Feuer und Wasser

»Bist du das, Ollowain?« Orimedes beugte sich vor, um ihm besser ins Gesicht sehen zu können. »Was soll diese Verkleidung? Glaubst du, so ein Helm hilft, wenn dir eine Feuerkugel auf den Kopf fällt?«

»Still!« Ollowain blickte zu den übrigen Kentauren, die ein Stück weiter hinten am Kai bei der Sänfte standen. Der Schwertmeister senkte den Kopf, damit der Helm, den er nun trug, sein Gesicht besser verbarg. »Befiehl deinen Männern, die Barke den Landungssteg hinaufzubringen. Wir haben Verwundete, die auf See nicht überleben würden. Wir müssen sie zurück zum Palast bringen. Sind die Holden noch an Bord?«

»Die meisten der kleinen Plagegeister sind davongelaufen, als der Beschuss des Hafens begonnen hat. Nur Gondoran und zwei oder drei andere sind noch auf dem Boot.«

»Jag sie davon, oder sieh zu, dass sie das Boot nicht mehr verlassen können, wenn die Verwundeten auf die Barke gelegt werden.«

Orimedes blickte ihn fragend an.

»Los, du hast meine Anweisungen doch verstanden!« Ohne abzuwarten, wie der Kentaurenfürst auf seinen schroffen Ton reagierte, wandte sich Ollowain um und eilte den Landungssteg hinauf. Je weniger Albenkinder wussten, was hier geschah, desto besser. Sie mussten bis zum Palastturm gelangen. Dort konnten sie sich leicht gegen eine große Übermacht verteidigen.

Der Schwertmeister duckte sich, als eine Feuerkugel fauchend über ihn hinwegzog. Inzwischen stand der Großteil der Schiffe im Hafen in Flammen. Wind war aufgekommen und strich wie heißer Atem über sein Gesicht. Feine Ascheflocken tanzten gleich schwarzem Schnee über den Kai.

Emerelle war zum Landungssteg heruntergetragen worden. Man hatte sie auf den Langschild eines Kriegers gebettet. Eine Seidendecke verbarg ihr verbranntes Kleid. Ihr Gesicht war geschwollen und von den Wunden so entstellt, dass man sie kaum wieder erkennen konnte. Voller Sorge sah Ollowain den großen Blutfleck, der sich immer weiter auf der Decke ausbreitete.

Lyndwyn kniete neben der Königin. Sie hielt die Hand der Herrscherin und hatte die Augen geschlossen. Half sie Emerelle? Oder war sie fanatisch genug, einfach nur dort zu sitzen und darauf zu warten, dass die Königin starb, wohl wissend, dass dies auch ihren eigenen Tod bedeuten würde? Auch sie trug jetzt einen schlichten grünen Waffenrock der königlichen Wache.

Verzweifelt sah sich der Schwertmeister um. Der Kai hatte sich inzwischen geleert. Die Flüchtlingsströme verstopften nun die Straßen der Stadt. Hier gab es keine andere Heilerin. Ihm blieb keine Wahl, als jener Frau zu trauen, die in seinen Augen eine Verräterin war.

Noch zwei weitere Verwundete lagen auf ihre Schilde gebettet neben der Königin, junge Krieger mit blassen Gesichtern. Ollowain kannte sie beide. Einer war ein viel versprechender Fechtschüler gewesen.

Der Schwertmeister blickte zu den beiden Türmen an der Hafeneinfahrt, zu jener Grenze, hinter der die Mondschatten in der Dunkelheit verschwunden war. Er dachte an Sanhardin, den Krieger, mit dem er unter Deck die Kleider getauscht hatte. Sanhardin hatte sich Ruß ins Gesicht geschmiert. Die Ähnlichkeit zwischen ihnen war nicht sehr groß, aber der Krieger war ein ausgezeichneter Schwertkämpfer. Zuletzt würde das mehr als alles andere zählen. Sanhardins Schwester hatte Lyndwyns Kleider angelegt. Sie beide wussten, dass Hallandan den Befehl hatte, nicht zu entkommen. Der Fürst würde dafür sorgen, dass die Liburne der Königin gestellt wurde und ihre Feinde die falschen Schlüsse zogen. Ob der Totentanz der Mondschatten schon begonnen hatte?

Ollowain sah sich um. Einige Türme der Stadt waren noch immer von Lichtzaubern umspielt. Schwarze Rauchsäulen stiegen fast senkrecht in den Himmel. Es war noch immer windstill. Eine große Galeere versuchte aus dem Hafen zu entkommen. Ihre Ruder wurden ausgerannt. Das dunkle Wasser schäumte auf, als das schlanke Schiff rückwärts vom Kai hinaus ins Hafenbecken glitt. Eine plötzliche Bö strich von den Mangroven her über die Stadt. Einige der brennenden Schiffe lösten sich von ihren Ankerplätzen. Verzweifelt versuchte der Steuermann an Bord der Galeere auszuweichen. Der massige Rumpf eines arkadischen Rundschiffs zersplitterte die Backbordruder. Ein Holk trieb quer zur Hafeneinfahrt. Schon sprangen die ersten Ruderer von Bord der Galeere. Ihr Schiff saß rettungslos gefangen. Im Hafenbecken schwammen tausende Kerzen auf Korkstücken, und daneben trieben festlich gewandete Leichen.

Der hölzerne Landungssteg erzitterte unter den Hufen der Kentauren.

»Setzt die Sänfte dort ab«, befahl Yilvina. Sie sollte das Kommando führen, damit Ollowains Tarnung nicht aufgedeckt wurde. Bisher beachtete niemand die schwer verletzte Königin, die zwischen den anderen Verwundeten lag. Aber wenn Ollowain erkannt wurde, wäre auch die List bald durchschaut. Jedes Kind in Albenmark wusste, dass der Schwertmeister in Zeiten der Not immer bei der Königin blieb. Solange aber nicht sicher war, wie viele Verräter es außer Lyndwyn und dem Bogenschützen, der auf Emerelle geschossen hatte, noch gab, war es besser, wenn es hieß, die Königin sei an Bord der Mondschatten geflüchtet.

Vorsichtig wurden die Verletzten auf die seltsame Sänfte gebettet. Gondoran, der Anführer der Holden, hüpfte zwischen den Elfen umher und gab selbstbewusst Anweisungen. Ollowain war mit drei anderen Leibwachen von Bord gegangen. Bisher hatte keiner von ihnen besonders auf ihn geachtet. Wie beiläufig zog er die seidene Decke der Königin ein wenig höher, sodass sie einen Teil ihres Gesichts bedeckte. Ihr Antlitz war kalt wie das einer Toten. Ihn schauderte. Die Königin durfte nicht sterben!

Er stieg aus der Sänfte und stellte sich zu den anderen Wachen unter Yilvinas Kommando. Nur Lyndwyn blieb bei den Verwundeten. Sie hatte jetzt eine Hand auf Emerelles Brust gelegt. Die Lippen der Magierin bewegten sich lautlos.

Ollowain blickte verstohlen zu dem Blutfleck auf dem Seidentuch.

Auf ein Zeichen Yilvinas wurde die Sänfte vorsichtig angehoben. Einer der Verwundeten stöhnte leise. Im Schritt machten die Kentauren sich auf den Weg. Ollowain musste fast laufen, um mit ihnen mithalten zu können.

Inzwischen standen auch viele der Lagerhallen am Hafen in Brand, und der Schwertmeister konnte sehen, wie die Flammen weiter auf die Stadt übergriffen. Die Luft war so heiß, dass jeder Atemzug schmerzte. Yilvina führte sie an der Uferstraße entlang. Der direkte Weg zum Palast war versperrt. Dort, wo die Feuerkugeln in die dicht gedrängten Reihen der Flüchtlinge geschlagen waren, lagen nun Tote und Verletzte. Niemand kümmerte sich um sie oder versuchte, die Lagerhäuser zu löschen.

Eine Gestalt in brennenden Gewändern kam schreiend aus einer der Seitengassen gelaufen und stürzte sich ins Hafenbecken. Bald waren sie hilflos eingekeilt zwischen Kobolden, Elfen und einer kleinen Gruppe Minotauren, die sich mit gesenkten Hörnern Platz verschafften. Auenfeen stürzten mit versengten Flügeln aus dem Himmel und versuchten sich in Haaren und Gewändern der Flüchtlinge festzukrallen. Die meisten von ihnen wurden zu Tode getrampelt.

Der Wind wurde immer stärker. Sengend heiß zerrte er an Ollowains Waffenrock. Der Schwertmeister riss sich den Helm vom Kopf. Seine Wangenklappen waren so warm geworden, dass sie ihm die Haut verbrannten. Auch die anderen drei Elfen taten es ihm gleich. Ihre Gesichter waren gerötet und von Brandblasen entstellt. Funken erfüllten wie glühender Hagelschlag die Luft. Fauchend fuhr der Wind durch die engen Gassen des Hafenviertels und fachte die Flammen immer weiter an.

Gondoran hüpfte an Bord des Nachens hin und her und erstickte die Funken, die auf die Verletzten niedergingen. Winkend scherte Yilvina aus dem Strom der Flüchtlinge aus und brachte sie auf einen leeren Kai. »Wir brauchen Wasser«, keuchte sie. Ihre Lippen waren aufgesprungen, die Augen rot. »Dort vorne stehen Eimer. Tränkt eure Kleider mit Wasser!«

Ollowain gehorchte. Er eilte eine steinerne Treppe hinab, die vom Kai nach unten führte, und bildete den Anfang einer Eimerkette. Selbst das brackige Hafenwasser war schon unangenehm warm. Der Sturmwind hatte so sehr zugenommen, dass aus den brennenden Schiffen meterlange Flammen fast waagerecht über das Wasser schossen. Ein Stück entfernt sah er eine Auenfee, die sich verzweifelt an einem Hafenpolier festklammerte. Ihre hauchzarten Flügel waren in der Hitze zu gallertartigen Klumpen zerschmolzen. Flehend sah sie zu Ollowain. Dann wurde sie fortgerissen, so als habe eine unsichtbare Faust sie ergriffen, um sie auf den Scheiterhaufen der brennenden Schiffe zu schleudern.

Der Krieger vor Ollowain schüttete sich einen Eimer Wasser über den Kopf. »Nur du noch«, rief er dem Schwertmeister entgegen.

Ollowain tat es ihm gleich und beeilte sich, den Anschluss an die anderen nicht zu verlieren.

Immer unbarmherziger bahnten sich die Kentauren ihren Weg und stießen jeden zur Seite, der ihnen nicht schnell genug auswich.

Ollowain drängte sich nach vorn zu Orimedes. Das dampfende, nasse Fell des Fürsten war mit Brandflecken übersät. Glühende Funken tanzten wie Fliegen um seinen zuckenden Schweif. »Wir müssen fort vom Kai!« Die Stimme des Schwertmeisters war kaum mehr als ein heiseres Krächzen, das im infernalischen Getöse der Flammen und dem Geschrei der Flüchtlinge fast unterging.

»Wir werden schon durchkommen«, rief der Kentaur. Eine junge Elfe umklammerte eines seiner Beine. Mit gesenktem Blick flehte sie ihn an, ihr zu helfen. Murrend zog er sie auf seinen Rücken. Jetzt erst konnte Ollowain das Antlitz der Geschundenen sehen. Wimpern, Augenbrauen und die Haare über der Stirn waren verbrannt, die Nase nur noch ein unförmiges Loch, und dort, wo Augen hätten sein sollen, klafften blutige Höhlen. Unablässig brabbelte sie eine Dankeslitanei, während sie ihr zerschundenes Gesicht im wallenden Haar des Kentauren verbarg. Der Schock über das plötzlich hereingebrochene Inferno schien ihr Empfinden für Schmerz ausgelöscht zu haben. Zumindest für den Augenblick.

»Wir nehmen den Lotussteig!«, befahl der Schwertmeister.

»Aber der Weg ist viel steiler! Wir werden nur langsam vorankommen«, wandte Orimedes ein.

»Die Häuser dort sind aus Stein! Die Flammen werden sich am Lotussteig nicht so schnell ausbreiten wie hier zwischen den hölzernen Lagerhallen.«

Ollowain konnte sehen, wie sich die Wangenmuskeln des Kentauren spannten. Er mahlte wütend mit den Kiefern, fügte sich aber dem Befehl.

Viele Flüchtlinge sprangen indessen ins Hafenbecken. Das Wasser bot Schutz vor der glühenden Lohe. Doch dort waren sie in der Falle, wenn die Angreifer von See her den Hafen besetzten. Wehrlos wären sie der Gnade der Eroberer ausgeliefert.

Er durfte Emerelle nicht in eine solche Lage bringen. Wer mochte ihr Feind sein? Mit wem hatte sich Shahondin verbündet?

Ein tiefer Ton zwischen dem allgegenwärtigen Geschrei und dem Tosen der Flammen ließ Ollowain aufhorchen. Es klang wie ein Seufzen, nur dass es das Seufzen eines Titanen sein musste.

»Die Wand ...!« Der Schrei ging in tausendfachem Klirren unter. Instinktiv riss Ollowain seinen Schild hoch. Schwere Schläge prasselten auf ihn nieder.

Die Königin! Der Schwertmeister griff über die Bordwand und zog sich hoch. Ringsherum prasselten große rote Schindeln nieder. Das Lagerhaus neben ihnen schien sich, gemartert von den Flammen, ein letztes Mal aufzubäumen. Es warf sein Dach ab!

Ollowain schirmte mit seinem großen, ovalen Schild den Kopf und Oberkörper Emerelles ab. Wie durch ein Wunder war die Königin von keiner der Dachschindeln getroffen worden. Lyndwyn hatte weniger Glück gehabt. Sie lag ohnmächtig neben Emerelle und blutete aus einer Platzwunde an der Stirn.

Die Holden suchten unter den flachen Ruderbänken des Nachens Schutz. Gondoran war als Einziger dicht bei der Königin geblieben. Mit verzweifeltem Mut schlug er mit einer zerbrochenen Ruderstange die Schindeln zur Seite, die in Emerelles Richtung stürzten. Schließlich flüchtete er fluchend unter Ollowains Schild.

Die Kentauren waren in Galopp verfallen. Der Nachen schwankte wild hin und her. Plötzlich gab es einen Ruck. Das Boot neigte sich und schlug krachend auf Stein, so als wäre es in stürmischer Brandung auf eine verborgene Klippe aufgelaufen. Ollowain wurde nach vorn geschleudert und prallte gegen den Mast. Sein Schildarm bekam die ganze Wucht des Schlages ab. Sengender Schmerz schoss durch seine Schulter, Tränen traten ihm in die Augen. Blinzelnd rappelte er sich auf, um zu sehen, was geschehen war.

Zwei Kentauren lagen mit grotesk verdrehten Gliedern regungslos am Boden. Ein Balken hatte die beiden niedergestreckt. Noch während Ollowain die Toten anstarrte, schlug dicht neben ihnen ein weiterer Balken auf. Brennende Dachlatten polterten auf das Pflaster. Einer der Kentauren scheute und stieg auf die Hinterläufe. Das Boot ruckte. Ollowain konnte sich gerade noch am Mast festhalten. Die Verwundeten rutschten auf dem Boden zum Heck hin. Einer der Männer stöhnte auf. Der andere Krieger regte sich nicht mehr.

»Nessos, du übernimmst vorne links!«, kommandierte Orimedes ruhig. »Antafes, du läufst links neben der Sänfte. Ich halte mich rechts. Wir springen ein, sobald es einen weiteren Ausfall gibt. Die Sänfte darf nicht noch einmal stürzen! Los jetzt, wir...!« Ein unbeschreibliches Krachen und Knirschen schnitt ihm das Wort ab. Die Fassade des Lagerhauses begann sich in Richtung der Kais zu neigen.

So wie Shahondin sich stets übertrieben langsam vor Emerelle verbeugt hatte, um auf diese Weise die Geste der Unterwerfung zu verhöhnen, so neigte sich auch die Häuserwand mit verächtlicher Langsamkeit. Eine zwanzig Schritt hohe Flammenmauer, die sich vor dem Tod verneigte.

Einer der Holden sprang schreiend aus dem Nachen und versuchte das Hafenbecken zu erreichen. Die Kentauren gaben ihr Letztes, um aus dem Todesbereich zu entkommen. Rings herum prasselten Balken und Dachlatten nieder. Ollowain half Gondoran und dessen Gefährten, die brennenden Trümmer, die ins Boot stürzten, wieder über Bord zu werfen. Die Elfe, die sich an Orimedes festklammerte, verlor den Halt und rutschte von seinem Rücken. Ollowain sah, wie sie unter die Hufe der anderen Pferdemänner geriet. Wie eine Kinderpuppe wurde sie hin und her geschleudert und blieb zuletzt reglos liegen.

Der Kai hatte sich binnen Augenblicken geleert. Fast alle waren ins Hafenbecken gesprungen. Dicht übersät mit zersplitterten roten Dachschindeln, sah das Straßenpflaster aus, als blute es. Mit ihren eisenbeschlagenen Hufen gerieten die Kentauren auf dem unsicheren Grund immer wieder ins Rutschen. Das Boot schlingerte hin und her. Ollowain hatte sich niedergekauert, presste sich mit dem Rücken gegen eine der Bootsbänke und hielt Emerelle in seinen Armen. Kraftlos pendelte der Kopf der Königin bei jedem neuen Ruck.

Nessos strauchelte. Sofort sprang Antafes herbei und übernahm den Platz des Kentauren. Der blonde Nessos versuchte, wieder hochzukommen, doch seine Läufe wollten ihn nicht mehr tragen. Ollowain sah einen blutigen Knochen durch das Fell ragen. Trotzig streckte der Kentaur die Arme empor, als wollte er die Flammenwand umarmen, die ihm entgegenstürzte. Glühende Lohe verschluckte den Gestrauchelten. Wie eine Lawine aus Feuer schlug die Häuserwand über der Straße zusammen. Teile des Dachs stürzten ins Hafenbecken.

Die Hitze traf Ollowain wie ein Faustschlag ins Gesicht. Er spürte, wie seine Haut sich spannte. Seine Augen tränten wieder. Eine Wolke von Funken ging auf sie nieder. Schreie klangen aus dem Wasser. »Hier hinauf.« Die Kentauren waren am Lotussteig vorbeigelaufen. »Zurück!«

Eine breite Marmortreppe wand sich den Schanzhügel hinauf. Schon nach zwanzig Schritten und der ersten Wegkehre schienen sie in einer anderen Welt zu sein. Der Lotussteig war gesäumt von säulengeschmückten Prachtbauten. In schattigen Nischen wand sich Efeu. Auf jeder Treppenstufe waren Lichter aufgestellt. Nur wenige der Villen waren vom Feuer erfasst worden. Kobolde und bocksbeinige Faune versuchten, die Flammen hier unter Kontrolle zu bringen. Sie hatten eine Eimerkette zu einem Brunnen gebildet. Die hoch aufragenden Häuser mit ihren verspielten Giebeln verstellten den Blick auf den Hafen. Vom Inferno kündeten nur der rot leuchtende Himmel und einzelne, rußgeschwärzte Gestalten, die sich hierher gerettet hatten. Misstrauisch betrachtete Ollowain die wenigen Überlebenden, die aus den Flammen den Lotussteig hinaufkamen. Folgte ihnen jemand? Was mochte aus dem Bogenschützen geworden sein, der versucht hatte, Emerelle zu töten? Hatte er die Verkleidung durchschaut? Oder glaubte er, dass die Königin auf ihrer Prunk-Liburne aus dem Hafen geflohen war?

Ollowain spürte etwas Warmes über seine Hand rinnen. Die Wunde in der Brust der Königin blutete wieder. »Im Palast werden wir dir helfen«, flüsterte er und stützte ihren Kopf. Sie konnte ihn nicht hören, sagte ihm seine Vernunft, und dennoch hoffte er, dass er ihr auf irgendeine Weise beistand. Er fühlte sich weniger hilflos, solange er mit ihr redete.

»Es ist nicht mehr weit. Landolin wird dich heilen. Niemand webt so kunstvolle Heilzauber wie er.« Jetzt erst bemerkte Ollowain, dass die Kentauren angehalten hatten. Sie waren auf dem runden Platz auf der Kuppe des Hügels angelangt. Die Paläste waren Gartenanlagen gewichen. Hier hatten die Feuerkugeln kaum noch Schaden angerichtet. Von der Kuppe konnte man weit hinaus auf das Meer sehen, und man überblickte auch einen großen Teil der Stadt. Der Hafen, die Lagerhallen und der Palastturm des Fürsten von Reilimee, der am Ende eines steinernen Piers stand, waren ein Raub der Flammen geworden.

In den Vierteln, die weiter entfernt vom Meer lagen, gab es nur wenige Brände. Doch Ollowain konnte sehen, wie der heiße Wind das Feuer weiter landeinwärts trieb in Richtung einer einzelnen, großen Flammensäule: Emerelles Palastturm! Dem Schwertmeister stockte der Atem. Der Turm lag weit außer Reichweite der Katapulte, und der Funkenflug hatte das Feuer noch längst nicht so tief in die Stadt hineingetragen. Jemand musste den Turm der Königin in Brand gesetzt haben! Die Verschwörung gegen Emerelle war noch umfassender, als er befürchtet hatte.

»Was nun, Schwertmeister?«, fragte Orimedes müde. Der Kentaur gab seinen Männern ein Zeichen, die Sänfte abzusetzen. »Wohin gehen wir jetzt?«

Der Elf starrte noch immer fassungslos auf den brennenden Turm. War es möglich, dass Emerelle eine so groß angelegte Verschwörung verborgen geblieben war? Oder hatte sie um all das, was kommen würde, gewusst? Jetzt erinnerte er sich wieder an die Art, wie sie Matha Murganleuk angesehen hatte, den riesigen, beseelten Baum im Magnolienhof. Sein Gefühl hatte ihn nicht getrogen ...

Emerelle hatte Abschied genommen. Sie musste um das Schicksal des Palastes gewusst haben.

»Ollowain!« Orimedes stand nun vor ihm. »Wohin gehen wir?«

Der Schwertmeister sah sich hilflos um. »Wir können es nicht wagen, sie in der Sänfte dort hinunterzubringen. Wer auch immer den Palast in Brand gesetzt hat, wartet nur darauf, die Königin in seine Gewalt zu bekommen.«

»Unsinn!«, murrte der Kentaurenfürst. »Das ergibt keinen Sinn. Durch den brennenden Palast sind wir doch gewarnt. Es wäre viel einfacher gewesen, uns dort in einen Hinterhalt zu locken.«

»Vielleicht fühlen sie sich so überlegen, dass ihnen das gleich ist. Sie wissen, dass wir ihnen nicht mehr entkommen können.«

»Sie. Sie. Sie!« Orimedes‘ Schweif peitschte wütend durch die Luft. »Wer soll das sein? Wer beschießt die Stadt? Wer hat den Palast in Flammen gesetzt? Vielleicht gibt es auch eine ganz einfache Erklärung für den brennenden Turm. Funkenflug. Oder eine umgestürzte Lampe ...« Seine Stimme verebbte. Auch ihm musste klar sein, dass keine Lampe dieses Feuer verursacht haben konnte.

Gondoran war aus dem Nachen geklettert und zu ihnen hinübergekommen. Er stieg auf eine Marmorbank und blickte hinab zum Palast. »Sie hat dies geahnt, als sie uns befahl, die Sänfte zu zimmern.«

Ollowain blickte auf. »Sag das noch einmal!«

»Was?«

»Die Königin hat euch beauftragt, diese Sänfte zu bauen?« Wie waren Emerelles Worte kurz vor dem Aufbruch gewesen? Habe ich dir schon Gondoran vorgestellt, den Bootsmeister meines Palastes? Es war seine Idee, diesen Nachen zur Sänfte umzubauen. »Habt ihr die Sänfte der Königin nicht zum Geschenk gemacht?«

»So war es«, bestätigte der Bootsmeister. »Aber sie hatte sich eine Sänfte wie diese gewünscht. Sie hat mir aufgetragen, ein Boot der Muschelfischer aus den Mangroven auszusuchen.«

»Aber sie sagte doch ...«

Der Anführer der Holden unterbrach Ollowain. »Ich weiß, was sie auf dem Magnolienhof sagte. Auf eine gewisse Weise war es tatsächlich meine Idee. Ich habe diesen Nachen unter einem Dutzend ausgesucht. Aber dass überhaupt ein Boot zur Sänfte umgebaut wurde, geschah auf ihren Wunsch hin. Vielleicht wollte sie uns mit dem, was sie auf dem Magnolienhof sagte, einen Hinweis geben?«

»Also ... für mich hört sich das ganz nach den Launen einer Herrscherin an«, wandte Orimedes ein.

»Nein!«, entgegnete der Schwertmeister entschieden. »Sie war nicht ... Sie ist nicht launisch! Sie hatte Sorge, dass es in ihrer unmittelbaren Umgebung einen Verräter gibt. Sie wollte denen, die sich als treu erweisen würden, einen versteckten Hinweis geben. Nur diejenigen, die ihr Leben wagten, um sie durch die Flammen bis hierher auf den Hügel zu bringen, konnten den verborgenen Sinn ihrer Worte erkennen.«

»Du meinst, sie hat gewusst, was geschieht? Das ist doch ... Das ist... Ich finde keine Worte! Sie verreckt fast. Mir sengt es den Schweif weg, meine Männer krepieren ... Und sie soll all das gewusst haben? Wenn das so wäre, dann hätte ich sie an Bord ihres verfluchten Schiffes lassen sollen.« Orimedes stampfte wütend mit den Hufen. »Das kann doch nicht sein! Sie hätte all das verhindern können!« Er deutete hinab zum Hafen.

»Hunderte, vielleicht sogar tausende sind in der letzten Stunde gestorben. Schande über die Königin, wenn sie wusste, dass dies geschehen würde, und nichts tat, um es zu verhindern!«

Ollowain konnte den Kentauren in seiner schlichten Denkweise verstehen, auch wenn seine ausfällige Art nicht akzeptabel war. Der Schwertmeister glaubte unerschütterlich daran, dass Emerelle das Richtige tat. Die Königin hatte einmal versucht, ihm zu erklären, welcher Fluch es war, dass sie in die Zukunft sehen konnte. Als sie noch sehr jung gewesen war, hatte sie ihrem Schwertbruder Mahawan im ersten Trollkrieg das Leben gerettet.

Ollowain vermutete, dass er auch der Geliebte der Königin gewesen war, obwohl sie das nie ausgesprochen hatte. Sie hatte ihr Wissen um die Zukunft dazu genutzt, ihn zu retten. Doch dadurch hatte sich die Zukunft ihres Geliebten grundlegend verändert. Weil er nicht in der Stunde starb, die das Schicksal ihm bestimmt hatte, konnte er auch nicht wiedergeboren werden. Später verschwand er bei einer Queste in die Zerbrochene Welt. Er wurde niemals wiedergeboren. Seine Seele war verloschen. Emerelle hatte erzählt, es sei Mahawan bestimmt gewesen, einst die Krone von Albenmark zu tragen. Und sie hatte behauptet, er wäre ein sehr guter König geworden. Ihr eigensüchtiges Handeln hatte Albenmark dieses Herrschers beraubt. Das war der Grund, warum Emerelle sehr vorsichtig geworden war, ihre Kenntnis der möglichen Zukünfte zu nutzen. »Sie weiß, was das Beste für uns ist. Wir müssen ihre Entscheidungen nicht verstehen können.«

Orimedes schnaubte verächtlich. »Wenn ihre Reden voller versteckter Andeutungen sind, dann mischt sie sich doch immer noch in den Ablauf der Zukunft ein. Da könnte sie uns auch gleich sagen: Tut dieses, lasst jenes!«

Ollowain überlegte kurz, wie er diesem dickschädeligen Kentauren erklären könnte, dass es keineswegs dasselbe war, ob man direkte Befehle erteilte oder vieldeutige Anspielungen machte. Letzteres ließ ihnen die Freiheit, ihrem Gefühl zu folgen. »Halt einfach den Mund. Das ist ein Befehl.«

»Treib es nicht zu weit, Elflein!«

Der Schwertmeister überging die Drohung und wandte sich wieder an Gondoran. »Was hat die Königin dir sonst aufgetragen? Hatte sie besondere Wünsche beim Bau der Sänfte?«

»Sie wollte, dass man den Nachen mit ein paar Handgriffen zum Schwimmen bringen kann. Wir haben Holzscheiben, die wir in die Löcher einsetzen können, durch die man die Tragebalken der Sänfte führt. Es ist keine große Mühe, das Boot wieder wasserdicht zu bekommen.«

Ollowain blickte verzweifelt zurück. Eine Feuerwand trennte sie jetzt vom Hafen. Ihre atemlose Flucht hatte ihm keine Zeit gelassen nachzudenken. »Sie wollte also, dass wir über das Meer fliehen. Deshalb das Boot. Ich hätte es schon früher wissen müssen!«

»Wenn du glaubst, ich trage diese verfluchte Sänfte noch einmal durchs Feuer ...«, begann Orimedes.

Gondoran räusperte sich laut.

»Wenn ich etwas von dir hören will, dann sage ich dir das«, schnauzte der Kentaur den Holden an.

Gondoran wich ein Stück vor dem Pferdemann zurück. »Bei allem Respekt, hohe Herren. Ihr täuscht euch. Dieses Boot ist nicht dafür geschaffen, jemanden aufs offene Meer zu tragen. Ein flach gehender Nachen ist nützlich in den Mangrovensümpfen. Das Wasser ist dort still, und es gibt nur wenige Stellen, an denen es dir weiter als bis zur Brust reichen würde, Fürst. Oft ist es kaum tiefer als eine Pfütze. Wenn dieses Boot in richtigen Seegang gerät, dann läuft es schneller voll Wasser, als man es leer schöpfen kann.«

Ollowain starrte mit zusammengekniffenen Augen in die Nacht. Etwa eine Meile westlich des königlichen Palastturms lag der Hafen der Muschelfischer. War es das, was Emerelle gewollt hatte? Würden sie von dort aus entkommen? Jetzt waren auch rings um den Palast Häuser in Brand geraten. Er meinte, zwischen den Flammen verzerrte Schatten zu sehen. Im Licht des Feuers erschienen sie ihm widernatürlich groß. Dort unten wurde gekämpft. Die Brände breiteten sich entgegen der Windrichtung aus. Es war kein Funkenflug, der die Dächer entzündete.

So sehr sich Ollowain auch anstrengte, es war unmöglich zu erkennen, welcher Feind dort in Rauch und Finsternis wütete. Der Weg zum Hafen der Muschelfischer war versperrt. Fieberhaft überlegte der Elf, was zu tun sei. Ein einzelner Krieger würde sicherlich leicht durch die Reihen der Feinde schlüpfen können, doch mit der Sänfte war ein Entkommen aussichtslos. Es sei denn, sie schlugen einen sehr weiten Bogen. Ganz im Osten, auf einer Landzunge, die wie eine schmale Sichel zwischen dem Meer und den Mangrovensümpfen lag, befand sich das Gerberviertel. Eine Gegend, in der sich wegen des bestialischen Gestanks nie ein Elf blicken ließ. Dort könnten sie mit etwas Glück vor dem unbekannten Feind eintreffen – und einen Weg in das Waldmeer finden. Ollowain wandte sich an den Anführer der Holden. »Welchen Weg würdest du wählen, um hinab zu den Mangroven zu kommen?«

Gondoran starrte in die Finsternis und zupfte an seinem spitzen Kinn. »Ich würde durch die Zisternen gehen. Dort sind wir vor allen Blicken verborgen. Und wer sich da unten nicht auskennt, der wird sich hoffnungslos verlaufen.«

»Und du kennst dich dort aus?« Orimedes war deutlich anzusehen, was er davon hielt, in irgendwelche unterirdischen Wasserspeicher hinabzusteigen.

»Mein Vetter war der Herr der Wasser!«, erklärte Gondoran stolz. »Als ich noch ein kleiner Junge war, hat er mich oft mit hinab in die Zisternen genommen, damit ich die engen Überlaufröhren von Schlick und Algen säubere. Ich kenne die verborgenen Hallen unter der Stadt genauso gut wie die Mangroven und das Waldmeer.«

»Und wir können von hier aus bis zum Stadtrand gelangen?«, fragte der Kentaurenfürst skeptisch. »Das ist mehr als eine Meile. So groß sind die Zisternen doch niemals.«

»Redest du immer so bestimmt von Dingen, von denen du keine Ahnung hast, Labsal aller Pferdebremsen? Es gibt durchaus Wasserhallen, die fast eine Meile messen. Und es gibt viele kleinere Zisternen. Sie alle sind durch Kanäle und Schleusenkammern miteinander verbunden. Diese Stadt braucht sehr viel Wasser. Und weil sie zwischen dem Meer und den Mangroven liegt, ist Trinkwasser ein kostbares Gut. In Vahan Calyd musste man schon immer den Regen sammeln. Er wird durch Filterbecken hinab in die Wasserhallen geleitet. Seit Generationen stellt die Familie meines Vetters den Herrn der Wasser. Unter uns liegt ein verborgener See. Selbst wenn es ein Jahr lang an keinem Tag mehr regnen würde, müsste in Vahan Calyd niemand Durst leiden oder auf ein Bad verzichten.«

»Und wir würden auch mit dem Nachen dort hinabgelangen?«, fragte Ollowain skeptisch.

»Aber gewiss doch! Dort unten gibt es etliche Boote. Wie sonst sollten der Herr der Wasser und all seine Diener arbeiten? Wir müssten allerdings durch eine der Schleusenkammern hinabsteigen. Dort gibt es Tore, die weit genug sind, um ein Boot hindurchzubringen. Wenn wir erst einmal unten sind, gibt es kein Problem mehr.« Er sah geringschätzig zu dem Kentauren hinüber. »Es sei denn, Ihre vierbeinige Fürstlichkeit kann nicht schwimmen.«

Orimedes bedachte den Holden nur mit einem verächtlichen Schnauben. »Führe uns zur nächsten Schleusenkammer!«, befahl Ollowain.

Gondoran sah sich kurz um und deutete dann nach Westen.

»Etwa zweihundert Schritt in diese Richtung liegt die Kammer der Rosen. Das ist der nächste Abstieg.«

»Und wir werden schwimmen müssen?«, fragte Ollowain.

Der Holde nickte. »Der Nachen kann uns nicht alle tragen. Ihr müsst euch am Bootsrand festhalten.«

Der Schwertmeister streifte sein Kettenhemd ab und wies auch die überlebenden Wachen und Yilvina an, allen unnötigen Ballast gleich hier zu lassen. In den Zisternen sollte nichts zurückbleiben, das etwaigen Verfolgern einen Hinweis auf ihren Fluchtweg gab. Ollowain versteckte die Rüstung unter einem Oleanderbusch. Die übrigen Elfenkrieger taten es ihm gleich. Wortlos folgten sie seinen Befehlen. Auf sie und Yilvina würde er sich verlassen können. Bei Orimedes und seinen vier Kentauren war sich Ollowain nicht so sicher. Die Pferdemänner standen etwas abseits. Ihr Fürst redete wild gestikulierend auf sie ein. Es war offensichtlich, was sie von der Aussicht hielten, einen Fluchtweg zu wählen, der sie tief unter die Erde führen würde. Gondoran und seine beiden verbliebenen Kumpanen untersuchten den Bootsrumpf. Ollowain dachte an den schweren Sturz. Wenn eine der Planken zersplittert war, dann wären alle ihre Pläne zunichte. Er ging zum Bootsmeister hinüber.

Der Holde deutete in den Nachen. »Einer deiner Krieger hat den Löffel abgegeben. Der ist nur noch unnötiger Ballast. Am besten versteckt ihr ihn unter den Büschen bei euren Rüstungen.«

Der Schwertmeister spannte sich. »Mäßige deinen Ton. Nur weil ich auf dich angewiesen bin, werde ich dir nicht alles durchgehen lassen, Bootsmeister.«

»Nein?«, fragte der Holde provozierend. »Sieh den Tatsachen ins Auge. Dein Kamerad ist nur noch totes Fleisch. Erhat sich entschieden, ein Krieger zu sein, und ist im Kampf verreckt. So etwas nennt man unter deinesgleichen doch ein erfülltes Leben. Meine Männer sind nur Fischer, die heute Abend auf ein Fest gehen wollten. Du kannst froh sein, dass sie nicht alle abgehauen sind.«

»Du und deine Männer, ihr seid Diener der Königin, genau wie ich, Bootsmeister. Sie wusste, dass sie auf diesem verdammten Kahn entkommen wird. Und es ist deine Aufgabe, sie in Sicherheit zu bringen. Ihr drei werdet euch genauso wenig drücken, wie meine Krieger vor einem Kampf fliehen. Wenn es nötig ist, werde ich dich und deine Spießgesellen mit den Füßen auf den Planken festnageln, bis Emerelle in Sicherheit ist. Von einem Holden erwarte ich nicht, dass er sich ritterlich verhält, aber du wirst deine Pflicht tun wie jeder andere hier auch. Und jetzt berichte mir, ob das Boot Schaden genommen hat.«

Gondoran funkelte ihn wütend an, verkniff sich aber jede weitere spitze Bemerkung. »Eine Planke ist gerissen. Wir werden ein bisschen Wasser nehmen. Aber der Nachen wird schwimmen.«

Der Schwertmeister beugte sich über Emerelle. Die Haut der Königin fühlte sich immer noch eisig an. Obwohl Lyndwyn noch bewusstlos war, wirkte ihr Zauber fort. Das Gewand der Magierin war voller Brandlöcher, das Haar versengt und ihr Gesicht blutverschmiert. Und dennoch hatte sie immer noch etwas Unheimliches und zugleich Respekteinflößendes an sich. Ihre rechte Hand ruhte auf Emerelles Brust. Sie schien wirklich bemüht, die Königin zu beschützen. Hatte er ihr Unrecht getan? Nein, jeder hatte sehen können, wie sie das Zeichen zum Angriff gegeben hatte. Sie war eine Verräterin!

Ollowain strich über das Gesicht seines toten Gefährten und schloss ihm die Augen. Es war offensichtlich, dass Lyndwyn nichts unternommen hatte, um den beiden Verletzten zu helfen. Ihre Wunden waren nicht verbunden, und es gab auch keine Anzeichen dafür, dass sie einen Zauber gewirkt hätte, um die Schmerzen der Männer zu lindern. Am liebsten hätte er die Magierin zurückgelassen.

Sie brachten ihren Kameraden auf seinem Schild in die Büsche. Es blieb kaum Zeit, um mit ein paar Worten von ihm Abschied zu nehmen. Den Toten zu ehren hieße, die Lebenden gefährden. Plötzlich hatte Ollowain das Gefühl, beobachtet zu werden. Er sah sich um, doch in der Gartenlandschaft gab es hunderte Verstecke. Er konnte niemanden entdecken.

Als sie zurückkehrten, stand Gondoran am Rumpf des Nachens. Die Kentauren hatten die ungewöhnliche Sänfte wieder auf ihre Schultern gestemmt. Der Holde führte die Gruppe durch einen Garten auf der Rückseite des Hügels, bis sie zu einem Springbrunnen gelangten, hinter dem eine breite Treppe in die Tiefe führte. Selbst hier hatte man zum Fest der Lichter auf jede der Treppenstufen eine kleine Öllampe gestellt. Ollowain dachte daran, dass man nie wieder an diesem Tag feiern könnte, ohne an den schrecklichen Brand und all die Toten zu denken. Die eisenbeschlagenen Hufe der Kentauren lärmten auf den marmornen Stufen. Vorsichtig tasteten sie sich in die Tiefe, bis sie schließlich an ein großes Tor gelangten und die Sänfte behutsam auf den Boden setzten. Es gab hier keinen Riegel und auch keine Türangeln.

Ehrfürchtig tastete Orimedes über das Tor. »Das ist Gold, nicht wahr?«, hauchte er. »Pures Gold. Genug, um einen Palast zu kaufen. Ein Vermögen.«

»Jede Schleuse hier unten, jedes Zahnrad und jeder Beschlag ist aus Gold. Kein anderes Metall widersteht über die Jahrhunderte dem Wasser so gut, wie Gold es vermag«, erklärte Gondoran herablassend. »Beim Bau der Zisternen hat man von allen Materialien nur die besten verwendet.«

Er sprang aus dem Nachen und ging zu der goldenen Pforte. Gondoran presste seine Wange an das kalte Metall, strich in kreisenden Bewegungen über die Tür und flüsterte etwas. Einen Augenblick später erbebte das Tor und glitt lautlos in die Wand.

»Was hast du gesagt?«, fragte Orimedes.

»Das ist ein Geheimnis der Wasserhüter. Ginge es nicht um die Königin, würde ich euch niemals hier hineinlassen. Wir wollen nicht, dass jeder stinkende Barbar zu den Zisternen gelangen kann, um seine Hufe in Trinkwasser zu baden.« Gondoran wich einem Tritt des Fürsten aus und winkte sie in eine weite Halle hinein. Blausilbern schimmernde Mondsteine waren in die Streben der Kreuzgewölbe eingelassen und tauchten die Halle in geisterhaftes Licht. Irgendwo in der Ferne hörte man ein dumpfes Donnern. Ollowain glaubte, den Boden leicht unter seinen Füßen beben zu fühlen.

Die ganze Halle war aus Marmor erbaut. In Brusthöhe verlief ein breiter Fries aus Perlmutt und Onyx. Er zeigte ein Muster aus stilisierten Wellen. Im kalten Licht der Halle schien es, als bewegten sich die Wellen wie die sanfte Dünung in einer Vollmondnacht.

»Bringt die Sänfte hinein!«, befahl der Holde. »Von nun an werden wir die Tragehölzer nicht mehr brauchen. Zieht sie heraus. Wir können dann das Boot abdichten.«

Ollowain war überrascht von der natürlichen Autorität, die der kleine Bootsmeister plötzlich ausstrahlte. Er schien wie ausgewechselt. Dies hier unten war sein Reich, und keiner zweifelte das an. Ohne zu murren folgten die Kentauren seinen weiteren Anweisungen.

Der Schwertmeister sah sich um. Die kühle Pracht der Halle hatte etwas an sich, das einem das Gefühl vermittelte, unbedeutend zu sein. Sie war für die Ewigkeit geschaffen und wäre eines Königspalasts würdig gewesen.

Und doch kam kaum ein Bewohner der Stadt je hierher. All die Schönheit blieb verborgen. Ollowain blickte die lange Treppe hinauf, die im goldenen Licht der Öllampen erstrahlte. Die Brände im Hafen ließen den Nachthimmel purpurfarben erscheinen. In sich gekehrt dachte der Schwertmeister an den Vorhang einer Theaterbühne, der sich schloss. Hier unten, in der kühlen Pracht der Zisternen, fühlte er sich seltsam entrückt von all dem, was in dieser Nacht geschehen war. Ein Akt war beendet. Ein neuer Abschnitt in der Geschichte Albenmarks würde beginnen.

Das leise Sirren von Metall schreckte ihn aus seinen Gedanken auf. Yilvina hatte ihre beiden Kurzschwerter gezogen. Mit einer der Klingen deutete sie die Treppe hinauf. »Dort oben ist jemand! Ein Bogenschütze. Ich habe deutlich seinen Schattenriss vor dem Nachthimmel gesehen.«

Ollowain konnte niemanden entdecken. Aber er zweifelte keinen Augenblick an den Worten der Kriegerin. Seit sie auf den Lotussteig gekommen waren, hatte er gespürt, dass sie verfolgt wurden. Die Gefahr war nicht vorüber. »Wie kommen wir zum Wasser?«, fragte er Gondoran.

Der Holde deutete auf den Schmuckfries an der Wand. »Die siebente Welle. Wenn du auf sie drückst, wird sich eine verborgene Pforte öffnen.«

»Und wie schließt man das goldene Tor?«

»Es schließt sich von allein«, entgegnete Gondoran ruhig.

»Dies ist der Zugang zum verborgenen See und nicht das Torhaus einer Festung. Wir haben keinen Einfluss darauf, wann sich die Rosenpforte schließt. Aber die Tür hinab zu den Zisternen kann man von innen versperren. Wer nicht weiß, wie man sie findet, wird es schwer haben, uns zu folgen.«

Ollowain zählte die Wellen im Schmuckfries und drückte auf den verborgenen Auslöser. Ein leises Klicken erklang. Es folgte ein schabendes Geräusch. Ein Stück der Wand schwang auf. Das ferne Donnern war nun deutlicher zu hören. Ein Schwall nasskalter Luft drang aus der Tiefe hinauf. Ollowain fröstelte. Hinter der Geheimtür führte eine Treppe in einen dunklen Abgrund.

Gondoran huschte als Erster hindurch. »Hier muss es einen Vorrat an Fackeln geben.« Die Kentauren blickten unschlüssig ins Dunkel. »Vielleicht sollten wir uns dem Bogenschützen stellen«, murmelte einer von ihnen.

»Darum geht es nicht.« Orimedes griff nach dem Heck des Nachens. »Wir müssen die Königin aus der Stadt bringen.« Er reckte sein Kinn in Richtung der dunklen Pforte. »Und das dort ist der einzige Weg, der uns noch offen steht. Jetzt packt zu! Wir haben keine Zeit zu verlieren!«

Mit einem dumpfen Geräusch flammte eine Fackel auf. Gondoran stand vor einer Truhe mit goldenen Beschlägen. Der Holde holte noch zwei weitere Fackeln heraus, die er sich in den Gürtel schob. Zögerlich stiegen die Kentauren die Treppe hinab. Yilvina und Ollowain bildeten den Abschluss der Truppe. Während sie die schwere Geheimtür verschlossen, sahen sie, wie auch die goldene Pforte langsam aus der Wand glitt. Kurz meinte Ollowain, hastige Schritte auf dem Weg hinab zum Prunksaal zu hören, doch der Eindruck verflog.

Die Treppe führte an einer mit Kacheln geschmückten Wand vorbei. Sie zeigte Bilder von einer Flusslandschaft, in deren Uferdickicht sich allerlei Vögel verbargen. Die Luft war gesättigt von Feuchtigkeit und dem Geruch nach nassem Stein. Auch hier, tief unter der Erde, war es noch unangenehm warm. Ihr Weg führte sie zu einem steinernen Kai, an dem zwei Boote vertäut lagen.

Unter der Aufsicht Gondorans ließen die Kentauren vorsichtig den Nachen mit der Königin zu Wasser. Seine beiden Gefährten holten zwei Ruder hervor, die seitlich unter den Bänken verborgen gewesen waren, und legten sie ein. Währenddessen übernahm der Bootsmeister im Heck das Steuer. Der Holde steckte seine Fackel in eine Halterung am Mast. Die übrigen Lichter löschten sie.

Ollowain hatte nie Angst vor der Dunkelheit gehabt, doch die Finsternis hier unten machte ihm zu schaffen. Das blakende Licht am Mast reichte kaum über den Rand des Bootes hinaus. Er hatte das Gefühl, in die Leere geraten zu sein, die jenseits der Albenpfade lag. Ein Ort, wo jedes Leben fehl am Platze war. Wer auf einer Reise zwischen den Welten vom Pfad abwich, der war auf immer verloren, so hieß es. An welcher Stelle war er in dieser Nacht vom Pfad abgewichen? Wann hatte er den ersten falschen Schritt getan? Schon als er sich mit Silwyna traf?

Der Schwertmeister ließ sich vom Rand der Anlegestelle ins Wasser hinab und griff nach dem Boot. Erschrocken atmete er aus. Das Zisternenwasser war eisig!

»Wir hätten nicht in dieses Loch hinabsteigen sollen«, murrte Orimedes. »Gerade ist etwas an meinen Beinen entlang geglitten. Wir werden uns verirren und von Fischen gefressen werden.«

»Da muss dir wohl dein eigener zitternder Schweif zwischen die Beine geraten sein. Hier gibt es keine Fische!«, sagte Gondoran scharf. »Keine Käfer und auch keine Ratten! Nichts, was das Wasser verunreinigen könnte, lebt hier unten. Nur ein paar Geister. Aber bei einem Gespenst muss man sich keine Gedanken machen, dass es ins Wasser pisst, Pferdemann. Das hier unten ist Trinkwasser, und der Herr der Wasser duldet hier nichts, was es verschmutzen könnte. Gewöhnlich hätte ich euch niemals erlaubt, eure verschwitzten, dreckigen Leiber in eines der Becken zu bewegen.«

»Und gewöhnlich würde ich einem kleinen Klugscheißer, der es darauf anlegt, mich zu beleidigen, auch nicht zuhören, sondern ihm die Zähne in den Rachen treten, dass sie ihm zu den Ohren wieder rauskommen«, schnauzte Orimedes zurück.

Gondoran war klug genug, darauf nicht zu antworten.

Inzwischen waren auch die anderen vom Kai ins Wasser gestiegen. Langsam setzte sich der Nachen in Bewegung, und eine Reise in die Finsternis begann. Schon nach wenigen Augenblicken waren die Treppe und der Kai in der Dunkelheit verschwunden. Das Licht reichte nicht bis hinauf zur Decke der Zisterne. Ollowain versuchte die Gedanken zu unterdrücken, die ihn bedrängten, den Eindruck, verloren zu sein. Kein Ziel vor Augen zu haben, war etwas, das er nicht kannte. Wohin sollten sie sich wenden, wenn sie die Mangroven erreichten? Am besten wäre es, durch einen Albenstern zu flüchten. Doch dafür brauchten sie die Hilfe Lyndwyns, denn er verfügte weder über die Magie, jene Pforten zu den Albenpfaden zu öffnen, noch wusste er, wo man nach ihnen suchen sollte. In Vahan Calyd gab es zwei große Albensterne. Einer lag unter dem brennenden Turm Emerelles und der zweite nahe bei Shahondins Palast. Diese Wege waren ihnen verwehrt. Angeblich gab es noch weitere Albensterne weiter draußen im Waldmeer.

Ollowain betrachtete die Magierin. Obwohl sie nicht wirklich schwer verletzt sein konnte, war sie noch nicht zu Bewusstsein gekommen. Lyndwyn könnte sie auf den Albenpfaden in die Irre führen, ohne dass er davon etwas merken würde. Erst wenn sie wieder durch ein Tor hinaustraten, würde sich offenbaren, wohin sie die Magierin gebracht hatte.

»Siehst du das?« Yilvina deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren. In die Finsternis hoch über ihnen war ein kleines, silbernes Rechteck gestanzt. Ein Schatten trat durch das Licht. Dann verschwand das Rechteck, und die Dunkelheit war abgesehen von der Fackel im Boot wieder vollkommen. »Wer ist das?«

Auch Gondoran hatte das Licht gesehen. Er sagte nichts, aber er blickte immer wieder zurück, während er den Nachen durch die Zisterne steuerte.

Immer lauter wurde das Donnern vor ihnen. Der Bootsmeister brachte sie durch ein goldenes Schleusentor in einen Kanal. Hier war es so eng, dass man mit ausgestreckten Armen beide Seitenwände berühren konnte. Das Wasser im Kanal reichte nicht sehr hoch. Sie hatten Boden unter den Füßen, als sie sich vorantasteten. Ein Bogenschütze würde hier einen guten Stand haben. Er könnte schießen. Im tiefen Wasser der Zisterne waren sie sicherer gewesen.

Ollowain ließ sich ein wenig zurückfallen. War es Silwyna? Hatte er sich in ihr getäuscht? Vor ihnen im Tunnel erstrahlte ein Licht, hell wie ein Sommernachmittag, und er spürte die Kraft alter Magie. Wohin hatte der Holde sie hier gebracht?

Yilvina kam zu ihm herüber. Sie winkte und sagte etwas, doch ihre Worte wurden vom ohrenbetäubenden Donnern vor ihnen verschluckt. Der Tunnel weitete sich. Sie erreichten ein großes, rundes Gewölbe, dessen Decke mit leuchtenden Barinsteinen besetzt war. Goldene Rohre mit kunstvoll ausgearbeiteten Mündungen ragten aus den Marmorwänden. Manche sahen wie stilisierte Vogelköpfe mit breiten Schnäbeln aus, andere wie Delfine oder sogar Wolfsköpfe. Es mussten hunderte sein. Aus ihnen schossen weit aufgefächerte Wasserfontänen, die im hellen Licht wie flüssiges Kristall erschienen. Die Luft war erfüllt von feinem Wasserdunst. Schillernde Regenbögen spannten sich zwischen den Kaskaden.

Ollowain beeilte sich, wieder zum Nachen aufzuschließen. Das Becken in diesem wundersamen Kuppelsaal war nicht sehr tief, das Wasser floss mit starker Strömung ab. Der Schwertmeister musste kämpfen, um auf den Beinen zu bleiben, obwohl ihm die schäumende Gischt kaum bis zu den Knien reichte. Noch schwerer hatten es die Kentauren. Mit ihren beschlagenen Hufen fanden sie keinen Halt auf dem glatten Steinboden, und sie mussten sich am Bootsrand festhalten, um nicht von der Strömung umgerissen zu werden.

Die Fontänen prügelten auf den Schwertmeister ein. Selbst der Boden der großen Kammer vibrierte unter der Wucht des fallenden Wassers. Alle kämpften sie nun gegen die Urgewalt des Wassers an. Nur Gondoran schien das nicht zu bekümmern. Er stand im Heck des Nachens, hielt unbeirrt die Ruderpinne und schmetterte voller Inbrunst ein Lied.

Ollowain konnte bei dem Getöse ringsumher nur einzelne Worte verstehen. Es schien um eine Holde zu gehen, deren Brüste nie versiegende Quellen waren. Der zänkische kleine Kerl war ihm ein Rätsel. Sang er, um seine Furcht zu verbergen? Oder empfand er wirklich Freude? Der Kuppelsaal war von großer Schönheit, das Licht, die Regenbögen, der strahlend weiße Stein der Mauern. Wäre da nicht der infernalische Lärm gewesen, man wäre gern hier, um einfach nur zu schauen und seine Seele der Schönheit dieses verborgenen Ortes zu öffnen. Vor allen Dingen, wenn man auf einem der kleinen Balkone hoch über dem Wasser stehen konnte und nicht mitten durch diese Urgewalt hindurch musste.

Gondoran stakte den Nachen durch eine Wasserwand. Seine beiden Kameraden schöpften aus Leibeskräften, damit das Boot nicht voll lief Die Fontänen waren wie ein kristallener Vorhang. Keine von ihnen kam der Marmorwand des Kuppelsaals näher als zwei Schritt. Die Strömung war hier jedoch noch stärker. Große, gemauerte Bögen tranken gierig das ablaufende Wasser. Kanäle, die aus dem Kuppelsaal in alle Himmelsrichtungen fortführten ... Ollowain konnte nicht erkennen, dass sie auf irgendeine besondere Weise gekennzeichnet waren. Für ihn sahen alle Kanalöffnungen gleich aus. Doch Gondoran wusste offenbar ganz genau, wo er war. Beim siebten Kanal, den sie passierten, schlug er das Ruder ein und steuerte den Nachen in die Finsternis.

Der Tunnel schien den Lärm des fallenden Wassers noch einmal zu verstärken. Mit Mühe brachten die Holden die Fackel wieder zum Brennen, die durch die Wasserfontänen gelöscht worden war.

»Ist er nicht wunderbar, der Saal der fallenden Wasser?«, beendete der Bootsmeister das Schweigen. »Es gab Zeiten, da bin ich jeden Tag hier gewesen.«

»Wunderbar ist nicht das Wort, das ich gebrauchen würde«, sagte Yilvina. »Eindrucksvoll vielleicht.«

»Was wisst ihr schon von der Schönheit des Wassers?«, entgegnete Gondoran verschnupft. »Ihr habt ja keine Ahnung, welche Arbeit es macht, das Wasser zu hegen.«

»Du sprichst ja vom Wasser, als würdest du eine Herde Kühe hüten«, spottete der Kentaurenfürst. »Was ist schon dabei, auf Wasser zu achten?«

»Wenn wir das Wasser nicht hegen würden, dann würde ganz Vahan Calyd nur abgestandene, lauwarme Brühe trinken! Es fängt damit an, dass wir darauf achten, dass sich hier unten keine Ratten und ungewaschenen Kentauren herumtreiben, um im Trinkwasser zu baden. Jeder Tropfen hier ist durch tiefe Filtergruben geflossen. Die Normirga, das Volk, dem unsere Königin entstammt, haben einst Vahan Calyd erbaut. Sie haben magische Pumpen erschaffen, die das Wasser in Bewegung halten wie riesige Herzen. Wasser ist dazu geschaffen zu strömen, zu pulsieren und aus großer Höhe zu stürzen. So hältst du es lebendig, Pferdemann. Es atmet, wenn es aus den Speiern im Saal der fallenden Wasser hinabstürzt. Und mein Volk hegt dieses großartige Werk.«

»Ich fürchte, ich habe mich gerade eben an deinem Wasser vergangen. Ich streue Asche auf mein Haupt und tue Buße, doch ich konnte nicht länger an mich halten und habe mich erleichtert.«

Die anderen Kentauren prusteten los, doch Gondoran starrte den Fürsten einfach nur mit weit aufgerissenen Augen an.

»Du hast was?«

»Ich fürchte, ich habe zu schwer zu Mittag gegessen. Und dann die Aufregung. Das Feuer. Die Flucht. Das alles hat meine Verdauung angeregt.«

»Das ist ein Scherz, nicht wahr?«, sagte der Holde flehend.

»Bitte sag, dass das ein Scherz ist.«

»Ich scherze niemals, wenn es um meine Äpfel geht«, entgegnete der Kentaurenfürst grinsend. »Wir können nicht lange an uns halten, wenn es so weit ist. Das hat mich auf manchem Fest der Elfen schon in arge Verlegenheit gebracht. Wir sind, wie uns die Alben erschaffen haben.« Er zuckte mit den Schultern.

»Aber in der ungeheueren Menge von Wasser wird sich das sicher gut verteilen.«

Gondoran antwortete darauf nicht. Er und seine beiden Gefährten hüllten sich in Schweigen, während die Kentauren ihre derben Scherze fortsetzten.

Der Tunnel führte sie durch eine Schleusenkammer in ein weiteres Zisternenbecken. Hier mussten sie wieder schwimmen. Ab und an blickte Ollowain zurück. Es wäre ein Wunder, wenn ihr Verfolger im Saal der fallenden Wasser nicht ihre Spur verloren hätte. Gondoran hatte zwar nichts dazu gesagt, aber der Schwertmeister war sich sicher, dass der Holde mit Bedacht an einer Stelle durch den Wasservorhang getreten war, die ein gutes Stück von dem Tunnel entfernt lag, den sie dann gewählt hatten. Wer immer ihnen folgte, hatte die Auswahl zwischen mehr als zwei Dutzend Kanälen, die aus dem Kuppelsaal hinausführten.

Und dennoch blickte Ollowain immer wieder zurück. Es war auch unwahrscheinlich gewesen, dass ihr Verfolger die Geheimtür so schnell fand.

Nachdem keiner der Holden mehr auf die provozierenden Spaße der Kentauren einging, verstummten auch die Pferdemänner bald. Schweigend schwammen sie in ihrer kleinen Insel aus Licht durch die Finsternis. Ab und an passierten sie eine der riesigen Säulen, die die Zisternendecke trugen. Ollowain ließ seine Gedanken schweifen. Er dachte zurück an die Zeit mit Alfadas. Die Königin hatte ihn damit beauftragt, den Menschensohn zu erziehen. Zuerst hatte er das als eine Strafe empfunden. Was wollte man von einem Menschen schon erwarten?

Er sollte ihn den Schwertkampf lehren, wohl wissend, dass er nicht einmal lange genug lebte, um auch nur in einer der siebenundzwanzig Künste des Tötens Vollkommenheit zu erlangen. Yilvina, seine beste Schülerin seit Jahrhunderten, hatte es bisher geschafft, in vier Künsten die Meisterschaft zu erlangen, wobei sie ihn im Kampf mit zwei Schwertern mittlerweile sogar übertraf.

Der Menschensohn hatte ihn überrascht. Obwohl ihm die Zeit fehlte, zur Vollkommenheit zu gelangen, glichen sein brennender Ehrgeiz und seine fast schon unheimliche Begabung diesen Nachteil aus. In der Welt der Menschen würde es niemanden geben, der ihm gewachsen war. Ollowain fragte sich, was wohl aus seinem Schüler geworden sein mochte. Besaß er die Reife, mit seinem Können umzugehen? Oder hatte er es genutzt, um sich zu einem Tyrannen aufzuschwingen?

Wäre Alfadas nur niemals Silwyna begegnet! Die Maurawani hatte eine dunkle Seite im Menschensohn zum Schwingen gebracht. Sie hatte ihm eine Wunde geschlagen, die nie mehr verheilt war. Es war zu bitter, daran zu denken. So vieles hätte aus dem Jungen noch werden können, aber er hatte es vorgezogen, aus Albenmark zu fliehen.

Der Schwertmeister blickte über die Schulter und lauschte. Hinter ihm lagen nur Dunkelheit und Stille. Er hatte keine andere Wahl gehabt, als sie um Hilfe zu bitten. Silwyna war die beste Bogenschützin, die er in so kurzer Zeit hatte finden können. Er lächelte grimmig. Sie hätte ihr Ziel niemals verfehlt, wenn sie auf die Königin geschossen hätte.

»Schwertmeister?« Gondorans Stimme schreckte Ollowain aus seinen Gedanken. Der Holde deutete voraus, wo man einen winzigen, rötlichen Lichtpunkt in der Finsternis sah. »Da stimmt etwas nicht. Beide Tore zur Zisterne stehen weit offen, wie es scheint. Das kann eigentlich nicht geschehen. Was sollen wir tun?«

»Wie weit ist das Tor noch entfernt?«

Der Bootsmeister zuckte mit den Schultern. »Dreihundert Spann vielleicht.«

»Löscht die Fackel!«

Gondoran gehorchte. »Das wird nicht mehr helfen. Wenn dort jemand ist und die Zisterne beobachtet, dann hat er uns längst entdeckt.«

»Ich werde nachsehen. Bleibt hier und wartet auf ein Zeichen von mir. Gibt es dort oben eine Kiste mit Fackeln?«

»Natürlich. An jedem Eingang gibt es so eine Kiste.« Ollowain streifte seinen Waffenrock ab. Das Schwert allein wog schwer genug. Er war nie ein herausragender Schwimmer gewesen, so war es besser, jeden unnötigen Ballast loszuwerden. Er schlang den Ledergurt der Waffe über Brust und Rücken und zog ihn straff.

»Ich werde mit dir kommen«, sagte Orimedes. »Hier untätig zu warten ist nichts für mich.«

Ollowain seufzte stumm. Der Letzte, den er jetzt an seiner Seite gebrauchen konnte, war der heißblütige Kentaurenfürst.

»Bei allem Respekt, mein Freund, doch ich werde versuchen, mich in aller Heimlichkeit dem Ausgang zu nähern. Ich weiß dein Angebot zu schätzen, aber ich muss es ablehnen.«

»Ich kann mich fast lautlos bewegen«, beharrte der Fürst.

»Und wer soll die Königin beschützen, wenn ich nicht zurückkehre? Du bist der geborene Anführer. Du wirst einen Weg finden! Ich brauche dich hier, Orimedes.«

Der Kentaur stieß einen grunzenden Laut aus. »Manchmal hasse ich es, ein Fürst zu sein. Viel Glück.« »Wenn ihr mir folgen könnt, dann werde ich eine brennende Fackel im Kreis schwingen.« Ollowain stieß sich vom Nachen ab. Mit starken, gleichmäßigen Zügen schwamm er dem Licht entgegen.

Das Geständnis

Du hast das Siegel erbrochen und meine Warnung leichten Herzens übergangen. Ich bitte dich ein letztes Mal, leg diesen Brief zurück in sein Versteck wenn du reinen Herzens bleiben willst.

Eine einzige finstere Tat kann ein Leben in Edelmut zerstören. Von einer solchen Tat muss ich berichten. Ich hatte gehofft, ins Mondlicht zu gehen, wenn ich daran mitwirke. Ich dachte, es sei mein Schicksal. Doch ich habe mich getäuscht. Mit dem Wissen um diese Nacht kann ich nicht weiterleben. Und doch wäre es ein Verbrechen, die Wahrheit der Lüge zu opfern, so wie es geschehen wird. Kein Albenkind würde den Trollen je glauben. Und selbst sie werden wohl nicht erfahren, was wirklich geschah. Ich muss es niederschreiben, denn die Wahrheit darf nicht für alle Zeit vergessen sein.

Wenn dies vollbracht ist, werde ich meine Erinnerung daran auf immer tilgen und werde das Siegel dieses Briefes niemals berühren. Sei noch ein allerletztes Mal gewarnt, fremder Zeuge meiner Schande! Du willst die Wahrheit nicht wissen! Nie wieder wirst du Albenmark mit den Augen der Unschuld sehen, wenn du nun weiterliest.

Emerelle befahl, den König und die Fürsten der Trolle zur Shalyn Falah zu bringen. Es hieß, sie würden von dort aus an einen geheimen Ort in Gefangenschaft geführt. Ihr Volk aber sollte auf immer aus Albenmark verbannt sein.

Zu blutig bezahlten wir für unseren Sieg. Von allen Seiten griffen wir sie an, und die Trolle wähnten sich verloren. Deshalb streckten sie die Waffen und lieferten sich unserer Gnade aus. Sie glaubten, wir hätten sie mit großer Übermacht umzingelt, in Wahrheit jedoch waren sie stärker als wir, und hätten sie sich erneut erhoben, nichts in Albenmark hätte sie aufhalten können. Unser Sieg war ohne Glanz, denn er war durch Täuschung errungen. Wir alle wussten in dieser Nacht, dass die Kinder der Alben Jahrzehnte brauchen würden, um sich von den vergangenen Schlachten zu erholen.

Dies alles kann nicht entschuldigen, was geschah. Doch ich hoffe, dass du, fremder Zeuge meiner Schande, zumindest verstehen kannst, warum es geschah. Hätte die Herrschaft über Albenmark in die Hände der schrecklichsten Kinder fallen dürfen?

Der Trollkönig und seine Fürsten wurden geknebelt und mit verbundenen Augen hinaus auf die Shalyn Falah gebracht. Sie glaubten wohl, man wolle sie in die Kerker der Festung auf der anderen Seite der Brücke bringen. Dann befahl Emerelle ihrem Schwertmeister, die Trolle in den Abgrund zu stürzen. Doch der ehrenhafte Ollowain, der bisher nie gezögert hatte, einem Befehl seiner Herrin zu folgen, verweigerte sich ihr. Dafür erbot sich ein anderer Krieger, Farodin mit Namen, ihr zu gehorchen. Seine Liebste, Aileen, war von Trollen erschlagen worden. Emerelle verbot es ihm. Sie wollte keine Rache. Sie wollte einen Henker mit kaltem Herzen, der die Bluttat beging, um Albenmark zu retten. Und so trat ich vor. Geknebelt und blind stürzten sie stumm, wie Steine, in den Abgrund.

Im Glauben, dass ihre Fürsten unsere Gefangenen sind, würden die Trolle nicht nach ihren wiedergeborenen Anführern suchen. Und vielleicht können sich ihre Seelen in der Welt der Menschen nicht wieder in Fleisch kleiden. Niemand weiß das. Ich hoffe auf den Frieden. Aber ich fürchte darum, dass die Trolle eines Tages das Geheimnis dieser Nacht ergründen. Denn dann wird es nie wieder Frieden geben können, und Albenmark wird im Blut seiner Kinder ertrinken.

Aus dem Nachlass des Meisters Älvias

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