Ollowain griff nach der Hand der schlafenden Königin.
»Sie ist immer noch kalt«, sagte Yilvina. »Seit Lyndwyn ihren Zauber gewirkt hat, will die Wärme nicht mehr in ihre Glieder zurückkehren. Ich kann ihr nichts zu essen geben und kaum einmal etwas zu trinken. Sie atmet nur ganz flach. Manchmal denke ich, sie ist wie eine dieser kleinen Eidechsen, die für den Winter erstarren und im ersten Frühlingslicht erwachen.«
Die Brandwunden im Antlitz der Herrscherin waren völlig ausgeheilt. Es waren keinerlei Narben zurückgeblieben. Der Schwertmeister musste an Lyndwyns Worte denken. Floh die Königin vor ihren Taten? Wollte sie nicht erwachen? Er kannte Emerelle schon sehr lange. Vor dem Schicksal davonzulaufen, sah ihr nicht ähnlich.
»Wie geht es dir?« Ollowain blickte zu Yilvina auf.
Die Kriegerin lächelte müde. »Das Leben hier ist nicht gerade sehr aufregend. Ich verlasse niemals das Haus. Nachts schlafe ich vor dem Lager der Königin. Ich bin immer in ihrer Nähe, für den Fall, dass sie plötzlich erwacht.«
»Du solltest dich nicht einsperren«, drängte Ollowain.
»Ich habe versprochen, über Emerelle zu wachen«, beharrte Yilvina.
»Aber hier gibt es keine Feinde.«
»Und dieser König?«, entgegnete sie. »Ich traue ihm nicht. Sein Angebot, Emerelle an seinen Hof nach Gonthabu zu bringen, erschien mir ganz so, als habe er darüber nachgedacht, unsere Herrin als Geisel zu nehmen.«
»Er wird dich nicht noch einmal bedrängen.« Ollowain dachte an die vergangene Nacht. Er hatte den König lange beobachtet. Der Alte hatte zusätzliche Lichter aufgestellt. Sein Schattenriss war deutlich durch die Zeltwände zu sehen gewesen. Horsa hatte bis zum Morgengrauen reglos an seinem Tisch gesessen. Dann hatte er seine Wachen antreten lassen und eine ergreifende Rede über die Flüchtigkeit der Jugend und den ewigen Ruhm tapferer Taten gehalten. Horsa war ein Säufer und ein Hurenbock. Ein Machtmensch, der kaum von Skrupeln geplagt wurde. Aber trotz all dieser Fehler hatte er auch Charisma, und er kannte seine Fjordländer. Jedes seiner Worte hatte sie mitten ins Herz getroffen. Zuletzt hatten sie alle mit Alfadas ziehen wollen, doch er hatte es nur hundert von ihnen gestattet, sich dem Heer des Herzogs anzuschließen.
Der Heereszug war schon vor Stunden aufgebrochen. Ollowain war zurückgeblieben, um von seiner Königin ungestört Abschied zu nehmen. Ein wenig hatte ihn auch die Hoffnung getrieben, Emerelle werde vielleicht erwachen, wenn er an ihrem Lager kniete und leise auf sie einsprach. Doch die Herrscherin lag nach wie vor wie tot in dem Bett, das Asla ihr bereitet hatte.
Ollowain verabschiedete sich von Yilvina mit dem Kriegergruß. Selbst hier im Haus hatte die Elfe ihre beiden Schwerter nicht abgelegt. Die Waffengurte der Klingen kreuzten sich über ihrer Brust. Auch sie trug nun Kleider der Menschen. Doch Ollowain hatte ihr ein Kettenhemd und Armschienen aus Phylangan mitgebracht, damit sie wieder wie eine adlige Kriegerin aussah. Mit den kurz geschorenen Haaren und ihren hohen Wangenknochen hatte das Gesicht der Schwertkämpferin etwas Abweisendes. Sie wirkte kalt und unnahbar. Hoffentlich würde ihre spröde Art Asla nicht reizen. Es war nicht ganz einfach, mit Yilvina auszukommen. Vielleicht war sie zu sehr Kriegerin? Schon ihr Blick hatte etwas Herausforderndes. »Möge dein Weg dich nach Albenmark zurückführen«, sagte Ollowain.
»Nur an der Seite der Königin«, erwiderte sie knapp.
Der Schwertmeister wusste, das Yilvina keinen Wert auf höfliche Floskeln legte. Schweigend ging er hinaus und stieg in den Sattel. Sein prächtiger Schimmel brachte ihn um den Fjord bis fast zum Gipfel des Hartungskliffs. Erst als sie ein Geröllfeld erreichten, stieg der Schwertmeister ab und führte den Hengst am Zügel weiter. Sein Weg führte ihn vorbei an Kindern und Greisen. Alle waren aufgebrochen, um zu sehen, wie das magische Tor sich öffnen würde. Kalf trug eine alte Frau auf dem Rücken, die zu schwach war, den Berghang noch aus eigener Kraft zu erklimmen. Ollowain sah eine Frau, die ein Mädchen mit wunderschönen braunen Augen auf den Armen trug. Das Kind mochte fünf oder sechs Jahre alt sein. Die Mutter redete unablässig auf die Kleine ein. Sie beschrieb das Blau des Fjords und wie winzig klein die Hütten von hier oben aussahen. Jetzt erst begriff der Schwertmeister. Die Augen des Mädchens standen still. Sie blickten ins Leere. Die Kleine war blind. Er würde die Menschen niemals begreifen. Die Szene rührte ihn, auch wenn seine Vernunft sich dagegen sperrte. Es war Unsinn zu glauben, dass sie ihrer Tochter auch nur einen Bruchteil der Wunder dieser Welt beschreiben könnte. Aber es war achtenswert zu sehen, wie sie gegen das Schicksal aufbegehrte! Nicht bereit war hinzunehmen, dass ihre Tochter ausgeschlossen war.
Er ging eine Weile neben der Frau und lauschte ihren unbeholfenen Worten. Sie beschrieb auch ihn. Nannte ihn einen dünnen weißen Mann mit goldenem Haar. Ollowain erlaubte, dass das Mädchen nach seinen Haaren tastete und über sein Gesicht. Er ließ es auch seinen Hengst streicheln, versuchte ihr seinerseits etwas zu erzählen und wunderte sich, wie hilflos seine Worte klangen, als er nun beschreiben wollte, was vor ihnen lag. Die kahle Felskuppe, auf der sich gleich den Zacken einer Krone ein Kreis aus Steinen erhob. Inmitten des Steinkreises stand Alfadas. Der Wind spielte mit dem roten Wollumhang des Kriegers. Alle blickten auf ihn. Sein Sohn Ulric, der sein braunes Pony am Zügel hielt. Asla, deren Gesicht ganz blass war. Kadlin drehte ihre Finger im Fell von Blut. Der alte Luthpriester Gundar kaute an etwas und versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen.
Horsa hatte die Hände in die Hüften gestützt und gab sich Mühe, königlich auszusehen, doch man merkte ihm dennoch seine Ungeduld an. Überall auf dem Hang und dem Plateau standen die Männer, die mit Alfadas gehen wollten. Lambi und seine Gefährten waren noch immer in Ketten geschlagen. Ollowain sah die beiden Brüder von der Fähre und Ole, der auf jemanden einredete, der sich ganz offensichtlich nicht mit dem Hundehändler unterhalten wollte.
Die Krieger des Herzogs waren eine abgerissene Schar. Sie trugen aufgerollte Decken, die sie sich wie große Würste über Brust und Rücken gebunden hatten. Jeder war mit Taschen und Flaschen behängt, Notvorräten für Albenmark, falls etwas Unvorhergesehenes geschah. Ihre Augen leuchteten. Sie erwarteten nicht weniger als ein Wunder.
Unruhig blickte Ollowain zum Himmel. Die Mittagsstunde war verstrichen. Eigentlich sollte sich das Tor zu den Slanga-Bergen schon geöffnet haben.
Wind strich über den Fjord und zerbrach den Spiegel des Wassers. Eine Möwe zog über sie hinweg und lugte neugierig auf all die Menschen herab. Ollowain schien es so, als fürchte der Vogel, dem Kreis aus stehenden Steinen zu nahe zu kommen. Er flog in weitem Bogen um die Bergkuppe herum.
Plötzlich schoss eine Säule aus purpurnem Licht vor dem Herzog aus dem Boden. Sie wuchs und wurde breiter, bis ein Karren mühelos durch das Licht hätte fahren können.
Alfadas hob beide Arme. Das leise Murmeln der Wartenden verstummte. Nur das Rauschen des Windes und der ferne Schrei der Möwe störten die Stille.
»Dies ist das Tor, das uns in eine Welt der Wunder und der Schrecken führen wird. Schreitet durch das Purpurlicht, und eure Vergangenheit wird von euch abfallen wie welke Schlangenhaut, wenn ihr es denn wollt. Vielleicht erwartet uns jenseits des Tores Finsternis. Vielleicht gelangen wir mit einem einzigen Schritt in die Slanga-Berge. Wenn ihr vor euch einen goldenen Pfad seht, dann folgt ihm und weicht nicht mal um ein Haarbreit von ihm ab, sonst werdet ihr auf immer im Dunkel verloren sein. Und wenn euch nun der Mut sinkt und ihr Angst habt vor dem letzten Schritt, so grämt euch nicht. Jeder, der hier auf diesem Felsen mit mir steht, ist ein Held. Denkt an die Geschichten der Skalden, an die ruhmreichen Recken vergangener Zeiten. Ihr alle seid mir bis an den Rand der Welt gefolgt. Und selbst von den kühnsten Kriegern des Fjordlands hat es vor euch nur eine Hand voll gewagt, so weit zu gehen. Ganz gleich, ob ihr Fischer, Händler oder Fährleute seid: Ihr steht den Helden der Vergangenheit in nichts nach. Schon jetzt habt ihr euren Platz in den Liedern, die dereinst in den Hallen der Könige gesungen werden. Ich verneige mein Haupt vor euch und bin stolz, an eurer Seite zu sein.«
Der Herzog verneigte sich tatsächlich. Eine Böe blies ihm sein langes Haar ins Gesicht, als er sich wieder aufrichtete. Wilde Entschlossenheit spiegelte sich in seinem Antlitz. »Asla, ich liebe dich, und ich werde zu dir zurückkehren, ganz gleich, was auch geschehen mag.« Er sagte das in einem ruhigen, feierlichen Tonfall, so als lege er einen Eid ab. Dann wandte der Herzog sich um, und mit einem Schritt verschwand er in dem gleißenden Licht.
Lysilla trat an Ollowains Seite. Sie lächelte spöttisch und sprach ihn in der Sprache ihres Volkes an. »Ein wenig pathetisch, diese Menschen.«
»Verlangen große Gefühle nicht auch nach großen Gesten?« Der Schwertmeister hielt ihren Blick einen Moment lang gefangen. Er lächelte nicht. Dann sah er hinüber zu Silwyna. Ollowain wusste, dass die letzten Worte des Herzogs ebenso sehr ihr gegolten hatten wie Asla. Doch das Gesicht der Jägerin zeigte keine Regung.