Draußen war etwas! Ole griff nach Köcher und Bogen, die neben der Tür lehnten. Seine Hunde waren unruhig. Nicht wie damals, als die verfluchten Elfen gekommen waren. Aber sie liefen in ihren Käfigen auf und ab. Irgendetwas schlich ums Haus oder war nahe am Waldrand. Diesmal würde er sich nicht überraschen lassen, dachte Ole wütend. Und er würde auch nicht nur einen Knüppel mitnehmen!
Vielleicht war es ja auch die ganze Zauberei droben auf dem Hartungskliff, die die Hunde verrückt machte. Aber es war besser nachzusehen, bevor wieder jemand in seiner Tür stand. Er streifte die Schärpe mit den Peitschen über, warf sich den Köcher über die Schulter und nahm den Bogen.
Die Dämmerung war längst vorüber, doch es wurde nicht richtig dunkel. Wieder tanzte das geisterhafte Feenlicht über den Himmel. Sein grüner Schein vertiefte die Schatten, aber im offenen Gelände konnte man ganz gut sehen.
Rings um das Haus war nichts. Ole ging zu den Ställen. Ruhelos strichen die Hunde entlang der Wände der großen Kisten, die er für sie gezimmert hatte.
»Mörder! Schädelbeißer!«, rief er scharf. Er zeigte den beiden Bluthunden die Peitschen, damit sie sich erinnerten, wer ihr Herr war. »Los, wir machen eine Runde!«
Kurz überlegte er, die Hunde an lange Lederleinen zu legen. Dann verwarf er es. Im Dorf wusste jeder, dass es nicht klug war, sich bei Nacht in die Nähe seines Hauses zu wagen. Ole war noch immer wütend wegen des Nachmittags. Dass dieser Halbelfenbastard vom König feierlich verabschiedet worden war! Sah denn niemand, was für ein aufgeblasener Wichtigtuer dieser Alfadas war? Wenn er ein Zauberschwert von den Elfen hätte, dachte Ole, dann könnte er auch ein Herzog sein! Dieses ganze Gerede von Helden und unsterblichem Ruhm fand Ole zum Kotzen. Die meisten dieser angeblichen Helden würden sich vor Angst in die Hosen machen, wenn sie nachts einem seiner Hunde begegnen würden.
»Schädelbeißer, was machst du da? Raus mit dir!« Der Bluthund drückte sich flach auf den Boden der Kiste, obwohl die Tür weit offen stand. Wütend drosch Ole mit der Peitsche auf den Hund ein. Die Eisendornen zerrissen dem Schisser das Fell. Blut troff von den gedrehten Lederschnüren. Widerstrebend kroch der Hund aus seiner Holzkiste und blickte hasserfüllt auf.
»Brauchst du noch eine Abreibung, Kläffer?« Ole hob drohend die Peitsche.
Der Hund duckte sich, ließ ihn aber nicht aus den Augen. So war es gut, dachte Ole. Sollten sie ihn nur fürchten! Das würde bessere Hunde aus ihnen machen. Da sie ihm nichts tun konnten, würden sie mit all ihrer Wut über jeden herfallen, der sich sonst in die Nähe wagte.
»Na, Mörder. Du hast es schon gelernt, nicht wahr? Versuchst erst gar nicht mehr, dich mir zu widersetzen. Kluger Hund! Los jetzt! Sucht!« Er ließ die Peitsche durch die Luft knallen. »Zeigt mir, was euch so unruhig macht!«
Schädelbeißer antwortete mit einem tiefen, kehligen Knurren, während Mörder sofort loslief. Mörder war nicht ganz so riesig wie die anderen Hunde. Er hatte ein kurzes, rostbraunes Fell und eine lange Schnauze. Er sah viel zu nett aus, um ihn als Bärenbeißer zu verkaufen. Aber er war mutig und gehorchte. Es waren nur wenige Prügel nötig gewesen, um ihn zu erziehen.
Schädelbeißer war da ganz anders. Er stammte aus demselben götterverfluchten Wurf wie Blut. Diese verdammte Brut hatte zwar alle äußeren Merkmale von Bestien, aber die Hunde waren so störrisch, dass man sie kaum beherrschen konnte. Und dann noch die Sache mit Kadlin! Ole wurde jetzt noch ganz schlecht, wenn er daran dachte, wie dieser Scheißkläffer das kleine Mädchen abgeschleckt hatte. Blut hatte genau gewusst, was er da tat. Er und sein Bruder Schädelbeißer waren zu klug für Hunde. Selbst die Peitsche half da nicht. Vor ihnen musste man stets auf der Hut sein. Sie wollten sich einfach nicht unterwerfen. Aber er war noch mit jedem Hund fertig geworden, dachte Ole stolz. Wenn sie zurück waren, würde er Schädelbeißer durchprügeln, bis ihm das zottelige schwarze Fell in Fetzen herabhing. Er würde schon sehen, wer hier den stärkeren Willen hatte! Sie waren dem Waldrand bis auf zwanzig Schritt nahe gekommen. Mörder stand wie angewurzelt und starrte in das dichte Unterholz. Ole nahm einen Pfeil aus dem Köcher und pirschte vorwärts. Da war etwas. Eine große, helle Gestalt. Zu groß für ein Reh. Es war weiß! Beim Schwänze Luths! Das musste eine weiße Elchkuh sein. Ein Vermögen auf vier Beinen! Weiße Elche waren so selten, dass man nur einmal in hundert Jahren einen fand.
So hieß es jedenfalls. Das mochte übertrieben sein, Tatsache aber war, dass ein solches Fell eines Königs würdig war.
Ole malte sich aus, wie er Horsa hinterher eilen würde. Mit etwas Glück könnte er den Herrscher in Honnigsvald einholen. Seine Abreise hatte sich verzögert. Irgendetwas war geschehen, was den König in Wut versetzt hatte. Er hatte seine Männer in alle Winde geschickt, so als sollten sie etwas suchen. Ob er vielleicht Gerüchte über die weiße Elchkuh gehört hatte?
Wie dem auch sei, dieses eine Mal leuchtete der Glücksstern ihm, Ole von Firnstayn! Von dem Geld für das Fell könnte er einen ganzen Mond lang in Honnigsvald saufen und huren!
»Los, Mörder, Schädelbeißer! Treibt die Kuh da heraus!« Ihre Beute hatte sie bemerkt und zog sich tiefer in den Wald zurück. Ole fluchte. Du entkommst mir nicht, schwor er sich.
»Luth hat dich nur für mich geschickt«, sagte er leise und so freundlich, dass sich Schädelbeißer misstrauisch nach ihm umsah, weil er diesen Tonfall von ihm nicht kannte. »Bleib stehen! Ganz gleich, wohin du läufst, ich kriege dich. Also erspar uns allen die Rennerei und bleib stehen.«
Mörder stürmte mit großem Eifer in den Wald. Kläffend versuchte er, der Elchkuh den Weg abzuschneiden. Ole hatte seine liebe Not, dem Hund ins Unterholz zu folgen. Die Elchkuh hingegen schien sich ohne Mühe ihren Pfad durch das Dickicht zu bahnen. Dabei war sie so geschickt, dass sie sich nicht durch den Lärm brechender Äste verriet. Ole blieb mehrmals stehen und lauschte. Er hörte zwar, wie sich Mörders wütendes Kläffen weiter entfernte, aber er hörte nicht das Knacken von Ästen, das ein so schweres Tier wie ein Elch eigentlich verursachen müsste. Auch vermochte Ole nicht die Fährte der Elchkuh aufzuspüren. Es war wie verhext. Hin und wieder fand der Hundezüchter Pfotenabdrücke von Mörder im schlammigen Waldboden. Guter Hund! Er würde ein großes Lendenstück abbekommen. Hoffentlich stellte er die Kuh nicht allein und ruinierte durch seine Attacken das kostbare Fell!
Inzwischen war es still geworden. Der Lärm der Verfolgung war verklungen. Ole fluchte stumm in sich hinein. Mit jedem Augenblick, der verstrich, ohne dass er die Elchkuh hörte, wurde es wahrscheinlicher, dass sie ihm entkommen war.
Seine Jagd hatte ihn tief in den Wald geführt. Nicht weit entfernt erkannte er eine Gruppe von Felsblöcken, die von Jägern gern als Lagerplatz genutzt wurde. Ole überlegte, ob er dort ein Feuer entfachen sollte, um im ersten Morgenlicht zurückzukehren. Der Weg durch den dunklen Wald war recht beschwerlich, wenn man nicht vom Jagdfieber vorangepeitscht wurde.
»Schädelbeißer?« Der störrische Hund war im Unterholz verschwunden. Die meiste Zeit über hatte er sich ganz in Oles Nähe gehalten.
Der Jäger blies sich auf die Hände. Sie waren dunkel vor Kälte. Er lehnte seinen Bogen an einen Baum und klopfte sich mit den Händen vor die Brust. Er hatte die Waffe so fest gehalten, dass seine Finger ganz verkrampft waren.
»Schädelbeißer! Bei Fuß! Wo steckst du Mistvieh?« Nichts regte sich. Hatte der Hund die Gelegenheit genutzt auszureißen? Ole stapfte zu den Steinen hinüber. Der Wald war hier weniger dicht, so dass man gut den Himmel sehen konnte. Einzelne Sterne leuchteten hell hinter den Schleiern aus grünem Feenlicht. Die Felsen hatten eine graugrüne Färbung. Die alte Feuerstelle wirkte wie eine schwärende Wunde im Waldboden. Es war totenstill. Nicht der leiseste Luftzug ließ die kahlen Äste wispern.
Misstrauisch sah Ole sich um. Etwas stimmte nicht! Der Lagerplatz lud in dieser Nacht nicht zum Verweilen ein. Unschlüssig, ob er bleiben sollte, bückte er sich, um nach der Felsnische zu sehen, in der stets ein Vorrat trockenen Holzes lag. Es war eine längliche Höhlung, die wohl einst ein längst versiegter Wasserlauf aus dem Fels gewaschen hatte. Bei schwerem Regen oder Sturm konnte dort ein einzelner schlanker Mann Zuflucht vor dem Wüten der Elemente finden. Wer immer den Rastplatz nutzte, lagerte dort einen Vorrat frisches Bruchholz ein, bevor er weiterzog, damit auch der nächste Wanderer ein Lagerfeuer anzünden konnte.
Ole griff in die Spalte und fuhr augenblicklich zurück. Er hatte etwas Trockenes, Pelziges berührt! Rasch zog er seinen langen Jagddolch und wartete ab. Was immer dort im Spalt verborgen lag, rührte sich nicht. Vielleicht hatte nur ein Jäger seinen Wasserschlauch zurückgelassen oder eine Jagdtasche aus Fell. Es war albern, sich so aufzuführen!
Ole sah sich unsicher um. Niemand war in der Nähe. Endlich fasste er sich ein Herz und griff noch einmal in den Spalt. Er zerrte an dem Ding, bis es mit einem Ruck freikam und vor ihm auf den Boden purzelte. Ein vertrockneter und völlig verschrumpelter Tierkadaver lag vor ihm. Die Lefzen waren hochgezogen und gaben den Blick auf lange Fänge frei, die im Feenlicht grünlich schimmerten. Erst als Ole das Würgehalsband erkannte, begriff er, was da vor ihm lag.
»Mörder?«, flüsterte er und strich über das kurze Fell. Der Hund wirkte jetzt viel kleiner. Etwas hatte ihm das Fleisch von den Knochen geschmolzen, bis nur noch Haut und Gebein übrig waren.
Offensichtlich hatte Mörder noch gelebt, als er in der flachen Höhlung Zuflucht gesucht hatte. Der Hund hatte die Läufe eng an den Leib gezogen. Seine Schnauze war zur Verteidigung bereit vorgereckt. Doch wovor hatte er sich dort versteckt?
Hätte Ole den Hund nicht vor wenig mehr als einer Stunde noch gesehen, er hätte Stein und Bein darauf geschworen, dass vor ihm der Kadaver eines Tieres lag, das schon seit vielen Wochen tot war. Mörder fühlte sich noch warm an. Was immer ihn getötet hatte, musste ganz in der Nähe sein! Ole spürte, dass er beobachtet wurde. Etwas war hinter ihm. Er hatte ein leises Geräusch gehört. Es klang wie das Kratzen einer Pfote auf Stein. Ruckartig drehte der Hundezüchter sich um, den Dolch abwehrbereit erhoben. Zwischen den Felsen stand Schädelbeißer. Der große Hund hob witternd den Kopf.
Nie war Ole so froh gewesen, dieses störrische Mistvieh zu sehen! »Wir sollten von hier verschwinden, mein Feiner. Wir möchten doch nicht so enden wie Mörder!« Der große Hund sah ihn abschätzend an. Seine Augen waren wie schwarze Seen. Im Zwielicht sah man deutlich die breiten Narben auf seiner Schnauze. Schädelbeißer stieß einen kurzen Schnauber aus, dann drehte er sich um und machte sich davon.
»Du kannst doch nicht einfach abhauen, du Missgeburt!« Ole lief dem Hund hinterher. Erst als der Lagerplatz schon ein ganzes Stück hinter ihm lag, fiel ihm auf, dass er seinen Bogen zurückgelassen hatte. Schädelbeißer war längst im Unterholz verschwunden. Dornenranken zerrten an Oles Kleidern. Was für eine verfluchte Nacht! Wahrscheinlich waren Feen oder andere magische Geschöpfe heimlich durch das Tor gekommen, um nun unter den Fjordländern ihr Unwesen zu treiben.
Unschlüssig, was zu tun war, blieb der Hundezüchter stehen. Der Wald zog sich hier eine Bergflanke hinauf. An manchen Stellen brach blanker Fels durch den Boden. Hinter ihm ging es ziemlich steil bergab. Wurzeln, halb im Laub versteckt, waren tückische Fußangeln. Es war verrückt, mitten in der Nacht und ohne Licht hier herumzulaufen.
Gerade am Rand seines Gesichtsfeldes fiel ihm ein matter Schein auf. Ole drehte sich um. Das waren ganz sicher Feen! Er kannte sich aus, hatte alle Geschichten über diese bösartigen kleinen Verwandten der Elfen gehört. Einsame Wanderer zu foppen, war ihre Lieblingsbeschäftigung.
»Mich kriegt ihr nicht!«, murmelte der Hundezüchter leise.
»Mich nicht!« Da war es wieder! Etwas huschte lautlos zwischen den Bäumen hindurch. Und dann schob sich ein massiger, weißer Leib hinter einem Gebüsch hervor. Die Elchkuh! Sie musste durch eine Bodensenke gelaufen sein! Das war des Rätsels Lösung! Hier gab es keine Feen. Nur einen völlig verängstigten Hundezüchter. Ole lachte leise. Das Feenlicht ließ ihn Geister sehen! Das wusste jedes Kind. Die Menschen wurden ganz närrisch, wenn die grünen Lichter über den Himmel zogen. Sein Glück hatte zu ihm zurückgefunden. Es gab keinen Grund, sich zu ängstigen. Er ... Ole hätte laut losfluchen mögen. Sein Bogen! Luth hatte wohl beschlossen, ihn zu verhöhnen! Ohne Bogen konnte er der Elchkuh nichts tun. Sie würde kaum brav stehen bleiben, wenn er zu ihr hinüberging, um ihr mit seinem Jagddolch die Kehle durchzuschneiden. Aber vielleicht ließ sie ihn nahe genug kommen, dass er den Dolch werfen konnte? Wenn die Elchkuh erst einmal verwundet war, dann würde er sie leichter verfolgen können.
Vorsichtig pirschte Ole sich heran. Er schaffte es, sich auf zehn Schritt seiner Beute zu nähern, ohne dass die Elchkuh auch nur den Kopf in seine Richtung wandte. Der Wind blies ihm entgegen. Sie konnte keine Witterung von ihm aufnehmen! Meinte es Luth doch gut mit ihm?
Die Elchkuh stand hinter einem Dickicht aus Dornenranken. Mit einem Hechtsprung könnte er vielleicht auf ihren Rücken gelangen und ihr den Dolch an den Nackenwirbeln vorbei ins Hirn stoßen. So wäre das Vieh sofort tot, und sein Fell würde kaum mit Blut besudelt. Ole war sich darüber im Klaren, dass dies nicht die Art war, wie man Elche jagte, und dass ein so tolldreister Angriff wenig Aussicht auf Erfolg hatte. Aber vielleicht war ihm ja das Glück hold! Werfen konnte er seinen Dolch immer noch.
Noch fünf Schritt. Zoll um Zoll schob er sich vorwärts. Jetzt nur keinen Fehler machen! Ein knackender Ast, ein Stein, gegen den er stieß und der den Hang hinabrollte, eine Kleinigkeit reichte schon, um die Jagd zu verderben. Noch zwei Schritte. Ole hatte fast den Rand des Dornengestrüpps erreicht. Er spannte sich, bereit zum Sprung. Noch immer hielt die Elchkuh den Kopf gesenkt. Sie ahnte nichts von ihrem Schicksal.
Der Hundezüchter grinste. Das Dickicht war niedrig. Es reichte ihm kaum über die Knie. Die Elchkuh musste auf der anderen Seite in einem Graben stehen. Ole stieß sich ab. Im selben Augenblick sah die Elchkuh auf. Ihr Kopf war seltsam. Zu schlank. Und ihre Zähne ... Mit einem Satz wich das Tier zur Seite aus. Unglaublich schnell.
Oles Herz setzte einen Schlag lang aus. Hinter dem Dornendickicht war kein Graben! Sich überschlagend, stürzte er eine steile, mit Felstrümmern übersäte Böschung hinab. Unfähig, seinen Sturz abzubremsen, schlug er gegen Baumstämme und Steine. Es fühlte sich an, als dresche eine ganze Räuberbande mit Knüppeln auf ihn ein. Er ließ seinen kostbaren Dolch fahren und versuchte mit seinen Händen so gut es ging den Kopf zu schützen. Ein Stoß in den Rücken presste ihm die Luft aus den Lungen. Er konnte nicht mehr atmen. Immer schneller überschlug er sich. Seine Nase blutete. Plötzlich packte etwas seinen linken Fuß. Mit einem mörderischen Ruck endete der Sturz. Er wurde halb herumgerissen. Sein Schienbein schlug auf etwas Hartes. Deutlich hörte er ein trockenes Knacken. Sengender Schmerz durchfuhr sein Bein. Er schrie seine Pein in den Wald hinaus. Es war, als habe ihn eine Axt getroffen. Tränen rannen ihm über die Wangen, ihm wurde übel. Er versuchte sich aufzurichten, doch sein Fuß steckte noch immer fest. Er hatte sich in einer Wurzel verfangen. Grelle Lichter tanzten vor Öles Augen. Er konnte nur undeutlich erkennen, was mit seinem Bein war. Ein gebrochener Ast schien sich durch seinen Unterschenkel gebohrt zu haben.
Ole hechelte vor Schmerz. Endlich schaffte er es, sich aufzusetzen. Er musste diesen verdammten Ast aus der Wunde ziehen und sie dann mit dem Gürtel abbinden. Sein Bein war merkwürdig verdreht. Der Fuß steckte in einem seltsamen Winkel in der Wurzelschlinge fest. Bei dem Anblick übermannte ihn eine neue Welle von Übelkeit. Er schloss die Augen, griff mit beiden Händen nach dem verfluchten Ast und zog mit aller Kraft daran. Der Schmerz traf ihn wie ein Peitschenhieb. Ole brüllte wie ein Tier. Keuchte, weinte. Es war, als habe man ihm eine glühende Eisenstange ins Bein gestoßen. Durch einen Tränenschleier starrte er auf seine blutverschmierten Hände und dann auf das Bein. Das war kein Ast, der aus dem zerschundenen Fleisch ragte. Es war sein Schienbeinknochen!
Plötzlich wurde es kälter. Vor ihm stand die Elchkuh am Steilhang. Nein ... Jetzt erkannte Ole seinen Irrtum. Dieses Geschöpf war so groß wie eine Elchkuh, aber das war schon alles, was es mit einem Elch gemein hatte. Sein Kopf erinnerte an einen riesigen Hundekopf. Fingerlange Reißzähne säumten die Kiefer. Und es war durchscheinend. Blasses, geisterhaftes Licht ging von ihm aus.
Eine Zeit lang stand die Kreatur einfach nur dort und blickte auf ihn hinab. Ole hatte den Eindruck, dass dieses Geistertier sich an seinen Schmerzen weidete. Endlich senkte es den Kopf und kam ein wenig näher. Seine Kiefer schnappten nach dem verletzten Bein. Es fühlte sich an, als berühre ihn eisiger Winterwind. Die Zähne versanken in seinem Fleisch, ohne es zu verletzen.
Etwas Goldenes schimmerte zwischen den Fängen. Die Bestie riss den Kopf zurück. Sie zerrte etwas aus ihm heraus. Eine Schlange? Nein, es sah eher wie eine Nabelschnur aus goldenem Licht aus.
Alle Gelenke begannen ihm zu schmerzen. Halb ohnmächtig tastete Ole nach der Schärpe mit den Peitschen. Immer brennender wurde der Schmerz in seinen Gliedern. Gleichzeitig überkam ihn eine Mattigkeit, als sei er seit Tagen ohne Schlaf. Er musste all seine Willensstärke aufbieten, um eine Peitsche aus den Lederschlaufen der Schärpe zu ziehen.
»Alles, was wie ein Hund aussieht, hat Angst vor mir.« Seine Stimme war nur ein heiseres Flüstern. Sie klang wie die eines Greises. Die Bestie blickte kurz auf. Mit mattem Schwung ließ Ole die Peitschenschnur nach der Schnauze der Kreatur schnellen. Es gab ein zischendes Geräusch, als gieße man Wasser in die Glut. Die Peitschenschnur fuhr durch den geisterhaften Leib der Bestie hindurch. Kleine Funken glommen auf. Die Kreatur machte einen erschrockenen Satz zurück und stieß ein klägliches Jaulen aus. Dann stürmte sie davon und war binnen Augenblicken zwischen den Bäumen verschwunden.
»Ich hatte es dir doch gesagt! Ich werde mit jedem Hund fertig«, murmelte Ole, dann sank er zurück. Er fühlte sich schwach wie ein alter Mann. Klopfender Schmerz marterte sein Bein. Er versuchte erneut, sich aufzurichten, doch seine Kräfte versagten. Ole wusste, dass es aussichtslos war, hier um Hilfe zu rufen. Niemand würde ihn hören.
Wie eine Ausgeburt der Nacht stand Schädelbeißer plötzlich vor ihm. Der große, schwarze Hund musterte ihn mit kaltem Blick. Dann stieß sein unförmiger Kopf vor. Er schnappte nach dem Knochen, der aus der offenen Wunde klaffte. Mit wütendem Knurren riss er das Bein hin und her.
Oles Stimme überschlug sich in schrillem Kreischen. Er hörte den Knochen zwischen den riesigen Fängen knacken. Blut spritzte ihm ins Gesicht. Er wünschte sich, ohnmächtig zu werden, doch der Schmerz peitschte ihn auf.
Schädelbeißers Schnauze hatte sich tief ins Fleisch gegraben. Noch etwas knackte in der Wunde. Der große Hund stemmte seine Vorderpfoten mit aller Kraft ins weiche Erdreich. Plötzlich gab es einen Ruck, Schädelbeißer geriet aus dem Gleichgewicht. Er hatte das Bein durchgebissen. Ohne Ole aus den Augen zu lassen, kauerte er sich nieder und riss das Fleisch von den Knochen. Blut hatte sich in den tiefen Narben auf seiner Schnauze gesammelt und ließ sie wie frische Wunden erscheinen.
Öles Schreie hatten nichts Menschliches mehr. Seine Finger klammerten sich in den Waldboden. Er versuchte, sich fortzuschleppen, auch wenn er wusste, dass er dem Bluthund nicht entkommen konnte und das schaurige Mahl noch lange nicht beendet war.