Pater Konstantinou war betroffen. Seitdem er die Meldung über Frederick Stavros' Unfalltod und die vergebliche Fahndung nach dem flüchtigen Fahrer gelesen hatte, ließ die Erinnerung ihn nicht mehr los. Seit der Priesterweihe hatte der Geistliche Tausende von Beichten abgenommen, aber Stavros' dramatisches Geständnis und sein anschließender Tod hatten einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen.
«He, was hast du heute?«
Pater Konstantinou wandte sich dem schönen jungen Mann zu, der nackt neben ihm im Bett lag.»Nichts, Liebster.«
«Mach' ich dich nicht glücklich?«
«Das weißt du doch, Giorgios.«
«Was hast du dann? Du tust so, als war' ich gar nicht da, verdammt noch mal!«
«Du sollst nicht fluchen.«
«Mir gefällt's aber nicht, ignoriert zu werden.«
«Tut mir leid, Schatz. Ich bin nur traurig, weil ein Gemeindemitglied bei einem Verkehrsunfall umgekommen ist.«
«Irgendwann ist jeder fällig, stimmt's?«
«Ja, natürlich. Aber dieser Mann ist sehr unglücklich gewesen.«
«Warum denn?«
«Er hat ein schlimmes Geheimnis mit sich herumgeschleppt, das er zuletzt nicht mehr hat tragen können.«
«Was für ein Geheimnis?«
Pater Konstantinou streichelte den Schenkel des Jungen.»Du weißt, daß ich darüber nicht reden darf. Das fällt unter das Beichtgeheimnis.«
«Ich dachte, wir hätten keine Geheimnisse voreinander.«
«Richtig, Giorgios, aber… «
«Gamoto! Keine Geheimnisse heißt keine Geheimnisse. Außerdem hast du gesagt, daß der Kerl tot ist. Was kann's ihm da noch schaden, was du erzählst?«
«Wahrscheinlich hast du recht, aber…»
Giorgios Lato umschlang seinen Bettpartner und flüsterte ihm ins
Ohr:»Ich bin neugierig.«
«Du kitzelst mich.«
Lato begann Pater Konstantinou zu streicheln.
«Oh… nicht aufhören
«Dann erzähl's mir!«
«Gut, wenn du unbedingt willst. Dem Ärmsten kann es ja wirklich nicht mehr schaden…«
Giorgios Lato hatte sich von ganz unten heraufgearbeitet. Er war in den Slums von Athen aufgewachsen und hatte mit zwölf Jahren begonnen, auf den Strich zu gehen. Anfangs war er auf der Straße unterwegs gewesen und hatte sich gelegentlich ein paar Drachmen damit verdient, daß er Betrunkene in finsteren Winkeln und Touristen in ihren Hotelzimmern bediente. Er war ein schwarzgelockter Adonis mit dem Körper eines Modellathleten.
«Du bist ein Poulaki, Giorgios«, erklärte ein Zuhälter ihm, als er 16 Jahre alt war.»Du verschleuderst dein einziges Kapital. Ich kann dir Kunden besorgen, die viel besser zahlen.«
Und er hatte Wort gehalten. Von diesem Augenblick an bediente Giorgios Lato nur noch reiche Männer, die ihn großzügig entlohnten.
Latos ganzes Leben veränderte sich, als er Nikos Veritos, den Assistenten des Großunternehmers Lambrou, kennenlernte.
«Ich liebe dich«, erklärte Nikos Veritos dem Jungen.»Ich will, daß die Rumhurerei aufhört. Du gehörst jetzt mir.«
«Klar, Niko. Ich liebe dich auch.«
Veritos überhäufte den Jungen mit Geschenken. Er kaufte ihm Kleidungsstücke, zahlte die Wohnungsmiete und gab ihm Taschengeld. Aber er machte sich Sorgen darüber, was Lato tagsüber unbeaufsichtigt trieb.
Veritos löste dieses Problem, indem er dem Jungen eines Tages erklärte:»Ich habe dir einen Job in meiner Firma besorgt.«
«Scheiße, damit du mich ständig im Auge behalten kannst, was? Hör zu, das…«
«Nein, nein, darum geht's nicht, Süßer. Ich hab' dich nur gern in meiner Nähe.«
Nach anfänglichen Protesten hatte Giorgios Lato schließlich doch nachgegeben. Zu seiner Überraschung gefiel ihm die Arbeit ganz gut. Er arbeitete in der Poststelle und erledigte Botengänge, die ihm
Gelegenheit gaben, bei dankbaren Kunden wie Pater Konstantinou etwas Geld dazuzuverdienen.
Als Giorgios Lato an diesem Nachmittag das Bett des Geistlichen verließ, befanden sich seine Gedanken in wildem Aufruhr. Pater Konstantinou hatte ihm Erstaunliches anvertraut, und Lato überlegte sofort, wie es sich zu Geld machen ließ. Er hätte damit zu Nikos Veritos gehen können, aber er wollte höher hinaus. Damit gehst du am besten gleich zum Chef, sagte Lato sich. Nur dort gibt's das wirklich große Geld.
Am nächsten Morgen kam Lato in Spyros Lambrous Vorzimmer.
Die Chefsekretärin blickte auf.»Oh, kommt die Post heute schon so früh, Giorgios?«
Lato schüttelte den Kopf.»Nein, ich möchte Herrn Lambrou sprechen.«
Die Sekretärin lächelte.»Tatsächlich? Was hast du mit ihm zu besprechen? Willst du ihm ein Geschäft vorschlagen?«fragte sie scherzend.
«Nein, darum geht's nicht«, sagte Lato ernsthaft.»Meine Mutter liegt im Sterben, und ich… ich muß heim zu ihr. Ich wollte Herrn Lambrou nur dafür danken, daß er mich bei sich beschäftigt hat. Das würde nur eine Minute dauern, aber wenn er keine Zeit hat…» Er wandte sich ab und schien gehen zu wollen.
«Warte! Er hat bestimmt kurz Zeit für dich.«
Zehn Minuten später stand Lato in Spyros Lambrous Arbeitszimmer. Er hatte es noch nie gesehen und fand den Luxus überwältigend.
«Tut mir aufrichtig leid, daß Ihre Mutter im Sterben liegt, junger Mann. Eine kleine Beihilfe wird Ihnen sicher…«
«Danke, Herr Lambrou. Aber ich bin eigentlich wegen einer ganz anderen Sache hier.«
Lambrou starrte ihn stirnrunzelnd an.»Was soll das heißen?«
«Herr Lambrou, ich besitze wichtige Informationen, die für Sie sehr wertvoll sein dürften.«
Lambrous Miene wurde noch skeptischer.»Ach, wirklich? Tut mir leid, ich bin sehr beschäftigt und… «
«Sie betreffen Constantin Demiris. «Die Worte sprudelten nur so aus ihm hervor.»Ich habe einen guten Freund, der Pater ist. Er hat einem Mann, der gleich danach unters Auto gekommen ist, die Beichte abgenommen, und dieser Mann hat ihm von Demiris erzählt. Demiris hat was
Schreckliches getan, für das er eingesperrt werden könnte. Aber wenn Sie das nicht interessiert
Spyros Lambrou war plötzlich sehr interessiert.»Nehmen Sie doch Platz…wie war noch gleich Ihr Name?«
«Lato, Giorgios Lato.«
«Gut, Lato, am besten fangen Sie ganz von vorn an…»
In Melina und Constantin Demiris' Ehe kriselte es seit Jahren, aber bis vor kurzem war es nie zu Gewalttätigkeiten gekommen.
Angefangen hatten sie während einer erbitterten Auseinandersetzung wegen einer Affäre, die Constantin mit Melinas bester Freundin hatte.
«Du machst jede Frau zur Nutte!«kreischte Melina.»Was du anfaßt, wird zu Dreck!«
«Skase! Halt's Maul!«
«Dazu kannst du mich nicht zwingen«, antwortete sie trotzig.»Die ganze Stadt soll erfahren, was für ein Pousti du bist. Mein Bruder hat recht gehabt — du bist ein Ungeheuer!«
Constantin hob die Hand und schlug Melina ins Gesicht, daß es klatschte. Sie lief weinend hinaus.
Eine Woche später bekamen sie wieder Streit, und Constantin schlug sie erneut. Melina packte ihre Koffer und flog nach Attikos, auf die Privatinsel ihres Bruders. Dort blieb sie eine Woche lang, allein und elend. Sie sehnte sich nach ihrem Mann und begann, sich Entschuldigungen für sein Verhalten zurechtzulegen.
Es ist alles meine Schuld. Ich hätte Costa nicht so zusetzen dürfen. Er hat mich nicht wirklich schlagen wollen. Er hat nur die Beherrschung verloren und nicht mehr gewußt, was er tut. Und wenn ich ihm gleichgültig wäre, hätte er mich nicht geschlagen…
Trotzdem wußte Melina, daß das letztlich nur Ausreden waren, weil sie den Gedanken an eine Scheidung nicht ertragen konnte. Am Sonntag darauf kehrte sie nach Hause zurück.
Demiris war in der Bibliothek.
Er sah auf, als Melina hereinkam.»'Du hast also beschlossen, wieder heimzukommen?«
«Dies ist mein Haus, Costa. Du bist mein Mann, und ich liebe dich. Aber ich warne dich: Faßt du mich noch mal an, bring' ich dich um!«
Auf seltsame Weise schienen die beiden sich nach diesem Vorfall wieder besser zu vertragen. Constantin achtete längere Zeit sorgsam darauf, Melina gegenüber nicht die Beherrschung zu verlieren. Er hatte weiterhin Affären, und seine Frau war zu stolz, um ihn zu bitten, damit aufzuhören. Eines schönen Tages wird er alle seine Flittchen satt haben und erkennen, daß er nur mich braucht.
An einem Samstagabend zog Constantin Demiris gerade seine Smokingjacke an, als Melina in sein Schlafzimmer trat.
«Wohin gehst du?«
«Ich habe eine Verabredung.«
«Hast du vergessen, daß wir heute abend bei Spyros eingeladen sind?«
«Nein, das habe ich nicht vergessen. Aber diese Sache ist wichtiger.«
Melina funkelte ihn an.»Ich weiß genau, was dich aus dem Haus treibt — deine Poulakia! Und du gehst zu einer deiner Nutten, um dich abzureagieren.«
«Du solltest auf deine Ausdrucksweise achten. Du keifst wie ein Fischweib, Melina. «Demiris betrachtete sich im Spiegel.
Das lasse ich nicht zu! Was er ihr antat, war schlimm genug, aber daß er nun auch noch bewußt ihren Bruder brüskieren wollte, schlug dem Faß den Boden aus. Sie fühlte den unbezähmbaren Drang, ihn irgendwie zu verletzen.»Heute abend sollten wir eigentlich beide zu Hause bleiben«, sagte Melina.
«Ach ja?«erkundigte er sich gleichmütig.»Und wieso das?«
«Weißt du nicht, welcher Tag heute ist?«fragte sie höhnisch.
«Nein.«
«Heute jährt sich der Tag, an dem ich deinen Sohn getötet habe, Costa. Ich habe ihn abtreiben lassen.«
Er stand stocksteif da, und sie sah, wie seine Pupillen sich
verdunkelten.
«Außerdem habe ich mich sterilisieren lassen, um nie mehr ein Kind von dir bekommen zu müssen«, log sie.
Jetzt drehte er völlig durch. »Skase!« Und er schlug sie ins Gesicht, schlug immer wieder zu.
Melina flüchtete kreischend aus dem Zimmer und rannte, von Constantin verfolgt, den Flur entlang.
Oben an der Treppe holte er sie ein.
«Dafür bring' ich dich um!«brüllte er. Als er wieder zuschlug, verlor Melina das Gleichgewicht, stürzte und fiel die lange Treppe hinunter.
Unten blieb sie vor Schmerzen wimmernd liegen.»Mein Gott, hilf mir doch! Ich hab' mir was gebrochen.«
Demiris starrte sie von der obersten Stufe aus mit kaltem Blick an.
«Ich lasse eines der Mädchen einen Arzt rufen. Ich möchte nicht zu spät zu meiner Verabredung kommen.«
Der Anruf kam kurz vor dem Abendessen.
«Herr Lambrou? Hier ist Doktor Metaxis. Ihre Schwester hat mich gebeten, Sie zu verständigen. Sie liegt hier in meiner Privatklinik. Sie hat leider einen Unfall gehabt…«
In Melinas Zimmer trat Spyros Lambrou an das Bett seiner Schwester und starrte sie bestürzt an. Melina hatte einen gebrochenen Arm, eine Gehirnerschütterung und ein durch Schwellungen und Blutergüsse entstelltes Gesicht.
Spyros Lambrou sagte nur ein einziges Wort:»Demiris. «Seine Stimme zitterte vor Wut.
Melinas Augen füllten sich mit Tränen.»Er hat's nicht so gemeint«, flüsterte sie.
«Dafür vernichte ich ihn! Das schwöre ich dir bei meinem Leben!«Spyros Lambrou war noch nie so außer sich gewesen.
Der Gedanke daran, was Constantin Demiris Melina antat, war Spyros Lambrou unerträglich. Es mußte irgendeine Möglichkeit geben, ihm das Handwerk zu legen — aber wie? Er wußte nicht, was er tun sollte. Er brauchte einen guten Rat. Wie so oft in der Vergangenheit beschloß Lambrou, Madame Piris zu konsultieren. Vielleicht konnte sie ihm irgendwie helfen.
Meine Freunde würden mich auslachen, wenn sie wüßten, daß ich zu einer Wahrsagerin gehe, dachte Lambrou auf dem Weg zu ihr. Tatsache war jedoch, daß Madame Piris in der Vergangenheit mehrmals erstaunliche Dinge vorausgesagt hatte, die prompt eingetroffen waren. Sie muß mir auch diesmal helfen.
Sie saßen an einem Tisch in einer dunklen Ecke der schwachbeleuchteten Taverne. Madame Piris schien seit ihrer letzten Begegnung sehr gealtert zu sein. Ihre dunklen Augen blickten ihn unverwandt an.
«Ich brauche Hilfe, Madame Piris«, sagte Lambrou.
Sie nickte schweigend.
Womit soll ich anfangen?» Es geht um einen Mordprozeß, der vor ungefähr eineinhalb Jahren stattgefunden hat. Eine Frau namens Catherine Douglas war… «
Die Wahrsagerin schloß die Augen.»Nein!«ächzte sie.
Spyros Lambrou starrte sie erstaunt an.»Sie war ermordet worden — von ihrem Mann und… «
Madame Piris erhob sich schwankend.»Nein! Die Sterne haben mir gesagt, daß sie sterben würde!«
Lambrou war verwirrt.»Sie ist tot«, sagte er.»Ihr Mann und seine Geliebte haben sie…«
«Sie lebt!«
Er schüttelte energisch den Kopf.»Ausgeschlossen!«
«Sie ist hier gewesen. Sie hat mich vor etwa einem Vierteljahr aufgesucht. Sie ist in einem Kloster untergebracht gewesen.«
Plötzlich paßte alles zusammen. Wie Lambrou wußte, unterstützte Demiris das Kloster in loannina — der Stadt, in der Catherine Douglas ermordet worden sein sollte. Sie ist in einem Kloster untergebracht gewesen. Auch was Giorgios Lato ihm mitgeteilt hatte, war eine Bestätigung dafür. Demiris hatte zwei Unschuldige als Mörder in den Tod geschickt, während Catherine Douglas — in Wirklichkeit gesund und munter — von den Nonnen versteckt worden war.
Und Lambrou wußte, mit welchem Werkzeug er Constantin Demiris vernichten würde.
Tony Rizzoli.