»Ich heisse Birga«

Lyndwyn war auf einen großen Schild gebunden. Eine enge Lederschlinge lag um ihren Hals, Arme und Beine waren weit abgespreizt und ebenfalls mit Schlingen gefesselt. Der Schild stank nach Blut und Exkrementen. Ein Auge war der Elfe zugeschwollen, und dennoch war sie bisher glimpflich davongekommen. Bisher ... Ein Stück neben dem Brett lag eine helle Haut im Schnee ausgebreitet. Darauf waren allerlei kleine Messer verstreut. Primitive Klingen aus Knochen und Feuerstein. Dunkle Flecken verrieten ihren Gebrauch. Ein zweiter Schild war Lyndwyn gegenüber in den Schnee gerammt. Die Schamanin stand dort und redete auf ein gebeugtes altes Weib ein, das sich auf einen Stab stützte.

»Ich sage dir, sie ist anders als die anderen, die man mir bisher gebracht hat, Skanga. Ich spüre ihre Macht, wenn ich sie berühre. Sie war erschöpft, sonst hätten drei einfache Kundschafter sie niemals fangen können.« Das Trollweib mit der widerlichen Maske sah zu ihr hinüber. Lyndwyn war sich sicher, dass es die Absicht der Schamanin war, dass sie mithörte, was besprochen wurde.

Die alte Vettel ließ sich durch die Einwände nicht beeindrucken. Lyndwyn hatte das Gefühl, dass dieses alte Weib das Sagen hatte.

»Du wirst heute bei Einbruch der Dämmerung gehen, Birga. Orgrim erreicht nun bald ein Dorf nahe einem großen Albenstern. So kannst du leicht zu ihm stoßen. Er braucht dich an seiner Seite. Er darf keine Dummheiten machen, wenn er mit diesem aufgeblasenen Wichtigtuer vom Mordstein zusammentrifft. Du wirst mir auf ihn aufpassen!«

Das Trollweib mit der Maske schnaubte. »Orgrim konnte bisher gut auf sich allein Acht geben.«

»Missverstehe mich nicht, Birga. Ich bitte dich nicht, dass du gehst. Ich erwarte es von dir.«

»Aber diese Elfe«, die Schamanin deutete zu Lyndwyn. »Ich glaube, sie ist von Bedeutung. Es wäre klüger, es nicht zu überstürzen mit ihr. Sie kann mir sicher ...«

»Sieh zu, dass du all deine Antworten bis zur Stunde der Dämmerung bekommst. Jetzt, da der Königsstein auf immer verloren und der Passweg nach Carandamon versperrt ist, gibt es nur noch wenige Dinge von Bedeutung, die uns deine Elfe erzählen könnte. Wenn sie eine Adelige wäre, vielleicht ...« Das alte Weib zuckte mit den Schultern. »Mach mit ihr, was immer du willst, aber schnell!« Mit diesen Worten ging die Alte davon.

Die Schamanin murmelte etwas vor sich hin, was Lyndwyn nicht verstehen konnte. Dann ging sie hinüber zu der Haut mit den Messern. Sie wählte eine dunkle, leicht gekrümmte Steinklinge.

»Bist du durstig?«, fragte das Trollweib unvermittelt.

»Nein.« Die Zauberweberin war nicht neugierig herauszufinden, was sie hier zu trinken bekäme.

»Es tut mir Leid, dass nun alles in großer Eile geschehen muss. Dafür will ich mich entschuldigen.« Das riesige Weib richtete sich auf. Sie strich Lyndwyn mit ihren bandagierten Händen durchs Gesicht. Die fleckigen Stoffstreifen stanken nach Verwesung. »Eine schöne Haut hast du. Ihr Elfen habt von allen die vollkommenste Haut. So zart ...«

Die Schamanin stand so dicht vor ihr, dass Lyndwyn ihren Atem auf dem Gesicht fühlte. Sie stank nach saurer Milch.

»Ich weiß, dass du eine mächtige Zauberweberin bist. Etwas hat dich erschöpft ... Aber du wirst dich bald erholen. Vielleicht sollte ich dir die Zunge herausreißen und dich blenden, um mich zu schützen.« Das Trollweib beugte sich vor und schnupperte an ihr. Lyndwyn wünschte, sie hätte hinter ihre Maske sehen können, um in ihrem Gesicht zu lesen.

»Sehr schön, mein Elflein. Du beginnst nach Angst zu riechen. Nun sag mir, wie bist du auf den Berghang gekommen?«

»Durch Zauberei.«

»Das glaube ich nicht. Du siehst nicht so aus, als wärst du so dumm, dich auf die falsche Seite des Berges zu zaubern. Anfangs versucht ihr immer, mich zu belügen. Aber ich werde es dir leichter machen, dich für die Wahrheit zu entscheiden.« Sie griff nach Lyndwyns rechter Hand und spreizte ihr den kleinen Finger ab. Die Elfe bäumte sich auf, doch gegen die Kraft des Trollweibs vermochte sie nicht anzukommen. »Ich heiße Birga. Man redet besser miteinander, wenn man die Namen kennt. Wirst du mir verraten, wie du heißt?«

»Lyndwyn.«

»Ein hübscher Name.« Die Schamanin hob das Messer. »Ich werde dir jetzt ein wenig wehtun. Es ist keine große Sache. Ich möchte nur, dass du dir besser vorstellen kannst, was ich dir noch alles antun könnte.« Vorsichtig ritzte sie mit dem Messer die Haut des kleinen Fingers. Dabei achtete sie darauf, dass Lyndwyn alles genau sehen konnte. Der Schnitt ging von der Fingerkuppe bis dorthin, wo der Finger aus der Handfläche wuchs. Hier machte die Schamanin einen zweiten Schnitt, der sich wie ein dünner, blutiger Ring einmal um die Fingerwurzel zog. Lyndwyn wurde schlecht. »Ich bin nicht durch Zauberei auf den Berghang gekommen.« So viel konnte sie verraten. Das war kein Geheimnis!

»Das weiß ich doch.« Die Stimme der Schamanin klang freundlich. »Darüber werden wir gleich weiterreden. Es dauert nicht mehr lange.« Vorsichtig schob sie die schmale Steinklinge unter die Haut des Fingers und begann sie vom Fleisch zu lösen.

Lyndwyn wand sich, doch es war unmöglich, dem eisernen Griff des Trollweibs zu entkommen.

»Zapple nicht so, Kleines.« Mit einem Ruck zog sie die gesamte Haut des kleinen Fingers ab. »Sieh nur, wie gut man deine Sehnen und Muskeln sehen kann. Es blutet kaum. Es erfordert einige Übung, um so sauber eine Haut abzuziehen.« Die Schamanin nahm ein Knochenmesser und spießte den kleinen Hautstreifen damit auf den gegenüberliegenden Schild, sodass Lyndwyn ihn gut sehen konnte.

Der Elfe war übel. Ihr Finger brannte, als halte man ihn in eine Flamme. Sie wagte es nicht, ihn anzusehen. Du kannst das durchstehen, ermahnte sie sich in Gedanken. So wirst du Ollowain retten!

Birga strich ihr mit der bandagierten Hand über das Gesicht. Ein wenig frisches Blut schimmerte auf dem Stoff. »Du ahnst nicht, was für ein Geschenk deine Haut ist. Euch Elflein sieht man es nie an, ob ihr euer Alter nach Jahrzehnten oder nach Jahrhunderten zählt.« Sie seufzte. »Du wolltest mir vom Berghang erzählen?« Lyndwyn behauptete jetzt, durch einen Tunnel entkommen zu sein. Wie sonst hätte Ollowain mit ihr auf den Hang gelangen können?

Die Schamanin nickte zufrieden. »Lassen wir das! Sag mir, was für eine Art Zauberweberin du bist! Etwas mit dir ist doch anders.« Lyndwyn überlegte, ob sie wohl den Mut hätte, sich die Zunge abzubeißen. Sie durfte nicht vom Albenstein sprechen! Ganz gleich, was Birga ihr noch antat.

»Ich sehe schon, es wird wieder schwieriger.« Sie blickte zu dem Holzschild, auf dem die Haut des Fingers hing. Dann griff sie nach ihrer Maske. »Weißt du, dass dies hier aus der Gesichtshaut einer Hure gefertigt ist, die meinen König betrügen wollte? Sie war ein sehr hübsches Weib. Hübsch und dumm!« Wieder strich sie Lyndwyn durchs Gesicht. »Hübsch bist auch du. Bist du auch dumm?«

»Ich habe den Zauberwebern der Normirga geholfen, das Feuer unter dem Berg zu bändigen«, stieß Lyndwyn hervor.

Das Trollweib lachte. »Na, es war doch nicht schwer, mir das zu verraten. Nun sollst du auch ein Geheimnis von mir wissen.« Sie hob die Maske an, sodass Lyndwyn ihr Gesicht sehen konnte. Gnadenlos zeigte das graue Winterlicht eine konturlose Masse. Was die Zauberweberin sah, erinnerte an zerschmolzenes Wachs ... Nein, eher noch an eine tropfende Kerze. Waren es Warzen? Fleischperle reihte sich an Fleischperle, überzogen von grauer Haut. Sie wucherten auf Augenlidern, ließen die Nase zu einem unförmigen Klumpen werden, ja selbst die Lippen waren ungleichmäßig. Die Fleischperlen überwucherten einander, sodass Teile des Gesichts dick aufgequollen waren. Manche schnürten sich ab und hingen nur noch an dünnen Hautfädchen. Birga strich Lyndwyn über die Wangen.

»Du warst dein Leben lang schön. Du wirst nie ermessen, was das hier bedeutet.« Mit diesen Worten setzte sie wieder die Maske auf. »Und nun sprechen wir über deine Königin. Weißt du, wohin sie geflohen ist?«

»Ich bin keine Normirga!«, entgegnete die Elfe ausweichend.

»Ah, ich sehe, wir nähern uns verborgenen Wahrheiten.« Birga hob ihr Messer und zerschnitt Lyndwyns Kleid vom Halssaum bis zum Gürtel. Sorgfältig streifte sie den Stoff zurück. »Du hast etwas Sprödes, meine Hübsche. Mag sein, dass du noch nicht oft bei den Männern gelegen hast. Da hätten wir etwas gemeinsam.« Sie prüfte mit den Fingern das weiche Fleisch ihrer Brüste, strich über den Rippenbogen, hinab zum Bauchnabel. »Deinen Finger wirst du leicht verbergen können, Lyndwyn. Vielleicht macht es dich gerade interessant, wenn du immer einen Handschuh trägst. Was glaubst du, was du noch vor den Blicken der Männer verbergen magst? Oder möchtest du mir jetzt etwas von der Königin erzählen?«

Lyndwyn stand kalter Schweiß auf dem Gesicht. »Ich bin keine Normirga«, wiederholte sie.

»Nun, das hatten wir schon.«

Birga hob ihr Messer.

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