Verfolgt

Gundar hatte den Fjord schon ein gutes Stück hinter sich gelassen und stieg in die Berge hinauf. Es war derselbe Weg, den Mandred einst mit seinen Elfenfreunden gegangen war, als sie den Manneber verfolgt hatten. Der alte Priester hoffte, dass er nicht bis hinauf zur Höhle des Luth gehen musste. Ole war ein fauler Bursche! Er hatte sich sicher nicht die Mühe gemacht, für seinen Frevel bis zum Pass hinaufzusteigen.

Gundar blieb ruckartig stehen und sah sich um. Er hatte das Gefühl, dass ihm jemand folgte. Angestrengt blinzelte er in das Schneetreiben. »Dort draußen ist nichts«, sagte er halblaut. Es tat gut, in der Stille der Berge die eigene Stimme zu hören. »Es droht keine Gefahr! Ich bin ein heiliger Mann!«

Die letzten Worte hatte er etwas lauter gesprochen. Nicht um etwaige Verfolger zu beeindrucken. Nur um die eigene Stimme zu hören, log er sich vor und wusste es doch besser. Er war kein Mann für die Wildnis. Er fühlte sich dort wohl, wo stets ein regenfestes Dach in der Nähe war und eine Aussicht auf mindestens zwei warme Mahlzeiten am Tag bestand. Kalf hatte ihm angeboten, ihn zu begleiten, doch Gundar wollte allein sein. Er musste zu sich finden. Wie hatte er nur so lange brauchen können, um das eindeutige Zeichen zu erkennen! Alle Opfer außer Ole waren in unnatürlicher Geschwindigkeit gealtert. Der Priester dachte an Alfeid, die Wäscherin. Sie war eine junge Frau gewesen. Als man sie fand, war ihr Körper ausgezehrt wie der einer Greisin, die weit über ihre Zeit hinaus gelebt hatte. Und Halgard ... Gundar mochte gar nicht an das arme Mädchen denken. Es war keine Gnade, dass sie noch lebte. Ein Kind im Leib einer alten Frau. Wie konnte Luth nur so grausam sein! Der Schicksalsweber hatte einen geisterhaften Henker geschickt, der die Schicksalsfäden seiner Opfer aufwickelte, sodass ihr Leben binnen Augenblicken verstrich. Diese Todesfälle sollten ein Zeichen sein!

Gundar legte einen Schritt zu. Er hätte schneller begreifen müssen, was vor sich ging. Doch die Ereignisse der letzten Wochen hatten ihn blind gemacht. Zu viel war geschehen! Die Elfenkönigin, die Zuflucht suchte, Horsa, der König des Fjordlands, der gleich zweimal das Dorf besuchte. Der Zug durch das Elfentor. Das Heer.

Ole, dieser Narr, hatte die Eisenmänner bestohlen und damit den Zorn Luths auf Firnstayn herabgerufen. Gundar dachte an seinen Abschied. Er hatte die Leute im Dorf beschworen, ihre Häuser nicht zu verlassen, und auf alle Türschwellen Schutzzeichen mit Ruß und Kreide gemalt. Luth konnte sie doch nicht alle bestrafen, nur weil einer von ihnen gefehlt hatte! Keuchend mühte sich Gundar den Pfad hinauf. Der Schnee knirschte leise unter seinen Schritten. Es war ein freundliches, beruhigendes Geräusch. Wasser drang durch die Nähte. Er hätte seine Stiefel besser einfetten müssen. Seine Füße waren schon ganz nass. Nicht mehr lange, dann würde der Wehrberghof kommen. Dort konnte er über Nacht bleiben. Morgen sollte er sich mit mehr Sorgfalt um seine Stiefel kümmern!

Gundar blieb abrupt stehen. Hatte er da Schritte hinter sich gehört? Er drehte sich um. Das Schneetreiben war dichter geworden. Er sah nichts außer wirbelndem Weiß.

Der Sturm löschte vor der Zeit das Tageslicht. Gundar fluchte. Wenn er vom Weg abkam oder am Hof vorbeilief, dann war er in ernsten Schwierigkeiten. Seine Füße würden in den nassen Stiefeln erfrieren. Er hätte Kalfs Hilfe annehmen sollen!

Wieder blickte der Priester zurück. War da ein weißer Schemen? Gundar beschleunigte seine Schritte. Jemand starrte ihn an! Er spürte das ganz deutlich! Vorsichtig strich er mit der Hand über den Lederbeutel an seinem Gürtel. »Ich bringe dir zurück, was dir gehört, Luth«, flüsterte er. »Bitte gedulde dich noch einen Tag. Jeder im Dorf hat etwas Eisen gegeben, um dir zu opfern. Verzeih ihnen! Sie können nichts für Oles Taten.«

Gundar musste an Halgard denken. Die Erinnerung machte ihn zornig. Wie hatte Luth so etwas tun können? Was hatte das blinde Mädchen mit Ole zu schaffen? Fast vierzig Jahre war Gundar seinem Gott ein treuer Diener gewesen, aber in der letzten Nacht waren ihm zum ersten Mal Zweifel gekommen. Ein Gott, der einen so blindwütigen Rächer schickte, das war nicht der Luth, von dessen Weisheit er in all den Jahrzehnten gepredigt hatte! In diesen Taten konnte der Priester kein sinnfälliges Muster erkennen. Sie waren einfach nur grausam. Schritte! Jetzt hatte Gundar sie ganz deutlich gehört. Was erwartete er auch? Er verdammte Luth, wenn auch nur im Geiste. Dem Schicksalsweber würde das nicht verborgen bleiben. Der Priester drehte sich um. »Schick ihn schon, deinen Mörder!«, rief er ins Schneegestöber. Er stemmte die Hände in die Hüften.

»Komm schon, bring es zu Ende! Ich stehe hier und warte!«

Was tat er da? War er denn wahnsinnig? »Lass mich das gestohlene Eisen zurückbringen«, sagte er in versöhnlicherem Ton. »Und dann nimm mich als Opfer. Ich bin es, der neben Ole Schuld auf sich geladen hat. Verschone mein Dorf.«

Nicht weit entfernt wieherte ein Pferd. Der Wehrberghof. War er schon so nahe? Gundar ging weiter. War das ein Zeichen Luths? Wollte der Gott ihm den Weg zum Hof weisen? Gundar hielt sich ein wenig mehr nach links und schritt mit neuer Zuversicht aus.

Schon nach einem kurzen Wegstück zeichnete sich der Schemen eines Hügels im Schneetreiben ab. Dem Priester war klar, dass er am Hügel vorbeigelaufen wäre, hätte er nicht die Richtung geändert, nachdem er das Wiehern gehört hatte. Der Wehrberg, auf dem Thorfinns Gehöft lag, war von drei Ringen aus halb verfallenen Erdwällen umgeben. Vor langer Zeit hatte es hier wohl einmal eine Siedlung gegeben. Jetzt kauerte dicht unter der Kuppe im Windschatten nur noch der große Wehrberghof.

Gundar folgte dem alten Weg, der zwischen den Erdwällen hinaufführte. Es roch nach Rauch. Der Gedanke an ein Feuer und eine Schüssel mit warmem Brei ließ das Herz des Priesters schneller schlagen.

Im Schneetreiben sah der Giebel des Langhauses rabenschwarz aus. Zwei Drachenköpfe mit weit aufgerissenen Kiefern schmückten ihn. Die Rückseite des Hauses war ein Stück in den Hügel hineingebaut. Stall und Stube waren unter einem einzigen langen Dach vereint, nur eine dünne Holzwand trennte beide. Die dicken Erdwände und die Wärme, die von der Feuergrube bis zum Stall abstrahlte, hielten den schlimmsten Frost von den Tieren fern.

Gundar klopfte an die schwere Holztür. Nichts rührte sich. Der Wind hatte aufgefrischt. Der Priester drückte die Tür auf. Seltsam, dass zum Abend kein Riegel vorgelegt war. Er trat in die winzige Stiefelkammer. Ein dicker Wollvorhang trennte sie vom Wohnhaus. Auf einem Schemel brannte eine Öllampe.

»Thorfinn? Audhild?« An die Namen der drei Kinder erinnerte er sich nicht mehr. Die Familie kam einfach zu selten ins Dorf hinab. Gundar war zuversichtlich, dass sie ihm wieder einfallen würden, wenn er die Kleinen erst einmal sah. Es kam keine Antwort. Vielleicht waren sie im Stall und hörten ihn nicht. Er schloss die Tür und kratzte mit dem Schabholz, das am Schemel lehnte, die verharschte Schneekruste von seinen Stiefeln. Dann klopfte er leise vor sich hin summend den Schnee von seinen Kleidern.

Endlich schob er den Vorhang zur Seite und trat in die Stube. Es war angenehm warm. Frische Binsen waren auf den Boden gestreut. Ein Feuer glomm in einer mit Steinen eingefassten Grube in der Mitte der Stube. Darüber hing ein schwerer Kupferkessel an einem Eisenhaken. Es roch angebrannt. Ein leise blubberndes Geräusch war zu hören. Auf dem Tisch standen fünf Holzschüsseln. Ein Tonbecher am Ende der Tafel war umgestürzt. Wie Blut schimmerte eine Weinlache auf dem Holz. Es zeigte sich keine Menschenseele.

»Thorfinn? Audhild?« Wieder gab es keine Antwort. Sie hätten ihn eigentlich im Stall hören müssen! Gundar trat zur Feuergrube, nahm einen alten Lappen und hob den Kessel zur Seite. Hirsebrei. Er rührte um. Schwarze Krusten stiegen in dem Brei nach oben. Was war hier los? War da ein Geräusch? Gundar blickte zur Decke. Schwere, schwarze Balken stützten das Dach. Flüchtig glaubte er etwas Weißes zu sehen. Doch im unsteten roten Licht der Feuergrube war es unmöglich zu sagen, ob da oben tatsächlich etwas war.

Gundar schüttelte den Kopf. Für all das würde es eine ganz einfache Erklärung geben! Und was sollte schon zwischen den Dachbalken sein!

»Thorfinn? Audhild?« Vielleicht waren die beiden mit den Kindern draußen. Einer verirrten Ziege nachjagen ... Der Priester blickte zu der Tür, die von der Stube zum Stall führte. Sie stand einen Spalt weit offen.

Gundar ging zurück zur Stiefelkammer und holte die Öllampe. Das Licht weit vorgestreckt, wagte er sich in den Stall. Hier war es stockfinster. Ein paar Federn lagen im Lichtkreis der Lampe. Schmutziges Stroh. Ein umgestürzter Eimer.

Der Priester wagte sich einen Schritt vor. Braune Äste? Er hob die Lampe höher. Der Kadaver eines Pferdes lag mitten im Stall. Seine Läufe waren nur noch Haut und Knochen. Jede Rippe konnte man am ausgezehrten Leib sehen. Gundar schluckte. Bitte nicht auch hier, Luth, dachte er verzweifelt. Bitte!

Hinter einer brusthohen Holzwand lugte ein Stiefel hervor. Mit klopfenden Herzen trat Gundar über das Pferd hinweg. Dort lag Thorfinn! Sein schmales Gesicht war in einer Maske des Grauens erstarrt. Direkt neben ihm lag Audhild, sein Weib. Die Röcke waren ihr hochgerutscht, als sie versucht hatte, vor etwas davonzukriechen. Ihre dürren Beine erinnerten an das bleiche Treibholz, das man am Ufer des Fjords fand.

Thorfinn hielt noch eine hölzerne Forke in der Hand, mit der er vergeblich versucht hatte, etwas zu vertreiben. »Bitte nicht auch die Kinder«, flüsterte Gundar und trat in den hinteren Teil des Stalls. Die Flamme der Öllampe flackerte. Der Priester fühlte einen leichten Luftzug auf dem Gesicht. Es war schneidend kalt. Gundar machte einen Bogen um totes Federvieh, das auf dem Boden lag. Er fand auch zwei Ziegen. Sie alle hatten sich in den hintersten Teil des Stalls gedrängt. Und dann entdeckte er Thorfinns ältesten Sohn. Der blonde Junge war zwölf Sommer alt gewesen. Jetzt fiel Gundar auch wieder sein Name ein: Finn. Er lehnte zusammengesunken an der Tür, die seitlich aus dem Stall führte. Seine Hände drückten noch immer gegen das graue Holz. Die Tür hatte sich nur einen schmalen Spalt breit geöffnet. Schnee wehte in den Stall.

Gundar kniete neben dem Jungen nieder. Probehalber drückte er gegen die Tür. Sie bewegte sich kaum einen Zoll. Der Priester hob die Lampe an und spähte durch den Spalt nach draußen. Eine Schneewehe hatte die Tür versperrt. Der Schnee lag hüfthoch. Selbst ein kräftiger Mann hätte diese Tür nicht öffnen können. Finns Augen starrten in die Dunkelheit. Gundar wollte ihm die Lider zudrücken, um dem Blick zu entgehen, doch die trockene Haut zerriss.

Wo waren die anderen? Aesa, so hieß die Tochter. Und Tofi, der Jüngste. Der tote Junge blickte zum Schlitten hinüber ... Gundar schluckte. Er hatte Angst vor dem, was er finden würde. Mit weichen Knien ging er hinüber. Eine bunte Pferdedecke lag über der Sitzbank. Darunter malten sich undeutliche Umrisse ab. Mit einem Ruck zog er die Decke zurück. Dort lag nur das Pferdegeschirr. Vielleicht waren die Kinder ja entkommen.

»Aesa! Tofi! Ich bin es, Gundar, der Priester aus Firnstayn. Ihr braucht euch nicht mehr zu fürchten.«

Gundar lauschte in die Dunkelheit. Der Sturmwind fmg sich heulend unter dem Dachgiebel. Holz klapperte. Der Priester fuhr erschrocken herum. Etwas war in der Scheune!

»Wer dort?«

Wieder fuhr eine Bö heulend unter den Giebel. Ganz leise war ein heiseres Geräusch zu hören. Ein Flüstern!

Gundar stand der Atem vor dem Mund, so kalt war es. Die Hand, mit der er die Öllampe hielt, zitterte. Schatten tanzten über die Wände des Stalls.

Der Priester begann leise zu beten. Schritt um Schritt ging er zurück. Die Forke! Sie war Thorfinns Händen entglitten. Jemand musste daran gestoßen sein.

»Im Namen des Schicksalswebers, komm heraus!« Da war wieder dieses Flüstern. Vor seinen Füßen! Thorfinns Mund zuckte. Die Lippen waren vertrocknet und so weit zurückgezogen, dass man die gelben Zähne des Bauern sehen konnte. Heisere Laute entrangen sich seiner Kehle. Thorfinns himmelblaue Augen waren auf Gundar gerichtet.

»Kin...«

Gundar beugte sich vor, um ihn besser verstehen zu können.

»Kinder ... das Licht... Ich sehe ...«

»Schone deine Kräfte, Thorfiinn. Ich bringe dich zum Feuer.« Der Priester versuchte, den Bauern auf die Arme zu nehmen.

Thorfinns Hand schnellte vor. Sie umkrallte Gundars Linke. Die Haut war dünn wie fein geschabtes Pergament. Deutlich konnte Gundar die Knochen spüren. Es fühlte sich an, als habe ihn eine Hand aus einem Grab gepackt. Er wollte sie abstreifen, doch Thorfinn bot all seine Kräfte auf, ihn zu halten.

»Lebensfaden ... fressen ... Wolfspferd.«

»Ein Wolfspferd?«

»Die Tür ... Es geht hindurch ... Einfach hindurch ...«

»Wo sind deine Kinder?«

Ein Zittern durchlief den ausgemergelten Körper. »Einfach hindurch ...« Über Thorfinns Wange rann eine einzelne Träne. Seine Gesichtszüge entspannten sich. Er schien seinen Frieden gefunden zu haben. »Sie warten auf...«

»Ich bring dich hinunter zum Dorf«, flüsterte Gundar hilflos.

Ein Röcheln kam tief aus der Brust des Sterbenden. Seine Hand löste sich aus der Umklammerung. Die Augen verloren ihren Glanz.

»Mögen die Götter dir auf dem Weg durch die Dunkelheit leuchten, dir ihre Hallen öffnen und dich zum Gast bei ihrem ewigen Fest machen, denn du warst ihnen ein treuer Diener und deine Seele ist ...«

Thorfinn bäumte sich auf. Wieder spiegelte sich unsägliches Entsetzen in seinem Antlitz, als sei er auf der Reise in die ewige Nacht noch einmal dem Schrecken begegnet, der den Wehrberghof heimgesucht hatte. Sein Mund öffnete sich. Verzweifelt versuchte der Bauer noch etwas zu sagen. Sein ausgezehrter Leib spannte sich und sackte dann plötzlich zurück. Thorfinns Lebenslicht war endgültig verloschen.

Die kleine Flamme der Öllampe blakte und begann zu schrumpfen. Bald war sie nur noch ein winziger Funken. Gundar versuchte sie mit den Händen vor der Zugluft zu beschirmen. Vorsichtig stellte er die Lampe auf den Boden. Rotes Licht sickerte durch den Türspalt zur Stube.

Gundar kniete nieder und betete inbrünstig, dass das Licht nicht ganz verlöschen möge. Es waren nur wenige Schritte bis zur Tür, aber die Dunkelheit erschien ihm wie ein endloser Abgrund. Nicht einmal als Kind hatte er solch eine Angst vor der Finsternis gehabt. Er war sich sicher, dass dort das Wolfspferd lauerte. Sobald es ganz dunkel war, würde es ihn holen kommen. Nur der ersterbende Lichtfunke schützte ihn noch!

Gundar versuchte gegen die Angst anzukämpfen. Das Tier musste fort sein, redete er sich ein. Sonst hätte es ihn schon längst angegriffen. Aber es konnte nicht weit sein ... Er dachte an die angebrannte Suppe. Es war weniger als eine halbe Stunde her, dass die Familie von der Stube in den Stall geflüchtet war. Ängstlich blickte Gundar in die Dunkelheit. War es noch hier?

Der Sturm hatte nachgelassen. Die kleine Flamme auf dem Docht flackerte nicht mehr. Langsam gewann sie wieder an Kraft. Der Lichtkreis, den sie ins Dunkel schnitt, wuchs mit jedem Herzschlag. Und dann sah Gundar sie.

Die beiden Kinder! Aesa hielt Tofi schützend in den Armen. Die zwei hatten sich unter dem großen Schlitten versteckt.

Tofi hatte seinen Kopf an Aesas Schulter gedrückt. Sie waren tot. Dem Priester schossen Tränen in die Augen. Er weinte lautlos. Hilflos ballte er eine Faust und biss hinein. Wozu gab es Götter, wenn sie so etwas geschehen ließen!

War da ein Geräusch? Das leise Knirschen von Schritten im Schnee? Kam der Mörder zurück? »Komm in die Stube!«, schrie der Priester in seinem Zorn heraus. »Ich erwarte dich!«

Kaum waren die Worte über seine Lippen, da taten sie ihm schon Leid. Was hatte er getan! Mit zitternden Fingern tastete er nach dem Messer an seinem Gürtel. Es war eine schmale, kaum handlange Klinge. Sein Leben lang hatte er sie nur dazu benutzt, Fleisch zu schneiden und Fische auszunehmen. Er hatte noch nie gekämpft. Er war Priester! Es war an ihm, unsinnige Kämpfe zu verhindern.

Gundar raffte sich auf. Wenn die Bestie schon kam, dann wollte er ihr wenigstens im Hellen entgegentreten. Er blickte ein letztes Mal zu den toten Kindern. Sich zu verstecken wäre sinnlos. Hastig ging er hinüber zur Tür, die in die gute Stube führte. Dort legte er den Riegel vor. Dann warf er dünne Scheite auf die Glut, bis eine helle Flamme emporschoss.

Aus der Stiefelkammer klangen Geräusche. Etwas machte sich dort zu schaffen. Der schwere Wollvorhang, der den kleinen Raum von der Stube trennte, bewegte sich.

Gundar hob das Messer schützend vor die Brust. Die Bestie endlich zu sehen, hätte vielleicht etwas Erlösendes. Der Stoff zerteilte sich. Eine kleine, weiß gekleidete Gestalt trat ein. Gundar hatte noch Tränen in den Augen, er blinzelte.

Es war Ulric!

»Was machst du denn hier?« Gundar ließ das Messer sinken.

»Ich ... ich wollte dir helfen. Ich ... Du wirst mich jetzt nicht mehr wegschicken, nicht?« Alfadas‘ Sohn sprach hastig und vermied es, dem Priester in die Augen zu sehen. »Draußen ist es schon ganz dunkel. Ich kann heute nicht mehr zurück ins Dorf! Ich ... Ich wollte im Stall übernachten, damit du mich nicht bemerkst. Aber du hast wohl meine Schritte gehört, nicht wahr?«

Gundar ließ sich auf der schweren Holzbank neben dem Tisch nieder. »Warum bist du mir gefolgt?«

»Ich werde mit dir gegen das Ungeheuer kämpfen«, sagte der Junge voller Inbrunst. »Wenn wir es erschlagen haben, dann geht es Halgard wieder gut. Das ist doch immer so, nicht wahr? Wenn die Krieger das Ungeheuer töten, wird alles wieder gut.«

Gundar fühlte einen Kloß im Hals aufsteigen. Was sollte er dem Jungen sagen? Dass es nie mehr gut würde für Halgard? Vielleicht konnten Wunder nur geschehen, wenn man an sie glaubte. Was mit dem Mädchen geschehen war, war schließlich auch ein Wunder. Wenn auch ein böses.

»Weiß deine Mutter, dass du hier bist?«

Ulric schüttelte den Kopf. »Sie hätte das niemals erlaubt. Aber ich musste es tun.« Alfadas‘ Sohn trug einen dicken Mantel aus fast weißem Leder. Er hatte eine Kapuze und war von innen mit Schaffell gefüttert. Auch seine Stiefel waren aus hellem Leder. Kein Wunder, dass sich der Junge so gut im Schnee hatte verstecken können.

Ulric knöpfte den Mantel auf. An seinem Gürtel trug er einen langen Dolch. »Das ist mein Zauberschwert«, erklärte er stolz.

»Die Elfen haben es geschmiedet. Damit werden wir jedes Ungeheuer besiegen können, Gundar. Weißt du, Halgard, sie ist meine Prinzessin. Ich habe sie immer schon beschützt. Im Dorf sagen sie, dass du ausgezogen bist, um uns zu erlösen. Ich werde an deiner Seite sein. Ich werde mit dir kämpfen.«

Der Priester sah den Jungen fassungslos an. Er meinte jedes Wort ernst, das er sprach. Er glaubte wirklich, er könne Halgard erlösen. Aber durfte er ihn mitnehmen? Was geschah, wenn sie dem Ungeheuer tatsächlich begegneten? Doch konnte das nicht auch im Dorf geschehen? Und wenn er Ulric zurückbrachte, würde er dann noch einmal den Mut finden, hier heraufzukommen? Jetzt, da er wusste, dass die Bestie auch hier oben war?

Ulric sah ihn jetzt an. Er konnte den Jungen nicht zurückschicken. »Sei mein Kampfgefährte bei dieser Queste.« Gundar war überrascht, wie rau seine Stimme klang. Der Junge hatte eine Tür in eine Welt geöffnet, die ihm lange verschlossen gewesen war. Eine Welt, in der der Glaube, dass am Ende alles gut werden würde, noch nicht von Jahrzehnten bitterer Erfahrungen gemordet war.

Die Scheite, die Gundar in die Glut geworfen hatte, waren halb herabgebrannt. Die Dunkelheit kehrte wieder in die Winkel der Stube zurück, als sie am langen Tisch Platz nahmen. Der Priester schöpfte ihnen zwei Teller Hirsebrei aus dem Kessel, und er fand etwas altes Brot.

»Wo sind Thorfinn und seine Familie?«, fragte Ulric unvermittelt, als er sein Brot in den Brei tunkte.

Gundar atmete tief aus. Konnte er ihm die Wahrheit sagen? Würde eine Lüge nicht die Tür wieder zuschlagen, die der Junge ihm gerade geöffnet hatte? »Sie sind gegangen«, sagte er schließlich ausweichend.

»Wohin? Im Sturm dürfen sie doch nicht draußen bleiben.«

»Sie sind tot, Ulric. Ein Wolfspferd ... Eine Geistergestalt ... Sie war hier. Die Kreatur, die auch Halgard beinahe getötet hätte.«

Der Junge legte den Brotkanten auf den Tisch zurück.

»Das Tier hat sie alle getötet?«, fragte er ganz leise. »Auch die Kinder?«

Gundar nickte. »Ja, auch die Kinder.« Er schob die Schüssel von sich. Das wäre ihr Abendessen gewesen. Er konnte nicht mehr ...

»Wo sind sie?« Ulric rückte näher. Schließlich legte Gundar dem Jungen den Arm um die Schultern und zog ihn ganz zu sich heran. »Sie sind in der Scheune. Wir können sie jetzt nicht begraben. Ich werde sie holen lassen, wenn wir wieder im Dorf sind.«

»Sehen sie alle aus wie Alfeid?«

»Ja.«

»Es ist gut, dass Halgard ihre Mutter so nicht sehen konnte. Sie sah so ...« Ulric begann plötzlich zu schluchzen.

Gundar drückte den Jungen fest an sich. Auch er war den Tränen nahe.

Schließlich schoben sie den Tisch und die Sitzbank zur Seite. Auf dem binsenbedeckten Boden breiteten sie dicht bei der Feuerstelle ihre Mäntel aus. In den Betten der Toten konnten sie nicht schlafen. Es kam ihnen unrecht vor.

Schweigend lagen sie nebeneinander und lauschten dem Knistern des Feuers und dem Sturm.

»Siehst du es auch?«, flüsterte Ulric. »Dort oben, ganz in der Ecke. Es sitzt auf dem Dachbalken und beobachtet uns.« Seine Stimme zitterte. »Ist es das? Das Wolfspferd?«

Gundar blinzelte. Da war tatsächlich etwas Weißes. Ein Kopf? Die Worte Thorfinns kamen ihm wieder in den Sinn. Es geht hindurch ... Einfach hindurch ... Saß die Bestie auf dem Dach und hatte ihren Kopf durch die Schindeln hindurchgeschoben, um sie zu beobachten? Gundar blinzelte. Er konnte einfach nicht deutlich sehen. Er schlug den Mantel zurück, sprang auf und warf eine Hand voll Holzspäne in die Glut. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis helle Flammen emporschlugen.

Ulric hatte seinen Dolch gezogen, bereit, jeden Augenblick zuzustoßen. Der Junge schien keine Furcht zu kennen. Unvermittelt brach er in lautstarkes Gelächter aus. »Da sitzt ein Huhn!«

Gundar kniff die Augen zusammen. Tatsächlich! Dort lauerte kein Geist. Ein verschrecktes Huhn drückte sich ganz am Ende des Balkens gegen die Dachschräge. Es musste durch den offenen Türspalt aus dem Stall geflüchtet sein. Der Priester fiel in Ulrics Lachen ein. Es war befreiend. Vielleicht konnten sie ja wirklich siegen, und es wurde alles wieder gut, wenn sie den geschändeten Eisenmann fanden und für Oles Frevel um Vergebung baten.

Sie legten sich wieder hin. Bald war der Junge eingeschlafen. Gundar stützte sich auf den Ellenbogen auf und betrachtete Ulric. Der Kleine lächelte.

Der alte Priester streckte sich und rollte sich in seinen Mantel. Ob er wohl auch noch manchmal im Schlaf lächelte? Was für ein törichter Gedanke, dachte er müde. Und wer sollte ihm schon beim Schlafen zusehen? Vom Feuer war nur ein mattes Glühen geblieben. Im Dunkel hinter dem Tisch regte sich etwas. Eine Spinne mit einem Leib groß wie ein Schwein sah zu ihnen hinüber. Ihre Kiefer klickten leise. Nein, sie sprach: »Bei der Spinne unter dem Regenbogen liegt mein Geschenk für dich.«

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