Die Schlacht auf dem Eis

»Sie haben uns überrascht, Rudelfiihrer«, sagte Brud zerknirscht. »Wir sind völlig überrumpelt worden.«

Der Anführer der Kundschafter kniete vor Orgrim und erwartete offensichtlich, bestraft zu werden. »Lass es gut sein. Das konnte niemand ahnen. Es war klüger, die Krieger hierher zurückzubringen, als sie in einem ehrenhaften, aber sinnlosen Kampf zu opfern.« Der Rudelführer blickte auf die Ebene hinaus. Weit entfernt formte sich eine breite, schwarze Linie auf dem Eis. Es sah ganz so aus, als machten sie sich für einen Angriff bereit.

»Du bist dir sicher, dass es Menschen waren?«

Der Kundschafter nickte. »Ja. Und es hatte den Anschein, als seien sie darauf vorbereitet gewesen, gegen uns zu kämpfen.«

»Unsinn!«, fluchte Gran. »Sie haben uns überrascht, und sie hatten Glück.« Der riesige Krieger nahm einen Streifen blutigen Fleischs vom Haken an seinem Gürtel und biss ein großes Stück heraus. »Wir sollten hinunter und ihnen die Schädel einschlagen«, forderte er auf beiden Backen kauend. »Du hast hier mehr als zweihundert kampferprobte Krieger, Rudelführer. Wir werden sie in Stücke hauen, wenn wir angreifen. Es sind nur Menschen. Sie können uns nicht widerstehen!«

»Warum glaubst du, sie wären auf einen Kampf mit uns vorbereitet gewesen, Brud?« Orgrim sah den Anführer der Kundschafter forschend an. Versuchte er seine Niederlage in entschuldigende Lügen zu kleiden?

»Sie schienen nicht überrascht zu sein, als sie auf uns stießen. Und einige von ihnen trugen seltsame Waffen. Beile auf langen Stangen. Damit können sie uns angreifen, ohne in die Nähe unserer Keulen zu kommen.«

»Was hältst du davon, Mandrag?«

Der alte Troll blickte lange auf die Ebene hinaus, bevor er antwortete. »Ich denke, dass die Elfen sehr verzweifelt sind, wenn sie Menschen als Verbündete aufbieten müssen.«

Orgrim nickte anerkennend. Aus dieser Warte hatte er die Sache noch gar nicht betrachtet.

»Wir sollten einen dieser Menschen fangen«, mischte sich Birga ein. »Ich bin sicher, er würde mir alles erzählen.«

»Die Frage ist nur, wer ihn verstehen wird?«

Die Augen der Schamanin musterten Orgrim kühl. »Vergiss nicht, wer ich bin, Welpe. Ich kann in tausend Zungen reden, wenn ich es denn will. Ich verstehe das Geflüster der Bäume und lausche dem Geschwätz der Raben auf den Schlachtfeldern. Verschaff mir einen dieser Menschen, und ich werde dir sagen, woher sie kommen und warum sie hier sind.«

»Ich wollte dich nicht beleidigen«, beeilte sich Orgrim zu sagen. Er wünschte, der hässlichen Vettel ins Antlitz sehen zu können, um in ihren Zügen zu lesen. Doch wie stets war ihr Gesicht hinter einer Ledermaske verborgen.

»Seht nur, auf der Ebene tut sich was.«

Boltans Worte boten eine willkommene Gelegenheit, sich von Birga abzuwenden. Orgrim beschirmte seine Augen mit der Hand. Die Wolken hatten sich verzogen. Speerspitzen funkelten in der Sonne. »Reiter.«

»Nein, Kentauren!«, verbesserte ihn Brud. »Etwa dreihundert, würde ich sagen.« Gran lachte. »Noch mehr Schlachtvieh. Lass uns von den Hügeln steigen und sie in Streifen schneiden.«

»Nein«, entschied Orgrim.

»Hat dich der Mut verlassen, nur weil unsere Kundschafter von ein paar Menschen überrascht wurden?«, stichelte Gran.

»Lass die Krieger nach unten, und du wirst sehen, diesmal werden wir siegen.«

»Bist du nicht auch aus dem Gefecht geflohen?«, fragte der Rudelführer lächelnd.

Gran grunzte verächtlich. »Ich bin nicht geflohen. Ich bin dem Befehl zum Rückzug gefolgt. Ein guter Krieger muss gehorchen.«

»Und ein guter Anführer schuldet seinen Kriegern Siege«, entgegnete Orgrim. »Die Ankunft der Kentauren hat das Gleichgewicht verschoben. Wenn wir hinuntersteigen und kämpfen, dann werden wir im besten Fall einen Sieg erringen, der uns sehr hohe Verluste bringt. Vielleicht werden wir auch ganz vernichtet. Bleiben wir aber hier oben, dann können wir nur gewinnen.«

»Das klingt wie die Rede eines Feiglings!« Gran drehte sich zu Orgrims Gefolge um. »Ich kann nur gewinnen, wenn ich auf dem Hintern sitzen bleibe und nichts tue.« Er äffte die Stimme des Rudelführers nach. »Wisst ihr, was wir auf jeden Fall verlieren, wenn wir diesem Befehl folgen? Unsere Ehre und unseren Stolz als Krieger.«

»Gehörte dein Verstand zu den Opfern des kleinen Scharmützels vorhin?«, fragte Orgrim scharf. Er verfluchte den Tag, an dem er sich entschieden hatte, Gran an Bord der Geisterwind zu holen. »Bleiben wir hier auf dem Hügel, dann zwingen wir den Feind, in jedem Fall eine ungünstige Entscheidung zu treffen. Greift er an, dann wird er viel schwerere Verluste haben, als wenn er sich gegen einen Angriff von uns verteidigt. Bleibt er dort unten auf der Ebene und wartet ab, was wir tun, dann binden wir ein ganzes Heer, das mit Sicherheit eine andere Aufgabe hat, als uns zu beobachten. Ziehen sie sich zurück, dann ist das schlecht für die Moral ihrer Krieger, denn es wird so aussehen, als liefen sie vor uns davon. Und wer einmal geflüchtet ist, der wird es wieder tun. Im Übrigen würde Brud ihnen folgen und dafür sorgen, dass sie keine einzige ruhige Nacht verbringen. Geht das in deinen Schädel?«

»Mir gefällt es nicht, auf diese Weise Schlachten zu entscheiden«, murrte Gran. »Das ist eines Kriegers unwürdig.«

»Würde ist etwas, über das jeder einzelne Krieger meines Rudels durch seine eigenen Taten entscheidet. Die Würde des Rudelführers liegt darin zu siegen.«

»Gut gesprochen«, pflichtete ihm Birga überraschend bei. »Du solltest jetzt dein Maul halten, Gran.«

Auf der Ebene kam Bewegung in die Formation der Gegner. Die Kentauren schwenkten auf den rechten Flügel, während in der Mitte ein dichter Block aus Kriegern gebildet wurde, über deren Häuptern Speerspitzen funkelten. Die linke Flanke der Feinde schien ihr Schwachpunkt zu sein. Dort gab es nur zwei kleine Kriegergruppen.

»Sind deine Männer bereit?«, fragte Orgrim den Geschützmeister Boltan.

Der Rudelführer betrachtete zufrieden die Aufstellung seiner Truppen. Das Gefecht war zwar anders verlaufen als erwartet, aber die Elfen und ihre Verbündeten würden ihm trotzdem in die Falle gehen. Der lange Zug von Flüchtlingen hatte sich neu formiert und floh vom Schlachtfeld. Aber wenn er in der nächsten Stunde siegte, dann würde er sie schon wieder einholen.

Seine Krieger standen in einer langen Doppelreihe auf dem Kamm eines Hügels. Hinter ihnen warteten acht der neuartigen Katapulte, die sie bei den Kämpfen um Reilimee erbeutet hatten. Von der Ebene aus konnte man die Geschütze nicht sehen. Ihre erste Salve würde den Feind völlig überraschend treffen.

Zufrieden betrachtete Orgrim die Beutewaffen. Boltan hatte die Katapulte auf schwere Holzfüße aufgebockt, damit sie für Trolle bequemer zu bedienen waren. Auch die Spannhebel der Zugwinden waren verstärkt worden. Die Katapulte verschossen Steine so groß wie Elfenköpfe. Die Steine wurden über eine hölzerne Führungsschiene gezogen, wenn man einen Sperrhebel löste. Die Katapultarme waren aus Silberstahl. Sie steckten in zwei Trommeln, in denen sich etwas befand, das wie gegeneinander verdrillte Seile aussah. Die Bronzetrommeln schützten die Seile vor Feuchtigkeit. Orgrim hatte daneben gestanden, als der Geschützmeister so eine Trommel geöffnet hatte. Er hatte herausfinden wollen, was für die außergewöhnliche Spannkraft der Katapulte verantwortlich war. Als er die verdrillten Taue gelöst hatte, hatte er die Trommel zerstört. Einer seiner Helfer war dabei von den herauspeitschenden Sehnen geköpft worden. Der Geschützmeister konnte diese Trommeln mit den Seilen weder nachbauen, noch sie begreifen. Auf weitere Untersuchungen verzichtete Boltan aus Angst, am Ende über gar kein einsatzfähiges Katapult mehr zu verfügen.

Stattdessen hatte er sich Gedanken über Munition gemacht. Die Elfen verschossen schöne, rund geschliffene Steinkugeln. Sie waren aufwändig herzustellen. Für einen Feldzug waren sie nicht zweckmäßig, weil sie zu schwer zu ersetzen waren und zu viel wogen, wenn man sie in ausreichender Zahl mitführte. Boltan hatte Holzformen geschnitzt, in denen man Kugeln aus Eis herstellte. In der Kälte der Snaiwamark würden sie nicht schmelzen, und verschossene Kugeln konnten binnen weniger Stunden ersetzt werden. Sicherlich taugten die Eiskugeln nicht viel, wenn man Schiffe oder Festungen beschoss. Aber gegen weiche Ziele, wie etwa die Leiber von Elfen, waren sie genauso tödlich wie Steinkugeln.

Als sie in der Walbucht angelandet waren, hatte man die Geschütze auf Lastschlitten verladen. Es hatte einige Mühe bereitet, die Schlitten über das Küstengebirge zu schaffen, aber Orgrim war überzeugt, dass sich die Strapazen bezahlt machen würden.

Der Rudelführer beobachtete, wie die Formation seiner Feinde vorrückte. Deutlich konnte man nun die Speere des großen Menschenhaufens in der Mitte der Schlachtlinie erkennen. Sie waren ungewöhnlich lang. Orgrim hatte solche Speere noch nie zuvor gesehen. Offensichtlich hatten sich die Menschen Gedanken darüber gemacht, wie sie ihre mangelnde Stärke im Kampf gegen die Trolle ausgleichen konnten. Er durfte sie nicht zu nahe herankommen lassen!

»Ziele zunächst auf die Kentauren!«, rief Orgrim seinem Geschützmeister zu.

Sein Gefährte nickte. Die Katapulte, die in einer Reihe auf dem Kamm des Hügels standen, wurden leicht zur Seite geschwenkt und neu ausgerichtet.

Eine Wolke von Pfeilen prasselte auf seine Männer nieder. Hinter den Speerträgern hatten sich Bogenschützen verborgen, die nun die Schlachtreihe der Trolle unter Beschuss nahmen.

Orgrim hob den schweren Holzschild auf, der vor ihm im Schnee lag, und schob seinen linken Arm durch die breiten Lederschlaufen. Dann gab er den Hornbläsern ein Zeichen. Zwei lang gezogene Rufe ertönten. Die Schlachtreihe der Trolle bewegte sich um zehn Schritt nach vorne und verharrte.

Stolz erfüllte Orgrim. Seine Krieger waren die Besten im Heer Branbarts. Kaum eine andere Trolltruppe hätte man wieder zum Halten bringen können, wenn sie sich erst einmal in Richtung des Feindes bewegte.

Eine zweite Wolke von Pfeilen ging auf seine Männer nieder. Die allermeisten Geschosse bohrten sich wirkungslos in die großen Schilde der Krieger.

Die Katapulte beantworteten das Feuer. Silbrig funkelnde Kugeln zersprangen auf dem Eis. Die erste Salve schlug dicht vor den Kentauren ein. Eissplitter sirrten zwischen den Beinen der Pferdemänner. Etliche strauchelten. Ihre Formation geriet durcheinander. Schon peitschte ihnen die nächste Salve entgegen. Diesmal hatte Boltan seine Männer ein wenig höher zielen lassen. Die Kugeln schlugen blutige Schneisen, doch sie fachten auch die Kampfeswut der Kentauren an.

In wildem Galopp drängten sie vor und ließen die Schlachtreihe der Menschen hinter sich zurück. Ein einzelner Hornstoß war für die Trolle das Kommando vorzugehen.

Orgrim nahm seinen Platz zwischen den Kriegern ein. Zischend zog eine weitere Salve über ihre Köpfe hinweg. Diesmal war der dichte Block aus Speerträgern das Ziel. Der Beschuss der Bogenschützen hatte aufgehört. Die Kentauren versperrten ihnen die Sicht.

Mit ohrenbetäubendem Krachen prallten die beiden Schlachtreihen aufeinander. Etliche Trolle wurden umgerissen. Die Hufe der Kentauren zerstampften die Gestürzten. Die Luft hallte wider von Geschrei und Waffengeklirr.

In der dichten Formation konnte Orgrim mit seinem Kriegshammer nicht richtig ausholen. Er rammte dem Kentauren vor sich den Hammerkopf gegen die Brust. Der bärtige Pferdemann brach in die Knie. Ein Stoß mit dem Schaft des Hammers traf ihn dicht über dem Ohr. Er ging vollends nieder. Orgrim setzte ihm die Kante seines Schildes auf den Hals und drückte zu. Sein Gewicht reichte aus, um dem sterbenden Krieger fast den Kopf von den Schultern zu trennen.

Ein anderer Kentaur nutzte aus, dass Orgrim seine Deckung geöffnet hatte. Ein Speerstoß traf den Rudelführer in den Oberarm. Das schmale Blatt der Waffe zog eine blutige Furche in sein Fleisch. Mit einem Ruck riss Orgrim seinen Schild hoch und zersplitterte den Speerschaft. Dann ließ er seinen Kriegshammer fallen und griff nach der Waffe seines Gegners. Mühelos entrang er dem Kentauren den Speer. Er drehte den Schaft zwischen den Fingern und stieß dem Pferdemann das zersplitterte Ende in die Brust.

Die Reihen der Kentauren begannen zu wanken. Ihre Hufe fanden auf dem Eis kaum Halt. Die Trolle drängten sie zurück, und plötzlich brach Panik unter den Pferdemännern aus. Orgrim sah einen schwarzbärtigen Kerl mit einem Langschwert, der fluchend versuchte, die Reihe zusammenzuhalten. Doch schließlich musste auch er sich in das Unvermeidliche fügen. Der Angriff war zurückgeschlagen.

Die Trolle ringsherum schrien den Flüchtenden Beleidigungen hinterher und machten sich über die Verwundeten her.

Auch die Menschen hatten sich zurückgezogen, um dem Feuer der Katapulte zu entgehen. Überall auf dem Eis lagen Tote.

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