Blut

Nebel kroch die Ufer des Fjords hinauf und verschluckte das Dorf. Manchmal hörte Alfadas unten ersticktes Lachen. Ganz Firnstayn feierte das Apfelfest. Sein Langhaus lag ein wenig abseits der anderen Hütten. Er erinnerte sich nicht mehr sicher, ob es seine Idee gewesen war, hier zu bauen, oder ob Kalf, der damals noch Jarl gewesen war, es vorgeschlagen hatte. Mit seinem Haus war es wie mit ihm. Es lag am Rand des Dorfes, nicht in dessen Herz. So wie er geachtet wurde, aber nicht den Weg in die Herzen der Menschen fand. Er blieb der Fremde. Selbst für Asla, die ihn so gern mein schöner, fremder Mann nannte.

Oder bildete er sich das alles nur ein? Der Hügel war der beste Platz. Vielleicht hatten sie ihn auszeichnen wollen? Das harte Leben hier in den Bergen ließ den Menschen keine Zeit, kompliziert zu sein. Sie sagten meistens geradeheraus, was sie dachten.

Die feinen Härchen in seinem Nacken richteten sich auf. War da ein Geräusch? Etwas bewegte sich im Nebel. Kein Mann. Kehliges Knurren erklang. Alfadas schwenkte die Fackel. Wie aus dem Nichts erschien ein großer, schwarzer Hund. Die Zähne gefletscht, kam er mit steifen Schritten näher. Ein tiefer, blutiger Striemen lief über seine Schnauze.

»Bei Fuß, Blut!«, erklang eine herrische Stimme im Nebel.

Der Hund blieb stehen. Er zitterte vor Anspannung. Alfadas rechnete damit, dass ihn die Bestie jeden Augenblick anspringen würde. Sie hatte ein struppiges schwarzes Fell. Eine breite Lederschlinge lag um ihren Hals.

»Ich grüße dich, Jarl.« Ein stämmiger Mann trat hinter den Hund und zog einen Riemen durch die Halsschlinge. »Aus!«, schnauzte er den Hund an, der sich widerwillig niederlegte.

»Sei gegrüßt, Ole Ragnarson.« Alfadas gab sich nicht die Mühe, einen herzlichen Tonfall zu heucheln. Er mochte den Bruder seines Schwiegervaters nicht. Ole war ein verschlagener und brutaler Kerl. Er züchtete Hunde und quälte sie so lange, bis sie blutgierige Bestien wurden.

»Willst du mich nicht hineinbitten?«

Ole wusste genau, was er von ihm hielt. Die beiden maßen einander mit Blicken. Der Hundezüchter war ein stämmiger Mann mit langem, rotem Haar. Sein fleischiges Gesicht wurde von einem schlecht gepflegten Bart gerahmt, in dem sich breite graue Strähnen eingenistet hatten. Ole trug einen schönen, tiefroten Umhang, der von einer Bronzebrosche gehalten wurde. Er roch wie seine Hunde nach nassem Fell, Pisse und fauligem Fleisch. »Dein Hund kommt nicht in mein Haus.«

»Das wäre keine weise Entscheidung, Jarl. Jeder weiß, wie reizbar meine Schätzchen sind.« Er hielt die Leine hoch. »Was glaubst du, wie lange Blut brauchen wird, um das hier durchzubeißen? Möchtest du wirklich, dass ein Hund wie er durch das Dorf streift? Du weißt, ich richte sie darauf ab, sich sogar mit Wölfen und Bären anzulegen. Und sie sind immer hungrig. Ich könnte mir vorstellen, dass Blut einen Besoffenen, der durch die Nacht torkelt, mit leichter Beute verwechselt. Wenn du natürlich eine Kette hättest, dann könnten wir ihn hier draußen festmachen.«

Ole wusste genau, dass es in keinem einzigen Haus des Dorfes eine Kette gab. Eisen war viel zu kostbar, um es für Ketten zu verschwenden.

»Warum hast du dieses Mistvieh überhaupt mitgebracht?«

Der Hundezüchter lächelte breit. »Du hast doch sicher heute Abend auch ein paar Männer von den Einödhöfen unter deinen Gästen. Die können draußen in der Wildnis immer einen guten Hund gebrauchen. Man sperrt ihn in einen Käfig, und sobald sich ein Fremder dem Hof nähert, schlägt er an. So etwas ist gut, wenn man in der Einsamkeit lebt. Außerdem sind meine Hunde hervorragend zu jeder Form von Jagd geeignet. Ganz gleich, ob man einem Elchbullen nachstellt, ein Wolfsrudel vertreiben will oder einen entlaufenen Sklaven zurückholen möchte. Meine Hunde machen jede Blutarbeit. Und sie gehorchen, solange ihr Herr und seine Peitsche in der Nähe sind, nicht wahr, Blut?«

Der Hund starrte Ole hasserfüllt an. Im Gürtel des Züchters steckte eine Peitsche, in deren lange Riemen Bleikugeln und Domen eingeflochten waren.

»Wenn ich einen Hund verkaufe, dann gebe ich immer die Peitsche dazu, mit der ich ihn großgezogen habe. Sie wissen dann, wer ihr neuer Herr ist. Vor allem, wenn man sie gleich nach dem Kauf mit der Peitsche ordentlich durchprügelt.«

»Bring diesen Hund weg, und du bist mir als Gast willkommen.«

Ole trat so dicht an ihn heran, dass Alfadas dessen stinkenden Atem riechen konnte. »Schick mich fort, und ich gehe ins Dorf, um jedem zu erzählen, dass du mir zum Fest den Zutritt in das Haus meiner Nichte verweigert hast, Jarl. Zum nächsten Vollmond wird das Dorf den neuen Jarl wählen. Ich dachte immer, der Titel sei dir wichtig, Alfadas Mandredson? Ein Mann, der einem Verwandten das Gastrecht verwehrt, wird bei der Wahl einen schweren Stand haben. Kalf hat viele Freunde. Man munkelt, sogar dein eigenes Weib mag ihn.« Er lächelte anzüglich.

»Vielleicht sogar ein bisschen mehr als das.«

Alfadas legte die Hand auf den Griff des Messers an seinem Gürtel.

Ole lachte. »Dein Vater hätte mich schon längst niedergestochen. Aber du hast verdammt wenig vom großen Mandred an dir, Elfenbastard.«

»Du weißt, dass ich kein Halbblut bin! Du warst Zeuge, wie sie mich geholt haben. Oder hast du das schon vergessen? Und jetzt verschwinde.«

»O ja. Ich war Zeuge, wie diese kaltherzige Brut den Sohn von Mandred und Freya holen kam. Aber weiß ich, wer der Mann ist, der ein halbes Menschenleben später zurück ins Dorf kam? Sieh dich an! Hast du vielleicht das heiße Blut eines Fjordländers? Jeder richtige Mann würde längst mit mir kämpfen, Halbblut. Es ist das Blut deiner Mutter, irgendeiner Elfenschlampe, das dich so langmütig macht.«

»Kennst du nicht die Geschichten über die Grausamkeit der Elfen, Ole?«

Der Hundezüchter runzelte die Stirn.

»Geschichten von Menschen, die ihnen begegnet und dann für immer verschwunden sind«, fuhr Alfadas fort.

Ole leckte sich nervös über die Lippen. »Bei Fuß, Blut!« Seine Stimme klang jetzt heiser. Er zog die Peitsche aus dem Gürtel und klopfte mit dem Griff auf seinen Oberschenkel.

»Wenn du Recht hast, dann bist du vielleicht in tödlicherer Gefahr, als du dir vorzustellen vermagst.« Alfadas griff nach der Peitsche und drehte sie Ole mit einem Ruck aus der Hand.

»Fass, Blut!«, kreischte der Hundezüchter. Doch die Bestie rührte sich nicht.

»Was sagtest du gleich? Du richtest sie so ab, dass sie auf den hören, der ihre Peitsche in Händen hält. Glaubst du, er würde auf mich hören, wenn ich ihm befehle, dich zu zerfleischen?«

Ole stand der blanke Schweiß auf der Stirn. »Ich entschuldige mich. Ich habe etwas getrunken. Dann rede ich dummes Zeug. Du musst ...«

»Du riechst gar nicht so, als hättest du getrunken.« Alfadas blickte auf den Hund hinab. »Ich bin mir sicher, niemand würde sich wundem, sollte dir einer deiner eigenen Hunde die Kehle herausreißen. Glaubst du, das wäre die Art, wie sich Elfen rächen? Einen Schinder wie dich von seinen gequälten Opfern töten zu lassen?«

»Ja!« Ole keuchte. Er starrte Alfadas an. Wartete auf eine Reaktion. »Ich meine, nein. Ich ...«

Der Jarl schob dem Hundezüchter die Peitsche in den Gürtel zurück. »Merk dir eins, Ole. Ich hasse es, verleumdet zu werden. Wenn ich noch einmal höre oder auch nur den Verdacht habe, dass du schlecht über mich redest, dann wird man dich eines Morgens zwischen deinen Hunden finden. Und dass du es bist, der dort liegt, wird man allein an deinen zerrissenen Kleidern erkennen. Bis heute Abend habe ich mich bemüht zu übersehen, wie du dich aufführst, weil du der einzige Onkel meiner Frau bist. Mit meiner Langmut ist es nun vorbei. Hüte dich vor mir.«

Ole legte eine Hand auf die Peitsche.

Alfadas ertappte sich bei dem Wunsch, dass der Hundezüchter jetzt eine Dummheit machte.

»Ich ...«, begann Ole, als sich die Tür des Langhauses öffnete. Aslas Schattenriss hob sich deutlich gegen das rötliche Licht im Innern ab. Der Rauch der Feuergrube zog neben ihr aus der Tür.

»Schön, dass du gekommen bist«, begrüßte sie ihren Onkel herzlich. Dann bemerkte sie den Hund und zögerte. »Komm doch herein«, sagte sie schließlich tonlos.

Ole blickte zu Alfadas, doch der Jarl verzog keine Miene. Er wollte dem Hundezüchter seine Entscheidung nicht abnehmen.

Aslas Onkel strich sich fahrig über die Stirn. Dann trat er in das Langhaus. Sein Hund hielt sich dicht neben ihm. »Hast du vielleicht einen Markknochen mit etwas Fleisch dran? Blut ist friedlich, solange er etwas hat, woran er kauen kann.«

»Blut?«, fragte Asla verwundert.

Ole deutete auf den schwarzen Hund. Das Monstrum reichte ihm fast bis zu den Hüften. »Ich war mit meinen anderen Namen durch. Mörder, Reißzahn, Zerfleischer. Sie verkaufen sich viel besser, wenn sie einen gefährlichen Namen haben.« Ole hob die Stimme. »Das sind ideale Hofhunde, diese schwarzen Bärenbeißer aus Farlon!«

Alfadas seufzte. Ole war ihm ein Rätsel. Es gab Augenblicke, da könnte er ihn erschlagen. Und schon beim nächsten Atemzug musste er sich auf die Lippen beißen, um nicht laut loszulachen. Der Hundezüchter war der rätselhafteste Mensch, dem er bisher begegnet war. War er gerade noch ein ausgemachter Mistkerl, schaffte er es, nur einen Herzschlag später als traurige Witzfigur dazustehen.

Alfadas tränten die Augen von der rauchgeschwängerten Luft des Langhauses. Es hatte keinen Kamin, sondern eine Feuergrube in der Mitte des einzigen Raums. Der Rauch zog nur träge durch zwei kleine Luken unter den Giebeln ab. Es dauerte nicht lange, bis Alfadas sich an die verräucherte Luft, an die brennenden Augen und das Kratzen in der Kehle gewöhnte. Doch wenn er von draußen hereinkam, empfand der Jarl die ersten Augenblicke jedes Mal als Folter.

Fünfzehn Schritt war seine Halle lang. Fünf Wochen hatte das halbe Dorf daran gearbeitet. Es war ein gutes Haus. Für Elfen wäre es wohl nicht eindrucksvoller als eine in die Erde gewühlte Koboldhöhle. Aber er war stolz auf sein Heim. Sie alle gemeinsam hatten es so gut gemacht, wie sie nur konnten.

Neben der langen Feuergrube standen Bänke, auf denen sich die Mehrzahl der Gäste niedergelassen hatte. Sie tranken, scherzten oder blickten einfach nur stumm in die Glut. Lange Holztafeln auf groben Böcken bogen sich unter der Last der Speisen. Zwei fette Schweine waren geschlachtet und am Spieß gebraten worden. Es gab Apfelwein vom Vorjahr, frische Butter und duftendes Brot. Drei Tage lang hatte Asla geschuftet wie eine Sklavin, um das Fest vorzubereiten. Selbst jetzt stand sie keinen Augenblick still. Wenn der König ihn im nächsten Jahr wieder in den Süden rief, um das Heer bei seinen Raubzügen zu befehligen, würde er Asla tatsächlich eine Sklavin mitbringen, die sich an ihrer Stelle plagte, das schwor sich Alfadas.

Sie trug ihr grünes Kleid und den Bernsteinschmuck, den er ihr zur Geburt von Kadlin geschenkt hatte. Sie war die schönste Frau in der Halle. Sie merkte nicht, wie er sie still beobachtete. Alfadas dachte an ihren Streit vom Nachmittag. Er sollte ihr öfter sagen, wie viel sie ihm bedeutete. In letzter Zeit sprachen sie immer weniger miteinander. Es war keine böse Absicht von ihm. Sie kannten sich so lange, dass er sie wortlos verstand. Dachte er ... Er sollte es ändern. Öfter mit ihr reden oder einfach nur scherzen. So wie früher. Sie tat so viel für ihn. Das Apfelfest war ihre Idee gewesen. Er hatte die Bäume hierher gebracht. Als sie nach zwei Jahren zum ersten Mal ein paar Früchte trugen, hatte Asla alle wichtigen Familien zu einem Fest eingeladen. Wenig später war er zum ersten Mal zum Jarl gewählt worden. Er wusste, dass er die entscheidenden Stimmen zu seiner Mehrheit dem Fest zu verdanken gehabt hatte. Seitdem gab er in jedem Jahr ein Apfelfest, und mittlerweile feierte das ganze Dorf, wenn die Apfelernte eingebracht war.

Geschickt löste Asla den Knochen aus einem der Schinken auf der Tafel und gab ihn dem Hund. Das Monstrum zog sich zurück und verkroch sich in einer Ecke nahe bei den Schlafnischen, die hinter dicken Wollvorhängen verborgen unter der Dachschräge lagen.

Alfadas konnte hören, wie der Knochen zwischen den Fängen von Blut splitterte. In diesem Augenblick glaubte er Ole, dass sich das Mistvieh sogar mit Bären anlegen würde. Aslas Onkel hatte sich inzwischen einer Gruppe Einödbauern aufgedrängt und redete wild gestikulierend auf sie ein.

Der Jarl schenkte sich einen Becher Apfelwein ein und kauerte sich neben die Feuergrube. Still lauschte er dem Murmeln der Stimmen und der leisen Melodie der Glut. Er dachte an den ersten Sommer mit Asla zurück. Sie war so anders als die Elfenfrauen. So voller überschäumender Lebensfreude. Wild wie ein Sommergewitter. Es war einfach gewesen, mit ihr zu leben. Sie trug jeden ihrer Gedanken und Träume auf der Zunge. Noch bevor der erste Schnee gefallen war, waren sie um den Stein getanzt. Jenen großen, schneeweißen Felsblock unten am Fjord, der dem Dorf seinen Namen gegeben hatte – Firnstayn.

»Kann ich mit dir sprechen, Jarl?« Gundar, der alte Luthpriester des Dorfes, ließ sich neben ihm auf der Bank nieder, ohne seine Antwort abzuwarten. Alfadas hatte ihn im letzten Jahr überredet, aus der Königsstadt nach Firnstayn zu kommen. Eigentlich hätte er lieber einen Firnpriester mitgebracht, doch die hatte er weder durch Gold noch durch gute Worte dazu bewegen können, einen der ihren in ein so unbedeutendes Dorf zu schicken. So musste er mit einem Priester vorlieb nehmen, der Luth, dem Weber der Schicksalsfäden, ergeben war.

Anfangs hatte Alfadas befürchtet, dass Gundar nur einen Platz suchte, an dem er auf seine alten Tage durchgefüttert wurde. Tatsächlich war der Appetit des Priesters schon nach seinem ersten Winter im Umkreis von drei Tagesreisen um das Dorf berüchtigt gewesen. Wann immer man in seine Hütte kam, köchelte etwas auf seinem Feuer. Trotzdem hatte es Alfadas nie bereut, ihn hierher geholt zu haben. Gundar verstand sich auf Kräuter und auf Seelen. Alfadas wusste nicht, welchen seltsamen Zauber der alte Mann wirkte, aber es war friedlicher geworden, seit er hier lebte. An den Gerichtstagen wurde weniger gestritten, und mancher alte Zwist war endlich beigelegt worden.

Gundar hatte eine Schüssel mit Brot und Schweinestücken vor sich auf dem Schoß. Sein weißer Bart glänzte vor Fett. »Luth warnt uns vor diesem Winter, mein Jarl.« Der Priester brachte das Kunststück fertig, zu kauen und trotzdem verständlich zu sprechen. »Heute früh hat er mir das dritte ungünstige Omen in nur vier Tagen geschickt. Es war gleich nach dem Frühstück. Eine bedeutsame Tageszeit! Ich habe den Hecht aufgeschnitten, den ich mir zum Mittag braten wollte, und habe einen großen, schwarzen Stein in seinem Leib gefunden.«

»Tja, so etwas kann einem wirklich den Appetit verderben.«

»Spotte nicht über die Zeichen der Götter, Jarl!« Gundar spuckte ein Stück Knorpel in die Glut. »So ein Stein gehört nicht in den Bauch eines Hechts. Ich bin mir sicher, in diesem Winter wird etwas hierher kommen. Etwas Dunkles, Böses, das nicht in dieses Land gehört.«

Alfadas war überrascht, was der alte Mann alles aus einem Stein las, den irgendein dummer Fisch verschluckt hatte, aber er hütete sich, Gundar seine Meinung zu sagen. Wenn der Priester hier in der Halle lauthals seine dunklen Vorahnungen verkündete, dann würde das für eine Menge Unruhe sorgen. Die einfachen Leute hörten auf ihn. Alfadas hoffte, dass er Gundar den Unsinn am nächsten Morgen ausreden könnte, wenn er ihn mit einem Schinken und einem Korb mit frischem Käse in seiner Hütte besuchen ging.

»Du hast von drei Vorzeichen gesprochen ...«

»Oh, ja, ja.« Gundar wischte mit einem Stück Brot den Bratensaft aus der Schüssel. »Ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist. In der letzten Nacht vor Neumond war Blut auf der Mondsichel. Schon als ganz junger Priester habe ich gelernt, dass Luth uns damit vor einem nahen Krieg warnt.«

»Der Herbst hat begonnen. Bald wird der erste Schnee fallen. Niemand führt in dieser Zeit Krieg. Schnee und Eis würden mehr Männer töten als der schrecklichste Feind.«

»Und doch warnt uns Luth.« Der Alte sah ihn forschend an.

»Oder zweifelst du an seinen Omen?«

»Und was sollten wir deiner Meinung nach tun?«

Gundar breitete hilflos die Arme aus. »Ich bin nur das Werkzeug meines Gottes. Ich sehe seine Omen. Du bist der Jarl. Du musst entscheiden, was geschehen soll.«

»Was hast du noch gesehen?«

»Am Fuß des Hartungskliffs gibt es einen neuen Bach. Nur ein schmales Rinnsal, aber doch ein Zeichen für bevorstehende Veränderung. Halte mich nicht für einen ängstlichen alten Mann, Alfadas. Was mich beunruhigt, ist, dass ich drei so deutliche Zeichen in so kurzer Zeit erhalten habe. Deshalb habe ich auch zu niemand anderem davon gesprochen. Die Götter wollen uns warnen, Alfadas. Du musst das Dorf beschützen, so wie es einst dein Vater getan hat, als er die Bestie in die Berge lockte und sie in der Höhle des Luth mit seinen Elfenfreunden töten konnte. Der Schicksalsweber meint es gut mit deiner Sippe, Alfadas. Er schickt uns die Zeichen, damit du bereit bist.«

»Du hast nichts mehr zu essen, Priester.« Asla war lautlos hinter sie getreten und stellte eine Schüssel mit Fleisch auf die Bank. Man musste sie sehr gut kennen, um den Hauch von freundlichem Spott aus ihrer Stimme herauszuhören. Alfadas fragte sich, wie viel sie von dem leisen Gespräch wohl mitbekommen hatte. Er legte ihr den Arm um die Hüften und zog sie über die Bank hinweg zu sich auf den Schoß. »Muss ich dich anbinden, damit du auf unserem Fest einmal zur Ruhe kommst?«

»Es würde schon ausreichen, wenn du mir ein wenig zur Hand gingest.«

»Bitte, Asla. Du siehst doch, ich rede gerade mit Gundar. Ich kümmere mich eben auf meine Art um unsere Gäste.«

»Ich werde mich dann zurückziehen«, sagte der Priester mit vielsagendem Blick und griff nach der neuen Fleischschüssel.

»Bleib sitzen, Gundar. Du bist ein weiser, alter Mann. Sag mir nicht, solche Zänkereien zwischen alten Ehepaaren seien etwas Neues für dich.« Asla lachte fröhlich. »Ich weiß ja, dass ich es mit meinem Helden ganz gut getroffen habe. Er ist zwar so faul wie alle Männer, aber zumindest besäuft er sich nicht, um dann mich und meine Kinder zu verprügeln. Manchmal glaube ich sogar, dass er sich ernsthaft Gedanken macht, wie er mir helfen könnte. Schade nur, dass er sie nicht in Taten umsetzt.«

Alfadas kniff sie in die Seite. »Wenn deine Zunge eine Klinge wäre, dann wärst du die Schwertmeisterin dieses Königreichs.«

»Und wenn ihr Männer etwas anderes als Schwerter und Königreiche im Kopf hättet, dann würde die Welt friedlicher sein. Ich wüsste zu gern, was sich im Dorf ändern würde, wenn ich Jarl wäre.«

»Bei allem Respekt, Asla«, mischte sich der Priester auf beiden Backen kauend ein. »Das hat es noch nie gegeben. Frauen sind dafür nicht geschaffen.« Er zwinkerte verschlagen. »Und glaubst du wirklich, die Welt wäre ein besserer Ort, wenn Alfadas heute das Festmahl zubereitet hätte? Ich fürchte, in so einer Welt würden Männer wie ich Hungers sterben.«

»Wie kannst du wissen, dass Frauen es nicht besser machen würden, wenn noch nie eine als Jarl ein Dorf geführt hat?«

Alfadas empfand Genugtuung darüber, dass der sonst so redegewandte Priester Asla genauso zu unterliegen drohte, wie er es stets tat, wenn sie über dieses Thema stritten.

»Im Süden gibt es Königreiche, in denen Frauen herrschen«, wandte Gundar ein. »Und du siehst, was mit ihnen geschieht. Der alte Horsa Starkschild schickt jeden Sommer seine Krieger, um ihre Grenzen zu verheeren und von ihnen Schutzgeld zu erpressen.«

»O ja, ich weiß. Und mein Mann führt Horsas Krieger von Sieg zu Sieg. Aber herrschen die Königinnen deshalb schlecht? Ist es ihre Schuld, dass sie einen streitsüchtigen Nachbarn haben, der jedes Frühjahr seine plündernden Horden loslässt?«

Alfadas räusperte sich leise. »Achte darauf, wie du über den König sprichst. Wir sind nicht allein.«

»Bin ich jetzt nicht einmal mehr Herrin in meinem eigenen Haus? Wir sollten ...« Sie brach mitten im Satz ab. Alfadas konnte spüren, wie sich all ihre Glieder versteiften. Unwillkürlich folgte er ihrem Blick. Kadlin war aus ihrer Schlafnische gekrabbelt und griff nach dem Markknochen von Blut.

»Kein Laut!«, zischte Alfadas. »Wir dürfen diese Bestie durch nichts erschrecken.« Blut schien zu schlafen. Er hielt den Knochen zwischen den Vorderpfoten.

Kadlin zupfte an dem fasrigen Fleisch und stopfte es sich in den Mund.

Der Jarl tastete nach dem Messer an seinem Gürtel.

»Sprich mit Asla, so als wäre nichts«, bat er den Priester. »Von den Gästen hat noch niemand bemerkt, was geschehen ist.« Er zwang sich zur Ruhe. Sein Herz raste, doch er durfte sich nichts anmerken lassen. Er durfte Blut nicht erschrecken. Der riesige Hund könnte Kadlin mit einem einzigen Biss töten. Niemand im Langhaus wäre schnell genug bei ihm, um das zu verhindern.

»Bitte, tu doch etwas«, flüsterte Asla. »Wir können doch nicht einfach nur zusehen.«

»Bete für sie.« Gundar war leichenblass. »Das Leben deines Kindes liegt in Luths Hand.«

»Ich werde nicht...«

Alfadas presste Asla die Hand auf die Lippen und zwang sie, sitzen zu bleiben.

Blut öffnete die Augen. Sie hatten die Farbe von Bernstein. Kalt musterte er das kleine Kind. Kadlin hatte sich halb aufgerichtet und zerrte an dem großen Knochen. Sie brabbelte ärgerlich vor sich hin, weil sie ihn nicht unter den schweren Pfoten wegziehen konnte.

Alfadas wog das Messer in der Hand. Seine Tochter würde nur überleben, wenn Blut binnen eines Herzschlags starb. Das Messer war zu leicht, um den schweren Hundeschädel durchdringen zu können. Es sei denn, er traf eines der Augen. Dort war der Knochen am dünnsten. Aber Kadlin stand ihm im Weg. Wenn sie sich plötzlich bewegte, würde die Klinge seine Tochter treffen. Alfadas verfluchte sich dafür, Ole und seinen Hund nicht einfach davongejagt zu haben.

Blut reckte sich und hob eine seiner Pfoten. Mit einem Ruck bekam Kadlin den Knochen frei und plumpste auf ihren Hintern.

»Bei allen Göttern, das Kind!«, schrie plötzlich eine Frau. Schlagartig verstummten alle Gespräche. Blut blickte auf. Er zog die Lefzen hoch und knurrte.

»Bewegt euch nicht!«, befahl Alfadas. »Keiner nähert sich dem Hund.« Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich Ole an den Bauern vorbeidrängte und die Peitsche aus seinem Gürtel zog.

»Steh still«, zischte der Jarl wütend. »Dich will ich am wenigsten bei dem Hund sehen.«

Auch Kadlin hatte die plötzliche Stille bemerkt. Sie sah sich um. Dann streckte sie eine Hand vor, packte nach Bluts Nase und stemmte sich in die Höhe. Alfadas hielt den Atem an. Kadlins kleine Finger streiften den blutigen Striemen an der Schnauze. Der Hund blinzelte. Er schob den Kopf vor. Und dann leckte er der Kleinen mit seiner großen, rosa Zunge das Gesicht ab.

Ein Aufatmen ging durch den Saal, doch die Gefahr war noch nicht vorüber. Alfadas streckte seiner Tochter die Hand entgegen. »Komm her, Kadlin. Komm zu mir.«

Die Kleine drückte Blut einen Kuss auf die Nase. Dann lief sie Alfadas entgegen und verkündete stolz: »Wawa!« Der Jarl ließ Asla los. Sie riss Kadlin an sich. »Was machst du nur, mein Mädchen? Tu das nie wieder. Bitte ...« Ihre Stimme erstickte in Tränen. Die anderen Frauen umringten sie.

Ole legte seine Hundepeitsche neben Alfadas auf die Bank.

»Das Mistvieh kannst du behalten. Keiner wird mir mehr glauben, dass das eine blutgierige Bestie ist, die Wölfe zerfleischt.«

Alfadas konnte darauf nichts antworten. Er fühlte sich zu Tode erschöpft, und jetzt, da die Anspannung vorüber war, begann er am ganzen Leib zu zittern.

»Ein Bluthund unterwirft sich einer Kinderhand. Das war das vierte Omen in vier Tagen«, sagte der Priester leise.

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