Hoffnungen

Alfadas hatte die Anführer seines kleinen Heeres um sich geschart: die Veteranen der blutigen Tage um Phylangan und zwei junge Jarls, die sich ihnen tags zuvor mit ihren Reitern angeschlossen hatten. Sie waren Überlebende der letzten Schlacht König Horsas. Tapfere Männer. Einen von ihnen, Jarl Oswin, kannte Alfadas von früheren Feldzügen. Doch diesmal traute er ihm nicht. Oswin und seine Männer waren schon einmal vor Trollen geflüchtet. Alfadas wollte sie morgen persönlich anführen.

Der Kriegsrat fand unter freiem Himmel statt. Man hatte die Schlitten dicht zusammengeschoben, um ein wenig Schutz vor dem Wind zu haben. Fackeln steckten im Schnee, Ihre Flammen tanzten wild im Wind. Mit Einbruch der Dämmerung hatte der Sturm sie erreicht. Eisige Böen fegten über den Fjord. Außer den Schlitten aus Phylangan gab es keinen Schutz vor dem Unwetter.

Der Herzog nahm sein Schwert und deutete auf die winzigen Hügel, die Ollowain aus Schnee geformt hatte. Es war ein Abbild des Passes, der hinauf nach Sunnenberg führte. Zwei Äste markierten die beiden Palisaden auf dem Rentierpfad. Einige graue Steine zeigten, wo das Dorf lag.

Mit der Schwertspitze zeigte er auf den oberen der beiden Äste. »Hier kämpfen unsere Väter und Brüder.« Er musste fast schreien, um gegen das Heulen des Windes anzukommen. »Unsere Freunde aus Kindertagen. Sie verteidigen Frauen und Kinder, vergießen ihr Blut für uns.« Der Herzog blickte zu dem jungen Mann, den Lambi und die Späher am Mittag auf dem Eis des Fjords aufgegriffen hatten. »Berichte uns von den Kämpfen, Olav.«

Der Holzfäller sprach mit fester Stimme. Er schilderte, wie die Verteidiger drei Tage lang die erste Palisade gehalten hatten. Furcht und Stolz erfüllten Alfadas, als er hörte, wie Asla unter den Kriegern auf dem Wehrgang gestanden hatte. Seine Asla! So wie Olav berichtete, war es vor allem ihr zu verdanken, dass die Kämpfer durchgehalten hatten.

»So schwer waren ihre Verluste, dass die Trolle es zwei Tage lang nicht mehr wagten anzugreifen. Und das, obwohl die zweite Palisade niedriger und schwächer ist. Noch gestern Nacht, als ich den Rentierpfad hinabgeschlichen bin, ruhten die Waffen.«

Alfadas‘ Schwertspitze deutete auf den Eingang zum Passweg. »Hier, bei den Trümmern der ersten Palisade, lagern die Trolle. Ich vertraue darauf, dass die Verteidiger den Pass noch einen weiteren Tag gehalten haben. Aber sie sind in höchster Not. Sie brauchen uns. Von hier aus sind es mehr als drei Meilen bis zum Lager der Trolle. Mit etwas Glück haben sie in dem Unwetter ihre Späher zurückgezogen. Vielleicht können wir sie überraschen. Wir werden vor Morgengrauen aufbrechen, damit wir in der ersten Dämmerung in Sichtweite des Passes kommen.«

»Und was ist, wenn es dann immer noch stürmt?«, fragte Mag.

»Wir haben auch in der Snaiwamark eine Schlacht in einem Schneesturm geschlagen. Hast du vergessen, wie die Trolle damals vor uns geflohen sind?« Alfadas sah die Männer einen nach dem anderen an. Die Schlacht auf dem Eis war nicht wirklich glücklich verlaufen.

Aber sie würden die Fehler von damals nicht wiederholen!

»Olav sagt, dass die Verteidiger am Ende ihrer Kräfte sind. Jede Stunde zählt. Um ihretwillen dürfen wir uns nicht von einem Sturm aufhalten lassen. Und wie es scheint, haben die Trolle diesmal keine Katapulte. Sie haben die Palisade jedenfalls nicht beschossen.«

Alfadas zog eine dünne Linie vor den Pass. »Hier wirst du die Armbrustschützen aufstellen, Mag. Dahinter stehst du mit den Speerträgern. Du führst das Kommando im Zentrum unserer Schlachtlinie. Sollten die Trolle uns immer noch nicht bemerkt haben, wenn unsere Schlachtlinie steht, dann rufen wir sie mit unseren Hörnern. Du wirst die Armbrustschützen zurückziehen, wenn die Trolle bis auf vierzig Schritt heran sind. Ich vertraue darauf, dass die Linie der Speerträger nicht zusammenbricht, wenn diese Bestien gegen euch anstürmen.«

»Wir werden aushalten, so wie die Männer auf der Palisade ausgehalten haben«, entgegnete Mag grimmig. »Vielleicht wirst du das Eis bedeckt mit unseren Leibern finden, wenn die Schlacht vorüber ist. Aber keiner meiner Männer wird eine Wunde im Rücken haben. Du kannst dich auf uns verlassen, Herzog!«

Alfadas zog eine zweite Linie in den Schnee. »Hier auf der linken Flanke werden unsere Bogenschützen stehen. Veleif, du wirst dort das Kommando führen.«

Der Skalde sah ihn erschrocken an. »Ich bin kein Krieger, Herzog! Ich kann das nicht.«

Alfadas legte sich die Linke auf die Brust. »Schlachten werden zuallererst in den Herzen der Kämpfer entschieden. Du verstehst es, Herzen zu entflammen, Veleif Silberhand. Lass meine Bogenschützen zu stolz sein, um fortzulaufen.«

Der Herzog wandte sich an Lambi. Der Jarl wirkte beleidigt.

»Und wo soll ich hin? Bin ich nicht mehr gut genug, den Trollen in den Hintern zu treten? Wirst du mir die Sache mit den Türen denn niemals verzeihen? Ich ...« Er zuckte mit den Schultern.

»Die Elfen werden sie nicht vermissen. Ich wünschte, wir hätten noch ein paar mehr mitgenommen.«

Alfadas musste schmunzeln. Er mochte den Jarl, über dessen Nase man nicht sprach, von ganzem Herzen. Für ihn war der Streit in Phylangan längst vergessen. »Du und deine Halsabschneider, ihr werdet hier stehen.« Er zeichnete einen Kreis hinter die beiden Linien im Schnee. »Du wirst dich dort bereithalten, Lambi. Sobald die Trolle auf Mag und seine Speerträger treffen, fällst du ihnen in die Flanke.«

Lambi grinste. »Sie werden sich ihre riesigen Füße bepissen, wenn wir sie morgen bei den Eiern packen.«

»Pack nicht bloß zu. Reiß sie ihnen ab!« Alfadas‘ Hand sank auf Ulrics Dolch, den er am Gürtel trug. »Reiß sie ihnen ab«, sagte er noch einmal leise.

Er durfte jetzt nicht an seinen Sohn denken, ermahnte er sich stumm. Sein Wunsch nach Rache würde ihn am klaren Denken hindern. Alfadas blickte zu Silwyna. Sie war vor nicht einmal einer Stunde auf einem zu Tode erschöpften Hengst angekommen.

»Die Maurawan werden noch zu uns stoßen?«, fragte er misstrauisch.

»Ja!«, bekräftigte sie entschieden. »Die Trolle haben den Wald geschändet. Mein Volk sinnt auf Rache. Es sind mehr meiner Brüder und Schwestern deinem Ruf gefolgt, als ich zu hoffen gewagt hätte. Weit über hundert. Noch nie sind so viele Maurawan in eine Schlacht außerhalb unserer Wälder gezogen. Sie wissen um deine Schlachten in der Snaiwamark. Du hast einen guten Namen bei meinem Volk. Sie kommen um deinetwillen, nicht wegen der Königin.«

Alfadas blickte zweifelnd nach Norden, dann deutete er auf einen kleinen Hügel auf der rechten Flanke der Schlachtlinien, die er in den Schnee gezeichnet hatte. »Hier brauche ich die Bogenschützen der Maurawan. Mir fehlen die Krieger, um unseren rechten Flügel stark zu machen.«

»Wem von uns wirst du dich anschließen?«, fragte Lambi. Alfadas hatte bislang in jeder seiner Schlachten in vorderster Reihe gekämpft. Und er wusste, dass es unter seinen Kriegern einen Wettstreit darum gab, mit welchen Truppen er am häufigsten in den Kampf zog.

»Ich werde bei den Reitern sein.« Der Herzog malte einen kleinen Kreis hinter den Hügel. »Hier!«

»Aber ihr seid zu wenig!«, sagte Mag bestürzt. »Kaum zwanzig. Die Trolle werden euch niedermetzeln, wenn sie über unsere rechte Flanke kommen.«

»Ich vertraue auf die Maurawan. Sie werden diesen Hügel schon für uns halten.« Alfadas lächelte, obwohl ihn selbst die Zweifel plagten. Er wusste besser als irgendein anderer, wie unzuverlässig das Waldvolk war. Am Mittag erst waren sie durch den Albenstern auf dem Hartungskliff gekommen. Und die meisten von ihnen hatten keine Pferde. Zweifelnd blickte er zu Silwyna.

»Sie sind Wipfelläufer«, sagte sie in der Sprache ihres Volkes.

Sah man ihm die Zweifel so deutlich an?

»Niemand durchquert die Wälder wie wir Maurawan. Sie werden morgen Früh auf dem Hügel sein. Ich breche sofort auf, um ihnen die Nachricht zu bringen. Vertraue mir.«

Ihre letzten Worte trafen ihn wie ein Dolchstich ins Herz. Alfadas straffte sich. »Mit den Meisten hier bin ich einen langen Weg gegangen. Morgen werden einige von uns vielleicht nicht mehr leben. Ich mache euch nichts vor. Unsere Aussichten sind nicht gut.« Er deutete auf die Karte am Boden. »Wenn die Trolle die zweite Palisade durchbrechen, dann gibt es ein weiteres Massaker. Sie haben schon zu viel Blut vergossen ... Sagt euren Männern, dass ich keinem befehle, in diese Schlacht zu ziehen. Ich möchte nur Freiwillige an meiner Seite haben. Es ist wie damals am Ufer bei Honnigsvald. Wer jetzt geht, über den soll niemand schlecht reden. Sagt das allen. Redet ihnen nicht ins Gewissen! Sagt es einfach und begebt euch dann zur Ruhe. Die Nacht ist kurz, und wer morgen mit mir kämpft, wird all seine Kräfte brauchen.«

»Meine Männer sind Halunken und Halsabschneider«, rief Lambi aufgewühlt. »Aber gerade deshalb kannst du dich darauf verlassen, dass wir morgen dort sein werden, wo es gilt, Hälse durchzuschneiden. Wir werden dich nicht im Stich lassen.«

»Ich weiß«, sagte Alfadas müde. Er hob die Hände, um die anderen am Reden zu hindern. »Ich vertraue euch allen. Von euch, die ihr hier im Kreis der Fackeln steht, wird morgen keiner fehlen. Doch nun gebt mich frei, für die wenigen Stunden, die dieser Nacht noch bleiben. Lasst mich allein mit meinen Erinnerungen und meinen Gebeten.« Mit diesen Worten verließ er den Kreis seiner Hauptleute und trat eine jener einsamen Wanderungen an, die ihm in den letzten Nächten zur Gewohnheit geworden waren.

Schließlich führten ihn seine Schritte zu Blut. Sie hatten den Hund am späten Nachmittag mehr tot als lebendig in einer Schneewehe am Ufer gefunden. Sein Fell war ganz mit Eis überzogen gewesen. Obwohl er am Ende seiner Kräfte war und einen Lauf gebrochen hatte, versuchte er sich davonzuschleppen, als Alfadas zu ihm kam. Der Herzog hatte sich fast eine Stunde Zeit für den Hund genommen. Er hatte ihm das Eis aus dem Fell gebürstet und ihn mit kleinen Streifen Trockenfleisch gefüttert. Blut war mit einem dicken Seil an einem der Schlitten angebunden. Als der Hund Alfadas sah, sprang er auf und kläffte. Wieder wollte er davonlaufen. »Ruhig, mein Feiner. Ruhig. Ich weiß, was du willst.«

Der Herzog kniete neben ihm nieder. »Du willst mich zu Kadlin bringen, nicht wahr. Gedulde dich noch diese Nacht. Morgen werde ich mit dir kommen.«

»Bist du dir da sicher?«

Alfadas musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wer hinter ihm stand. Es hatte ihn schon gewundert, dass Ollowain während des Kriegsrats kein einziges Wort gesagt hatte.

»Bist du dir sicher, dass du leben willst? Dein Schlachtplan ist die blanke Unvernunft. Ich war dabei, als der junge Holzfäller von den Trollen erzählt hat. Er sagte, es seien vier- oder fünfhundert. Deine Veteranen mögen sehr tapfer sein, Herzog, aber du musst vier von ihnen für jeden Troll aufbieten, den es zu besiegen gilt. Wenn du morgen kämpfst, werden sie alle sterben. Denk an Asla und Kadlin!«, ermahnte ihn der Elf.

Alfadas strich Blut über das struppige Fell. »Ich denke an nichts anderes. Sie hätten den Hund nicht geschickt, wenn sie nicht in höchster Gefahr wären.«

»Du machst dir da etwas vor, mein Freund! Asla weiß doch nicht einmal, dass du zurückgekehrt bist. Warum sollte sie den Hund schicken?«

»Sie spürt, dass ich auf dem Weg zu ihr bin«, entgegnete er wütend.

»Das redest du dir ein, und das weißt du auch. Es gibt nur einen vernünftigen Grund, warum Blut nicht mehr bei deiner Tochter und deinem Weib ist.« Ollowain packte ihn bei den Schultern. »Verschließ dich nicht vor dem Offensichtlichen! Führe deine Männer nicht in den Tod, um zu retten, was längst verloren ist!«

»Sie leben!« Alfadas stieß seinen Freund von sich. »Sie sind hinter der zweiten Palisade, und sie warten auf mich. Du musst morgen nicht kämpfen, wenn du Angst hast. Die Maurawan werden dort sein. Sie sind der Schlüssel zum Sieg. Und vielleicht kommen auch noch Orimedes und seine Kentauren. Lysilla hat ihn sicher längst gefunden.«

»Du weißt, dass ich den Tod nicht fürchte«, sagte Ollowain traurig. »Aber ein Feldherr, der seine Schlachtreihen mit Hoffnungen statt mit Kriegern füllt, der macht mir in der Tat Angst. Dennoch werde ich morgen bei dir sein, mein Freund. Wenn du schon nicht auf dich achtest, dann muss ich es tun.«

Alfadas blickte nach Süden. Die Sturmböen hatten nachgelassen. Es fing an zu schneien. »Sie sind dort irgendwo«, sagte er leise. »Und sie brauchen mich.«

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