. Der Fährmann spuckte Blut und blieb reglos liegen.

Asla berührte sanft Kalfs Arm. »Du bist immer da«, sagte sie traurig. »Ich wünschte, ich hätte das früher begriffen.«

Der Troll, der den Fährmann getötet hatte, kam auf sie zugerannt. Er schwang eine große Keule. So also sieht der Tod aus, dachte Kalf.

Ein fremdes Wort klang durch die Nacht. Leise und doch eindringlich. Ihr Gegner ließ seine Keule sinken. Wie durch Zauberbann verharrten die Kämpfenden. Eine zierliche Gestalt in einem weißen Hemd löste sich aus dem Schatten des Waldes. Die Elfenkönigin war erwacht!

»Geh zurück!«, rief Asla. »Rette die Kinder!«

Emerelle kam nun genau auf sie zu. »Du also bist Asla«, sagte sie freundlich. »Ich danke dir für deine Gastfreundschaft.«

Kalf beobachtete, wie die Trolle sich ein wenig zurückzogen und zu kleinen Gruppen zusammenrotteten. Sie alle blickten auf die Königin. Manche gestikulierten wild. Der Frieden bröckelte.

»Geh und rette die Kinder!«, bat Asla noch einmal.

»Das werde ich tun. Bitte verzeih mir. Dieser Krieg hätte niemals in die Welt der Menschen getragen werden dürfen. Ich habe das nicht gesehen ... Ich ... Die Trolle sind um meinetwillen hier. Wenn ich mich stelle, dann werden die Kämpfe enden.«

»Nein, so darf es nicht enden!«, begehrte Asla auf. »So viele sind für dich gestorben. Du darfst dich jetzt nicht einfach ergeben!«

»Das ist der einzige Weg, die Kinder zu beschützen. Wenn ich gefangen bin, gibt es keinen Grund mehr für weitere Kämpfe. Lebe wohl, Asla, und verzeih mir, wenn du kannst.«

Ein einzelner Krieger kam Emerelle entgegen. Auf seiner Glatze spiegelte sich das Mondlicht. Die Elfe und der Troll wechselten ein paar Worte. Dann gab der Krieger seinen Männern ein Zeichen, sich zurückzuziehen. Tränen der Wut rannen Asla über die Wangen. Kalf legte ihr einen Arm um die Schultern.

»Es ist vorbei.«

»Gar nichts ist vorbei! Welche Macht hat Emerelle als Gefangene? Wie sollte sie die Trolle davon abhalten, uns morgen aufs Neue anzugreifen? Diese Bestien fressen uns. Sie werden wieder kommen. Emerelle hätte nicht gehen dürfen!«

»Aber vielleicht ...«

Asla befreite sich aus seiner Umarmung. »Nein, vielleicht ist nicht genug. Dort oben ist mein letztes lebendes Kind. Ich werde Kadlin holen und alle, die mit mir gehen wollen. Nutzen wir die Zeit und fliehen tiefer in die Berge.«

»Ich werde nicht mit dir gehen. Mein Platz ist bei der letzten Barrikade. Wenn die Trolle uns verraten, werde ich sie dort so lange wie möglich aufhalten. Und wenn sie abziehen, dann komme ich in die Berge, um dich zu holen.«

»Ich ...« Asla biss sich auf die Lippen. »Ich warte auf dich.«

»Luth wird uns schützen«, sagte Kalf zuversichtlich. Er vertraute auf den Schicksalsweber. Der Gott war ihm immer gnädig gewesen.

Asla senkte den Blick. »Vielleicht«, sagte sie leise. Dann ging sie hinauf zum Dorf.

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