Der Weg in die Tiefe

»Wir dürfen dich nicht durchlassen.«

Ollowain trat einen Schritt zurück und maß die drei Wachen mit abschätzendem Blick. Die beiden Männer und die Frau trugen nur leichte Leinenrüstungen. Sie strahlten das Selbstbewusstsein erfahrener Krieger aus. »Ihr wisst, wer ich bin?«, fragte Ollowain.

»Der Sohn des Fürsten«, antwortete die Frau.

»Der Befehlshaber aller Truppen in Phylangan«, entgegnete der Schwertmeister scharf. »Ihr werdet euch im Schneehafen melden. Dort wird man euch eine sinnvollere Aufgabe zuweisen, als eine Treppe mitten im Berg zu bewachen.«

»Mit Verlaub, Schwertmeister. Wir gehören zur persönlichen Wache deines Vaters Landoran. Er ist der Einzige, von dem wir Befehle entgegennehmen.«

Ollowain klatschte in die Hände. Hufschlag und kaum hörbare Schritte erklangen weiter oben auf der Wendeltreppe. Orimedes und einige seiner Kentaurenkrieger erschienen auf dem breiten Treppenabsatz. »Dies ist der Fürst vom Windland«, erklärte Ollowain knapp. »Ich berufe ihn als meinen Zeugen, dass ihr mir in einer Festung, die sich auf eine Belagerung vorbereitet, den Befehl verweigert.«

Die Schritte auf der Treppe waren jetzt deutlicher zu hören.

»Schwertmeister!« Die Elfe ballte die Rechte zur Faust und streckte die Finger wieder. Dann legte sie die Hand auf den Schwertgriff. »Du kannst uns nicht dafür tadeln, dass wir unseren Befehlen gehorchen. Wir unterstehen allein deinem Vater.«

Ollowain wandte sich an den Kentaurenfürsten. »Wer sich den Befehlen des Militärkommandanten von Phylangan nicht fügt, ist für mich ein Meuterer. Würdest du die drei freundlicherweise über die Beschlüsse des Kriegsrates aufklären? Offenbar haben sie Schwierigkeiten, mich zu verstehen!«

Sein Kentaurenfreund musterte die drei Elfen voller Abscheu.

»Ich finde, du hast schon viel zu viele Worte gemacht. Du solltest mit ihnen verfahren wie mit den Meuterern im Waldmeer. Einfach kurzen Prozess machen. Ich werde das im Kriegsrat decken, falls dort über solche Kleinigkeiten überhaupt gesprochen werden sollte.« Eine Truppe von zehn Kobolden mit schweren Windenarmbrüsten erreichte das Ende der Treppe. Sie nahmen in Zweierreihe auf den unteren Stufen Aufstellung. Die Stützstöcke der Armbrüste scharrten auf dem grauen Stein. Quietschend betätigten die Kobolde die Stahlwinden und spannten ihre Waffen.

Die Elfe, die bisher das Wort geführt hatte, leckte sich nervös die Lippen. »Du kannst doch nicht...«

»O doch, er kann«, unterbrach sie Orimedes. »Und er tut das nicht zum ersten Mal.«

Die Kobolde legten Bolzen auf ihre Armbrüste. Einige sahen zweifelnd zu Ollowain. Lange würde dieses Spiel nicht mehr gut gehen.

»Was liegt am Ende der Treppe?«, fragte der Schwertmeister eisig.

Die Wachen sahen einander beklommen an. Schließlich antwortete einer der Männer. »Die Hallen des Feuers. Wir dürfen niemanden dort hinablassen. So hat es Landoran befohlen.« Es war drückend heiß auf der Treppe. Sie führte durch massiven Fels tief hinab zum Herzen des Berges. Ollowain spürte, wie sich ein einzelner Schweißtropfen auf seiner Stirn bildete. Er wischte ihn mit dem Handrücken fort. »Ich biete euch Folgendes an. Ihr lasst mich passieren, und ich überzeuge mich mit eigenen Augen davon, dass die Hallen des Feuers so bedeutend sind, dass wir um ihretwillen auf erfahrene Krieger verzichten, die für die Verteidigung der äußeren Festungsanlagen benötigt werden. Bis ich zurückkehre, steht ihr nur unter Arrest. Mein Gefolge wird euch bewachen.« Er sah kurz in Richtung der Kobolde. »Die Bolzen zurück in die Köcher!«, befahl er harsch.

Augenscheinlich erleichtert, kamen die Armbrustschützen dem Befehl nach. Auch die Wachen atmeten auf. »Du hättest nicht auf uns schießen lassen, nicht wahr?«, fragte die Elfe.

»Warum nicht?« Ollowain hob eine Braue – eine Geste, die er einst wochenlang eingeübt hatte, um alle Stimmungen zwischen herablassender Verwunderung und kaum beherrschtem Ärger ausdrücken zu können. »Glaubst du, das Volk, in dem ich nichts gelte, steht mir so nahe, dass ich sein Blut nicht vergießen würde, wenn es die Disziplin in dieser Festung erfordert?«

Die Elfe sah ihn unverwandt an. Sie wartete wohl auf ein Lächeln, das seine Worte entschärfte. Mit jedem Herzschlag, der verstrich, wirkte sie angespannter.

»Gebt den Weg frei!«, befahl Ollowain.

Die beiden Krieger gehorchten.

»Wie heißt der Älteste deiner Sippe?«, fuhr der Schwertmeister die Kriegerin an.

»Senwyn.«

»Senwyn aus der Sippe der Farangel?«

»Ja, er ist ...«

»Ich weiß, wer er ist, Mädchen. Er hat im letzten Trollkrieg unter meinem Befehl auf der Shalyn Falah gekämpft. Er ist ein ausgezeichneter Krieger. Ihm musste ich nie erklären, dass im Krieg der Gehorsam der Vater des Sieges ist.«

Die Elfe senkte beschämt die Augen und ließ ihn passieren.

Ollowains Stimmung schwankte zwischen Wut und Enttäuschung, als er tiefer die Treppe hinabstieg. Es war nicht das erste Mal, dass er in einem schier aussichtlosen Kampf den Befehl führte. Aber auch die letzte Hoffnung auf einen Sieg schwand, wenn hinter seinem Rücken Intrigen gesponnen wurden und er nicht darauf zählen durfte, dass ihm jeder Verteidiger bedingungslos vertraute. Doch was hätte er von seinem Vater anderes erwarten sollen! Misstrauen und Enttäuschungen, das war neben ihrem Blut das Einzige, was sie miteinander verband.

Ollowain hatte unter den Kobolden von Phylangan einiges über die Festung in Erfahrung gebracht. Etliche scheinbar harmlose Fragen bildeten die Steine eines Mosaiks, das sich zu einem erschreckenden Bild fügte. Fast zwei Drittel der kampffähigen Bewohner der Festungsanlage waren verschwunden. Sie schienen den Berg nicht verlassen zu haben. Auch viele Kobolde waren zu einem geheimnisvollen Dienst in der Tiefe abkommandiert. Und niemand war zurückgekehrt, um zu berichten.

Je weiter der Schwertmeister die Treppe hinabstieg, desto heißer wurde es. Der Geruch warmer Steine lag bedrückend in der Luft. Hier unten herrschte eine trockene Hitze, ganz anders als oben in der weiten Himmelshalle, wo es unerträglich schwül geworden war.

Ollowain traf auf keine weiteren Wachen. Kein Gang mündete auf die Wendeltreppe. In regelmäßigen Abständen fanden sich halbrunde Absätze, wo steinerne Sitzbänke zur Rast einluden. Hier waren die Wände mit schönen Fresken geschmückt, die Berglandschaften und weite Wolkenfelder zeigten. Manche der Bilder waren derart vollkommen, dass es dem flüchtigen Betrachter so erscheinen mochte, als blicke er durch eine Öffnung im Fels auf ein Tal. Sie ließen vergessen, dass man sich tief unter einem Berg befand.

Große Bannsteine in den Wänden tauchten die Treppe in ein weiches, blauweißes Licht, das an Sonnenlicht an einem diesigen Morgen erinnerte. Manchmal konnte man in den Wänden Wasser rauschen hören. Ollowain erinnerte sich an die Erzählungen Gondorans, des Holden, der sie durch die Zisternen von Vahan Calyd geführt hatte. Dort hatten die Normirga einst eine magische Pumpe gleich einem steinernen Herzen erschaffen, die das Wasser unter der Stadt in ständiger Bewegung hielt. Hier schien es, verborgen im Felsgestein, ein ähnliches Wunderwerk zu geben.

Endlich endete die Treppe in einer weiten Halle. Rote Säulen, deren unregelmäßige Oberfläche an Baumrinde erinnerte, mündeten in Kapitelle, aus denen sich geschwungene Stützstreben wie Äste verzweigten, um schließlich in dichtem goldenem Blattwerk zu enden. Die Halle war ein Wald aus Stein und Gold. Vom Treppenabsatz konnte der Schwertmeister keine Wände sehen, die diesen künstlichen Wald eingrenzten. Irgendwo voraus erklang das Echo von schlurfenden Schritten. Ollowain folgte dem Geräusch, das alle paar Augenblicke aus einer anderen Richtung zu kommen schien.

Unstetes, rötliches Licht flackerte zwischen den Säulen, heißer Nebel trieb durch den steinernen Wald. Der Schwertmeister erreichte einen marmornen Brunnen. Fontänen kochenden Wassers sprühten aus stilisierten, goldenen Blüten. Ollowains Kleidung war durchgeschwitzt und klebte ihm auf der Haut.

Eiligen Schrittes schlug er einen Bogen um den Brunnen. Jetzt sah er in der Ferne eine Gruppe weiß gewandeter Elfen. Erschöpft, die Häupter gesenkt, zogen sie wie Geister durch den steinernen Wald. Keiner von ihnen bemerkte Ollowain.

Der Schwertmeister trat hinter eine der Säulen und verbarg sich, bis die Gestalten außer Sicht waren. Dann machte er sich auf in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Bald fand er sich inmitten heißer Wasserschwaden. Ringsherum zischten Brunnen. Der Dampf brannte auf seinem Gesicht. Immer unerträglicher wurde die Hitze. Endlich fand er eine Wand und folgte ihr bis zu einem weiten Torbogen, der mit goldenen Blumenornamenten eingefasst war.

Durch das Tor gelangte der Schwertmeister auf eine Terrasse, von der aus man in eine wohl zweihundert Schritt weite Höhle blickte. Wände und Decke waren hier aus schwarzem Basalt, der ganz in seinem natürlichen Zustand belassen worden war. Nur den Boden der Höhle hatte man geglättet. Hier waren Platten aus rotem Stein in den Basalt eingelassen, die sich zu wirbelnden Flammenmustern fügten. Sie tanzten um eine große, goldene Scheibe, welche die Mitte des Höhlenbodens einnahm. Dort kauerte eine weiß gewandete Gestalt mit rabenschwarzem Haar. Sie hielt beide Hände fest auf die goldene Scheibe gepresst und hatte den Kopf gesenkt. Obwohl Ollowain das Gesicht nicht erkennen konnte, sagte ihm sein Herz, dass er Lyndwyn gefunden hatte. Um die Zauberin herum knieten weit über hundert andere Elfen. Sie alle trugen Weiß, so wie Lyndwyn. Sie hatten sich auf den roten Bodenplatten niedergelassen, dort wo sich Flammenzungen überschnitten. Die Hände auf den Stein gepresst und den Kopf gesenkt, schienen sie in tiefer Meditation entrückt. Ollowain spürte die gewaltigen magischen Kräfte, die hier wirkten. Es herrschte eine Spannung wie an einem Gewitterabend, kurz bevor der erste Blitz niederfuhr.

Dicht über dem Boden zerfloss die Luft zu glasigen Schlieren, die in der Hitze tanzten. Zwischen den Elfen eilten Kobolde hin und her. Sie tupften den Knienden mit feuchten Schwämmen über die Gesichter. In die Höhlenwand waren breite Bänke eingelassen. Dort saßen vereinzelt Elfen, die sich bereithielten, um erschöpfte Zauberer abzulösen. Sie erfrischten sich mit Obst und Getränken, die in eisgekühlten Karaffen herbeigetragen wurden.

Ollowains Mund war staubtrocken. Warum hatten die Normirga eine Höhle angelegt, in der eine so unnatürliche Hitze herrschte? Und was ging dort unten vor sich?

Unvermittelt riss einer der Elfen seinen Kopf in den Nacken. Sein Mund war weit geöffnet wie zu einem Schrei, doch kein Laut kam über seine Lippen. Eine helle Flamme schlug aus seinem Rachen. Er schien von innen heraus zu leuchten wie eine rote Laterne. Immer greller wurde der Feuerschein. Jetzt brachen auch Flammen aus den Augen. Der Elf sackte in sich zusammen. Sein weißes Gewand fing Feuer. Feine Ascheflocken stiegen mit der heißen Luft zur Höhlendecke empor. Dann war das grausige Schauspiel vorbei. Von dem Elfen war nichts geblieben als die Asche, die in der Luft wirbelte.

Niemand in der Höhle schien besondere Notiz von dem Vorfall zu nehmen. Die in sich versunkenen Elfen hatten den Sterbenden nicht einmal eines Blickes gewürdigt.

Eine junge Magierin mit langem blondem Haar erhob sich unter den Wartenden auf den Steinbänken und nahm den Platz des Toten ein. Sie kniete nieder und senkte schicksalsergeben den Kopf.

»Wie ich sehe, hast du also den Weg zur Halle des Feuers gefunden«, erklang eine wohl vertraute Stimme hinter Ollowain. Der Schwertmeister musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wer dort stand. Landoran trat nun neben ihn und blickte hinab zur Versammlung der Todgeweihten.

»Was geht dort unten vor sich?«, fragte Ollowain aufgewühlt.

»Sie kämpfen um Phylangan, so wie deine Truppen bald oben auf den Wehrgängen kämpfen werden.«

Der Schwertmeister kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Das Bild des brennenden Elfen suchte ihn heim. Er hatte schon Männer brennen sehen. Die Schreckensbilder aus Vahan Calyd überfielen ihn. Der Sog des Feuers ... Was geschah hier? Wieder war da das Feuer!

»Du musst von hier fort, Junge.«

Zum ersten Mal klang die Anrede aus Landorans Mund väterlich und nicht abschätzig. Junge! »Komm!« Der Fürst der Normirga griff ihn sanft bei den Schultern. »Komm, ich werde dir alles erklären, aber du musst fort von hier. An diesem Ort kannst du nicht siegen, Schwertmeister.« Lyndwyn! Sie hielt den Kopf gesenkt. Wenn sie doch nur zu ihm aufsehen würde. Niemand in der Höhle blickte nach oben. Die Aufmerksamkeit aller galt allein dem Boden unter ihren Füßen.

»Wir werden reden, mein Sohn.«

»Aber Lyndwyn ... Sie darf nicht...« Wieder war da das Bild des brennenden Elfen.

»Sie kann nicht fort. Wenn sie geht, dann ist es so, als würdest du den Schlussstein aus einem Torbogen herausreißen. Alles wird zusammenbrechen. Lyndwyn und der Albenstein können nicht von hier fort!«

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