Die Götterpeitsche

»Was kann das gewesen sein? Keine Kreatur aus meiner Welt tut Kindern so etwas an!« Asla flüsterte, aber das nahm ihren Worten nichts an Schärfe.

»Ich kenne auch in meiner Welt kein Wesen ...« Yilvinas Stimme brach. »Ich weiß nicht, was es war. Wirklich nicht.«

Tränen standen dem Priester in den Augen. Er hatte Halgard nur an ihrer Mantelbrosche erkannt, als er sie im feuchten Gras gefunden hatte.

Bei allen Göttern, was hatten sie nur getan, dass ein solches Strafgericht über das Dorf gekommen war? In Augenblicken wie diesem zweifelte er an der Weisheit Luths. War das Mädchen nicht gestraft genug? Sie hatte ihren Vater verloren. Sie war blind. Und nun das! Ihr Gesicht war welk wie das einer Greisin. Dunkle Altersflecken zeichneten Wangen und Stirn. Und das Haar der Kleinen war schlohweiß. Gundar ließ den Vorhang vor der Bettnische niedersinken. Das Mädchen lag in tiefem Schlaf. Er war froh, der Kleinen nicht mehr ins Antlitz sehen zu müssen. Ein Kind sollte so nicht aussehen, dachte er voller Zorn. Wer konnte einem kleinen Mädchen so etwas antun?

Halgard wusste noch nicht, was mit ihr geschehen war. Sie war sehr müde gewesen. Allerdings hatte sie sich über ihre raue Stimme gewundert, die ihr ganz fremd erschien.

Gundar schluckte, als er an die Lügen dachte, die er Halgard ins Ohr geflüstert hatte. Er hatte nicht den Mut gehabt, ihr die Wahrheit zu sagen. Sie wusste auch nicht, dass ihre Mutter tot war.

Der Luthpriester ging zum Tisch, der dicht bei der Feuergrube stand, und ließ sich mit einem Seufzer nieder. Asla stellte ihm eine Schüssel mit dampfender Fischbrühe hin, doch er schob sie von sich. Er konnte jetzt nicht essen.

Hätte er nur gestern geschwiegen! Dann wäre dem Mädchen nicht die Jugend gestohlen worden, und Alfeid, ihre Mutter, würde noch leben.

»Es muss ein Geist sein«, sagte Yilvina. »Es gab keine Spuren. Weder auf dem schlammigen Pfad noch im Gras. Und es tötet, ohne Blut zu vergießen.«

Gundar betrachtete die Maserung des Holztischs. Ja, an einen Geist hatte er auch schon gedacht. Aber woher sollte der kommen?

Er hatte seine Bibliothek aus immerhin drei Büchern zu Rate gezogen, aber keine Antwort gefunden, die zu den Vorfällen im Dorf passen wollte. Nur im Buch der Omen hatten einige wenige Zeilen über Geister gestanden. Es kam dann zu Erscheinungen, wenn jemand verstarb, der eine wichtige Angelegenheit in seinem Leben nicht hatte vollenden können. Meistens ging es dabei um Rache oder Liebe.

Manches Mal wurde ein Geist auch zur Heimsuchung der Lebenden von den Göttern geschickt. Aber es gab keinen Frevel, den die Götter strafen mussten. Als Priester hätte er es gewusst, falls ein Gottesfrevel geschehen wäre, der eine solche Strafe verdiente. Das hätte ihm nicht verborgen bleiben können! Auch war im Dorf den ganzen Spätsommer über niemand gestorben. Es gab niemanden, der zum Geist hätte werden können. Erst seit diese Kreatur ihr Unwesen trieb, war der Tod in Firnstayn zum steten Gast geworden. Also mussten sie doch die Götter erzürnt haben, überlegte Gundar. Aber wodurch? Weil sie das Tor in die Welt der Elfen geöffnet hatten? Fest stand, dass ihre Probleme erst nach dem Abschied von Alfadas und seinem Heer begonnen hatten. War das ein Zufall? War vielleicht etwas durch das Tor gekommen? »Gibt es in Albenmark Geister?«, fragte Gundar.

»Nein«, entgegnete die Elfe entschieden. Sie hatte sich wieder auf dem Schemel neben dem Lager der bewusstlosen Königin niedergelassen. Wie ein nimmermüder Wachhund hockte sie dort nun schon seit Wochen, bereit, ihr Leben für Emerelle zu geben.

In einem Haus, in dem nur eine Mutter mit zwei Kindern und ein Schwerverletzter lebten, der sich wohl nie mehr von seinem Bett erheben würde, erschien ihm ihr Gebaren reichlich übertrieben.

»Die Alben, unsere Urahnen, haben alle Geschöpfe der Finsternis vertrieben«, fuhr Yilvina fort. »Die Devanthar und die Yingiz. Sie alle sind tot oder auf ewig in die Finsternis zwischen den Welten gebannt.« Asla hatte sich zu Gundar an den Tisch gesetzt. Sie riss ein neues Leinentuch in Streifen.

»Was sind das für Wesen? Dämonen? Ich bin nur eine Fischerstochter«, setzte sie leicht gereizt nach. »Mir muss man solche Namen erklären.«

»Verzeih meinen Fehler.« Yilvina erhob sich, ging zur Feuergrube hinüber und stocherte mit einem Stecken in der Glut.

Einen Augenblick erschien es Gundar, als wolle die Elfe nicht antworten. Als sie dann doch sprach, tat sie es nur zögerlich und stockend. Sie schien jedes ihrer Worte sorgsam abzuwägen. Hatte sie Angst, die alten Schrecken lebendig werden zu lassen, indem sie darüber redete?

»Die Devanthar hassten jede Form der Ordnung. Wann immer etwas vollendet war, mussten sie es zerstören, um etwas Neues zu erschaffen. Ordnung war für sie der Stillstand aller Dinge. Besser kann ich es nicht erklären, denn das Volk der Devanthar wurde vor sehr langer Zeit von den Alben vernichtet.

Die Alben waren es, die alle Welten und Völker erschufen, die wir heute kennen. Und um ihre Schöpfung zu schützen, mussten sie die Devanthar vernichten. So gewaltig war dieser Kampf, dass eine Welt dabei zerbrach. Der Anblick der Schrecken dieses Krieges verletzte viele der Alben zutiefst in ihrer Seele. Damals begannen sie Albenmark zu verlassen oder sich in die Einsamkeit zurückzuziehen. Sie suchten Orte wie das Albenhaupt, um für Jahrhunderte in Abgeschiedenheit zu meditieren.

Mit den Yingiz war es anders. Dies waren Geschöpfe aus reiner Boshaftigkeit, die sich allein am Leid anderer zu erfreuen vermochten. Sie wurden in die Dunkelheit zwischen den Welten vertrieben.«

»Das ist es!«, rief Gundar. Jetzt bekam ihr Feind endlich ein Gesicht. »So ein Geschöpf der Dunkelheit muss durch das Tor in unsere Welt geschlüpft sein!«

»Das ist ausgeschlossen!« Yilvina zerbrach den Stecken und warf ihn in die Glut. »Die Alben haben die Tore und auch die Pfade durch das Nichts mit starken Schutzzaubern umgeben. Noch nie ist ein Yingiz zurückgekehrt. Wir wissen nicht einmal mehr, wie sie ausgesehen haben. Es muss etwas anderes sein, was das Dorf belagert. Gibt es denn hier in der Anderen Welt keine Geister?«

Gundar nickte zögernd. »Doch. Auch wenn ich noch nie einen gesehen habe.«

»Etwas aus Fleisch und Blut hat Halgard jedenfalls nicht angegriffen. Davon hätte ich Spuren gefunden! Es muss ein Geist sein!«, beharrte die Elfe. »Glaube mir, ich bin eine erfahrene Jägerin.«

Ole wand sich stöhnend auf seinem Lager. Da war er wieder... Dieser Geruch, der Gestank eines offenen Grabes. Gundar nahm einen Tannenzweig und warf ihn ins Feuer. Knisternd verglühten die trockenen Nadeln. Weißer, angenehm duftender Rauch breitete sich aus.

Es war sinnlos, mit der Elfe zu reden. Sie würde niemals einsehen wollen, dass diese Morde vielleicht doch etwas mit ihr oder der Königin zu tun haben könnten.

Asla erhob sich und sah zu Gundar hinüber. Ein stummer Hilfeschrei lag in ihrem Blick. Sie sammelte die Leinenstreifen auf und ging hinüber zu Oles Lager.

Der Priester nahm die irdene Flasche auf dem Tisch und füllte sich einen Becher. Hastig stürzte er den Apfelschnaps herunter. Er brannte in der Kehle. Gundar traten Tränen in die Augen. Dann ging er hinüber zu Asla. Als sie die Decke vor der Bettnische zur Seite zog, wurde ihm übel. Durchdringender Verwesungsgeruch schlug ihnen entgegen.

Ole hatte die Augen weit aufgerissen, doch er erkannte sie nicht. Seine Augäpfel waren nach oben gerollt, sodass man nur noch das Weiße sah. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn.

Asla tupfte ihrem Onkel mit einem Tuch über das welke Gesicht. Ole blinzelte dabei nicht einmal.

Dann schlug sie die Bettdecke zurück. Die Verbände an Oles Beinstümpfen waren mit bräunlichem Sekret durchtränkt. Asla nahm ein Messer und begann die Leinenstreifen zu zerschneiden. Sie packte mit spitzen Fingern zu und versuchte ihren Onkel so wenig wie möglich zu berühren.

»Blaue Funken ...«, murmelte Ole und begann zu kichern.

»Ruhig, Onkel, ruhig.« Asla strich ihm über die Stirn.

»Die Götterpeitsche ...« Der Hundezüchter stieß einen tiefen Seufzer aus. »Götter ...«

Asla sah zu Gundar auf. »Jetzt.«

Der Priester lehnte sich vor und drückte Ole mit beiden Händen auf dessen Lager. Im selben Augenblick zog Asla die Verbände ab. Der Stoff klebte an den offenen Wunden. Ole schrie wie ein Tier und versuchte sich aufzubäumen. Dunkler Eiter troff aus dem fauligen Fleisch.

Gundar atmete nur noch flach durch den Mund. Der Gestank war atemberaubend. Er musste wegsehen und hatte Mühe, seine Übelkeit zu unterdrücken.

Asla arbeitete hastig. Sie wusch die Wunden mit Branntwein aus. Ihr Onkel lag jetzt ganz still. Er war ohnmächtig geworden. Wie dürre Äste ragten zwei Knochen aus dem zerfetzten Fleisch. Die Haut der Oberschenkel war unnatürlich weiß. Deutlich hoben sich die Adern ab, entzündete rote Linien, die sich zu den Leisten hinaufzogen.

Asla wickelte frisches Leinen um die Beinstümpfe. Dunkle Flecken tränkten das Tuch.

Der Priester blickte der jungen Frau ins Gesicht. Er konzentrierte sich auf die feinen Fältchen, die ihre Augen rahmten. Sie war immer noch schön. Ihr goldenes Haar hing ihr in einem schweren Zopf über die Schulter. Gundar verstand, dass Kalf sie einfach nicht vergessen konnte.

Asla wechselte auch die Verbände an den Handstümpfen. Ihr Onkel lag noch immer in tiefer Bewusstlosigkeit. Was hatte er gemeint, als er von einer Götterpeitsche sprach?

Gundar hielt den Blick fest auf Aslas Gesicht gerichtet. Feine Schweißperlchen bildeten sich auf ihrer Stirn und benetzten ihre Augenbrauen. Endlich war sie fertig. Mit fahriger Geste wischte sie sich über die Stirn. Dann raffte sie die besudelten Verbände zusammen, warf sie in die Feuergrube und legte noch ein paar Tannenzweige darüber.

Gundar stand auf und schenkte sich noch einen Becher Branntwein ein. Seine Zunge fühlte sich pelzig an. Er hatte einen unangenehmen Geschmack im Mund, so als habe er von brackigem Wasser getrunken.

»Gibst du mir auch etwas?«, fragte Asla.

Sie stand über einen Eimer gebeugt und schrubbte sich mit einer Bürste. Als sie sich an den Tisch setzte, leuchteten ihre Hände feuerrot.

»Hat Kalf nicht eine von Oles Peitschen mitgebracht?« »Sogar zwei«, entgegnete Asla matt. »Sie lagen dort, wo er meinen Onkel gefunden hat.«

»Darf ich die einmal sehen?«

»Es sind nur seine Hundepeitschen. Diese grässlichen Dinger mit den Dornen drin. Du kennst sie doch.«

»Bitte.«

»Ich bin müde ...« Sie deutete auf eine eisenbeschlagene Kiste.

»Dort drinnen liegen sie. Was willst du damit?« Statt zu antworten, ging der Priester zu der Truhe. Yilvina folgte ihm mit neugierigen Blicken. Die beiden Peitschen lagen auf einem geflickten blauen Kinderkleid. Vorsichtig ließ der Priester eine der langen Lederschnüre durch die Finger gleiten. Erst vor kurzem waren mit hellen Lederriemen neue Metallstücke eingeflochten worden. Gundar prüfte eins nach dem anderen. Die Eisenteile, die von Anfang an zur Peitsche gehört hatten, waren nur mit dünnem Flugrost überzogen. Rieb man daran, glänzte das Metall sofort wieder silbrig. Die neuen Stücke sahen ganz anders aus. Hier hatte der Rost sich tief hineingefressen. Gundar betrachtete eine Messerspitze, von deren Schnittkante das Metall in Schichten abgeblättert war. Sie sah nun gestuft aus, als sei das Messer einmal aus vielen dünnen Eisenschichten zusammengefügt worden. Der Priester fand Ringe von Kettenhemden, Nägel, ein Stück von einem Pferdegeschirr. Überall war die Oberfläche körnig. Wind und Wetter hatten lange an diesen Metallstücken genagt. Er erinnerte sich an ein kurzes Gespräch, das er mit Ole geführt hatte. Der Hundezüchter hatte gemeint, er habe eine Pilgerreise gemacht und wolle nun mit Luths Hilfe seine Hunde das Gehorchen lehren. Gundar hatte das damals nicht ernst genommen ... Hastig stand der Priester auf und schob sich die Peitschen in den Gürtel.

»Und?«, fragte Asla.

»Er hat sich an den Göttern versündigt! Yilvina hat Recht. Die Bestie kommt nicht aus Albenmark oder dem Nichts. Ich hätte es wissen müssen! Die Leichen schreien es heraus, wer diese Strafe geschickt hat. Sie schreien es heraus!«

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