Kalter Atem

Asla stand in der Tür des Langhauses und stemmte die Hände in die Hüften. Wenn Ulric zurück war, würde er eine Tracht Prügel bekommen, die er bis ans Ende seiner Tage nicht vergessen würde! Und Kalf brauchte sich hier in nächster Zeit auch nicht blicken zu lassen!

»Sei gnädig zu ihnen, Firn«, flüsterte sie. Mit der Dämmerung hatte erneut Schneefall eingesetzt. Ulric und Gundar waren seit drei Tagen überfällig. Kalf war sich sicher, dass sie im Wehrberghof Zuflucht vor dem Unwetter gesucht hatten. Zwei Tage lang hatte es ohne Unterbrechung gestürmt. Wer von diesem Unwetter ohne ausreichenden Schutz in den Bergen überrascht worden war, der hätte jämmerlich erfrieren müssen. Aslas Finger krallten sich in den Stoff ihres Kleides. Alfadas würde auch eine Abreibung bekommen, sobald er zurück war. Er hatte dem Jungen diese Flausen in den Kopf gesetzt!

Asla hatte vor fünf Tagen Kalf darum gebeten, ihren Jungen zu suchen. Der Fischer war Ulrics Fährte zum Pass in die Berge hinauf gefolgt. Er hatte beobachtet, wie Ulric im Wehrberghof Zuflucht fand. Dorthin führten auch die Spuren Gundars. Doch statt Ulric zu holen, war Kalf allein zurückgekehrt und hatte erzählt, es sei wichtig für den Jungen, dieses Abenteuer zu bestehen.

Asla atmete tief aus. Sie waren alle verrückt, die Männer! Ulric war sieben! Er hatte sich nicht allein in den Bergen herumzutreiben, und das wusste er auch genau.

Yilvina trat an ihre Seite und spähte in die Dämmerung.

»Siehst du ihn?«, fragte Asla.

»Nein. Aber der Priester wird schon auf deinen Sohn aufpassen. Er ist ein vernünftiger Mann.« Es gibt keine vernünftigen Männer, dachte Asla wütend und kehrte ins Langhaus zurück. Nach dem Ausflug an die frische Luft empfand sie die stickige Wärme des Langhauses als bedrückend. Ihre Augen tränten vom Rauch des Feuers. Sie zog den Vorhang zur Stiefelkammer hinter der Tür zu.

Ole stank fürchterlich. Selbst der Rauch vermochte den Verwesungsgeruch nicht mehr zu vertreiben. Ihr Onkel hatte hohes Fieber. Er erwachte nur noch selten. Nichts würde ihn mehr retten. In den kurzen Augenblicken, in denen er zur Besinnung kam, wimmerte er vor Schmerzen. Und er verfluchte einen Elch, der ihn betrogen hatte. Asla sah kurz nach Kadlin. Die Kleine lag in ihrer Schlafnische und hielt die Strohpuppe an ihre Brust gedrückt, die Yilvina für sie gemacht hatte. Asla beobachtete die Elfe aus den Augenwinkeln. Yilvina verharrte völlig bewegungslos, so als sei sie aus Holz geschnitzt und nicht aus Fleisch und Blut. Sie hatte etwas Unheimliches an sich. In ihrer Gegenwart fühlte sich Asla plump und unbeholfen. Und hässlich ... Wenn nur Emerelle endlich erwachen würde! Die Königin würde gewiss darauf bestehen, so schnell wie möglich nach Albenmark zurückzukehren.

Blut hob seinen schweren Kopf und schnaubte leise. Sie hatte den Hund wieder ins Haus geholt, als vor drei Tagen der Sturm aufgezogen war. Mit einer starken Leine war er an einen der Stützbalken nahe am Eingang angebunden. Der Hund hatte nicht versucht, das dicke Hanfseil zu zerkauen. Er war ihr dankbar dafür, wieder in der warmen Stube zu sein, glaubte Asla. Hier konnte auch Kadlin mit ihm spielen. Dennoch blickte er ständig zu der Butze hinüber, in der Ole lag.

Der Hund schien auf den Tod seines Peinigers zu warten.

Plötzlich richtete Blut die Ohren auf. Er sprang auf und blickte zu dem schweren Vorhang, hinter dem die Stiefelkammer lag.

Quietschend schwang die Haustür auf. Sofort war auch Asla auf den Beinen. »Ulric?« Ein stoppelbärtiges Gesicht schob sich durch den Vorhang. Erek, ihr Vater.

»Ich war es Leid, zu Hause die Decke anzustarren, Mädchen.« Er rieb sich die rot gefrorenen Hände, trat in die Stube und hängte seinen abgewetzten Pelzmantel an einen Haken nahe der Feuerstelle. »Hast du eine Schale Suppe, Mädel?« Er ließ sich mit einem Seufzer am Tisch nieder und starrte dann ungerührt in Yilvinas Richtung. »Nichts wärmt die alten Knochen so gut wie der Anblick einer holden Maid. Du hast mir noch immer nicht erzählt, ob zu Hause ein Liebster auf dich wartet. Ich bin zwar nicht mehr der hübscheste Mann im Dorf, aber dafür bin ich sehr erfahren.« Er grinste frech. »Glaub mir, das gleicht einiges aus.«

»Vater!« Asla stellte eine Schüssel mit Hirsebrei vor ihm auf den Tisch. Im Grunde mochte sie es, wenn er seine schamlosen Spaße mit der unnahbaren Elfe trieb. Aber unter ihrem Dach konnte sie das nicht dulden. »Was würde Mutter sagen, wenn sie dich jetzt hören könnte.«

Erek legte seine roten Hände um die Suppenschüssel. »Deine Mutter mochte es ganz gern, wenn ich schlüpfrige Spaße machte.« Er nickte in Yilvinas Richtung. »Und ich glaube, meine hübsche Freundin dort drüben mag es auch. Jedenfalls hat sie noch nie protestiert.«

Auch jetzt reagierte die Elfe nicht auf die Worte des Alten. Plötzlich schämte sich Asla. Die Königin und ihre Leibwächterin waren gewiss keine Gäste, wie man sie sich wünschte, aber auch für sie galten die alten Gesetze der Gastfreundschaft. Es war unverzeihlich zu dulden, dass ihr Vater Fremde bedrängte, die unter ihrem Dach Zuflucht gesucht hatten.

»Es reicht jetzt, Erek!«, sagte sie leise, aber mit Nachdruck.

»Lass sie in Ruhe, oder du zwingst mich, dir die Tür zu weisen.«

Ihr Vater sah überrascht auf. Hatte er etwa geglaubt, er täte ihr einen Gefallen? Sie hätte früher etwas unternehmen sollen!

Draußen wieherten die Pferde. Bevor der Schnee kam, hatten sie nur einen grob gezimmerten Stall an der Rückseite des Langhauses errichten können. Was hatte sich Alfadas nur dabei gedacht! Sie war nicht darauf vorbereitet, vier riesige Pferde über den Winter zu bringen. Im ganzen Dorf hatte sie Futter zusammenkaufen müssen. Und wozu? Ein einziges Mal hatte sie die große Kutsche angeschirrt und eine kurze Ausfahrt gemacht. Und für diesen Spaß bezahlte sie jeden Tag mit zusätzlicher Arbeit! Wenn dieser Nichtsnutz wenigstens hier wäre! Dann würde sie ihn durch den Sturm hinaus zum Stall schicken. Ihre Augen wurden feucht. Ja, wenn er doch nur hier wäre ...

Blut sprang auf. Knurrend fixierte er die Rückwand des Hauses. Wieder wieherten die Pferde. Ein Donnerschlag erklang. Nein ... Eines der Tiere hatte wohl mit seinen schweren Hufen vor die Stallwand getreten. Was war dort los? Asla griff nach ihrem Umhang. Sie musste hinaus und nachsehen.

Kadlin schlug den Vorhang ihrer Schlafnische zur Seite. Ein Schwall kalter Luft drang in die Stube. Blut begann wie wahnsinnig zu kläffen und zerrte verzweifelt an dem Seil, mit dem er angebunden war.

»Mama ...« Die Kleine begann zu weinen. Ihr Gesicht war rot vor Kälte. Hatte sie wieder ein Loch in die Polster aus Moos und Lehm gekratzt, mit denen die Fugen zwischen den schweren Balken des Langhauses abgedichtet waren? Asla beugte sich vor und nahm sie auf den Arm. Sie war so kalt, als hätte sie in ihrem Nachthemdchen draußen im Sturm gestanden. Asla stand der Atem vor dem Mund, als sie Kadlin aus der Butze hob. Ein kurzes Zischen war trotz des Gekläffs von Blut deutlich zu hören. Yilvina hatte ihre beiden Schwerter gezogen.

»Geh zur Seite, Menschentochter!«

Jetzt begann Halgard in ihrer Schlafnische leise zu wimmern. Erek holte das greise Mädchen und nahm es auf den Arm.

Yilvina schob vorsichtig mit einer Schwertklinge den Vorhang von Kadlins Butze zurück. Der Stoff knackte leise. Die Wolldecke war auf der Innenseite von Raureif überzogen. Die Schlafnische war leer.

»Was geht hier vor?« Asla rieb Kadlin die Hände, damit die Kleine wieder warm wurde. Ihre Lippen waren ganz dunkel vor Kälte. Sie schaffte das Mädchen zur Feuergrube hinüber, in der dunkelrot die Holzscheite glühten. Yilvina sah sich misstrauisch um. Die Elfe hielt noch immer die blanken Schwerter in Händen. Sie drehte sich langsam auf der Stelle. Worauf wartete sie? Hier war doch niemand. Der einzige Weg ins Haus führte durch die kleine Stiefelkammer.

Blut hatte aufgehört zu bellen. Sein Nackenfell sträubte sich. Er hatte die Ohren steil aufgerichtet und seinen Schwanz zwischen die Hinterbeine geklemmt. Plötzlich wurde die Glut in der Feuergrube dunkler. Etwas Weißes schob sich zwischen den Holzscheiten hindurch. Kurz hielt Asla es für zähen Rauch, dann erkannte sie einen Tierkopf. Blut jaulte und kämpfte gegen seine Leine an.

Asla nahm sich Kadlin und wich von der Feuergrube zurück. Ein Wolfskopf, groß wie der Schädel eines Pferdes, erhob sich aus der Glut. Blasses Licht umspielte ihn. Die Reißzähne waren lang wie Dolche. Immer größer wurde das Ungeheuer, das sich aus der Feuergrube erhob. Gleichzeitig erstarb das matte Glühen der Holzscheite. Es wurde dunkler, und eisige Kälte breitete sich aus.

Yilvina griff wie ein Falke im Sturzflug an. Sie wirbelte um die geisterhafte Gestalt herum. Ihre Klingen verschwammen zu funkelnden Lichtbahnen. Wieder und wieder schnitten sie durch den Leib der Bestie, doch die blieb völlig unbeeindruckt.

Mit einem Salto rückwärts wich die Elfe den schnappenden Kiefern aus. Sie landete dicht neben Blut. Ein Schwerthieb zerschnitt das Seil, das den großen Hund zurückhielt.

Mit drohendem Knurren stakste Blut dem unheimlichen Geschöpf entgegen. Seine Schritte waren ungelenk. Er kämpfte gegen die eigene Angst an.

Die Bestie hatte sich nun ganz aus dem Feuer erhoben. Sie war groß wie ein Pferd, und schlank, ja abgemagert. Asla griff nach der schweren Holzkelle im Suppenkessel. Damit bewaffnet fühlte sie sich ein wenig besser, obwohl sie gesehen hatte, wie nutzlos Yilvinas Schwerter gewesen waren. Die Elfe hatte sich bis vor das Lager zurückgezogen, auf dem ihre Königin schlief.

Ein leises Geräusch ließ Asla herumfahren. Ole schob den Vorhang seiner Schlafnische mit seinem Armstumpf zurück. Sein Gesicht war unheimlich blass. Dunkel glänzten seine fiebrigen Augen. »Die Elchkuh!« Stöhnend versuchte er sich aufzurichten. Mit dem Armstumpf tastete er neben sich. »Nehmt die Götterpeitsche. Vertreibt sie!« Die letzten Worte waren ein schriller Schrei. Hektisch suchte er nach der Peitsche. Er konnte die zerschnittenen Lederriemen nicht sehen, die noch immer dicht bei der Feuergrube lagen, dort, wo Gundar die gestohlenen Gaben an die Eisenmänner herausgeschnitten hatte. Es gab keine Peitschen mehr!

Die Kreatur wandte den Kopf in Oles Richtung. Ihre Lefzen zogen sich zurück, was wie ein gieriges Lächeln wirkte. Überraschend schnell war das Geisterpferd bei Oles Schlafnische. Sein Kopf stieß hinab in Oles Brust. Asla hörte ein leises Knistern wie von Pergament. Kurz glaubte sie etwas Goldenes zu sehen. Blut war stehen geblieben.

Asla gab Erek ein Zeichen, ihr zu folgen. Vorsichtig schlich sie in Richtung der Stiefelkammer. Ihr Vater hatte verstanden. Er hielt Halgard fest eine Hand auf den Mund gepresst, damit das blinde Mädchen nicht plötzlich etwas sagte.

Gedankenschnell fuhr die Kreatur herum. Blut sprang sie an und glitt einfach durch den geisterhaften Körper hindurch. Das Wolfspferd versperrte ihnen den einzigen Weg hinaus.

Noch einmal griff Yilvina an. Doch erneut glitten ihre Schwertklingen wirkungslos durch den Leib der Bestie. Eine Stimme drängte sich in Aslas Gedanken. Sie sprach gedehnt. Die Worte waren wie behäbig tropfendes Wachs. »Ich suche das Licht. Es strahlt besonders hell unter deinem Herzen. Bleib stehen. Es tut nicht weh.« Asla wollte die Schöpfkelle heben, doch sie war wie gelähmt. Kadlin begann zu weinen und drückte sich dicht an sie.

Langsam kam das Geisterpferd näher. Blut verstellte ihm den Weg. Mit einem beiläufigen Bissen zerrte die Kreatur etwas Goldenes aus dem großen Hund. Er jaulte auf und krümmte sich zusammen.

Asla hörte ihr Haar knistern, so kalt war es. Jetzt war das Geisterpferd nur noch einen Schritt entfernt.

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