Catherine stand immer noch unter Schock. Sie saß in ihrer Hotelsuite auf der Couch und hörte zu, wie Wachtmeister Hans Bergmann, der Führer der Rettungsmannschaft, ihr berichtete, daß Kirk Reynolds tot war. Bergmanns Stimme floß in Wellen über sie hinweg; sie verstand kaum, was er sagte. Das Ungeheuerliche hatte ihr alle Kraft geraubt.
Alle Menschen um mich herum sterben, dachte sie verzweifelt. Larry ist tot — und jetzt auch Kirk. Und Noelle Page, Napoleon Chotas, Frederick Stavros. Ein Alptraum ohne Ende.
Wachtmeister Bergmanns Stimme drang vage durch den Nebel ihrer Verzweiflung.»Mrs. Reynolds… Mrs. Reynolds… «
Sie hob den Kopf.
«Ich bin nicht Mrs. Reynolds«, sagte sie müde.»Ich bin Catherine Alexander. Kirk und ich waren… wir waren befreundet. «
«Ich verstehe.«
Catherine holte tief Luft.
«Wie… wie hat das passieren können? Kirk war ein so guter Skifahrer.«
«Ja, ich weiß. Er ist oft nach Sankt Moritz gekommen. «Er schüttelte den Kopf.»Ehrlich gesagt, der Unfall ist auch mir ein Rätsel, Miss Alexander. Wir haben den Toten auf der wegen Lawinengefahr gesperrten Lagalb-Abfahrt gefunden. Der Wind muß das Warnschild umgeblasen haben. Ich kann Ihnen nur mein Beileid aussprechen.«
Beileid. Was für ein schwaches, was für ein dummes Wort.
«Können wir bei den Überführungsformalitäten mit Ihrer Hilfe rechnen, Miss Alexander?«
Der Tod war also nicht das Ende. Nein, es gab Formalitäten zu erledigen. Überführung, Grabstätte, Sarg, Blumen und Kränze — und die Verwandtschaft, die benachrichtigt werden mußte. Catherine hätte am liebsten laut geschrieen.
«Miss Alexander?«
Catherine sah auf.»Ich verständige seine Angehörigen.«
Die Rückkehr nach London war eine Trauerreise. Catherine war voller Hoffnung mit Kirk in die Berge gekommen, sie hatte geglaubt, dies könnte vielleicht ein Neuanfang sein, die Tür zu einem neuen Leben.
Kirk war so geduldig, so rücksichtsvoll gewesen. Ich hätte mit ihm schlafen sollen, dachte Catherine. Aber hätte das letzten Endes eine Rolle gespielt! Hätte das irgendwas geändert? Ein Fluch liegt auf mir. Ich vernichte jeden, der mit mir in Berührung kommt.
In London war Catherine zu deprimiert, um gleich ins Büro zu gehen. Sie blieb in ihrer Wohnung und weigerte sich, Besuch zu empfangen oder mit irgend jemandem zu sprechen. Anna, die Haushälterin, kochte für sie und brachte die Mahlzeiten in Catherines Zimmer, aber die Tabletts kamen stets unberührt zurück.
«Sie müssen etwas essen, Miss Alexander. «Aber Catherine wurde schon bei dem Gedanken an Essen übel.
Am nächsten Tag ging es Catherine noch schlechter. Sie hatte das Gefühl, um ihre Brust lägen Eisenbänder. Sie bekam kaum noch Luft.
So kann ich nicht weitermachen! dachte Catherine. Ich muß etwas unternehmen.
Sie sprach mit Evelyn Kaye darüber.
«Ich habe Schuld an allem, was passiert ist.«
«Das ist Unsinn, Catherine.«
«Ja, ich weiß — aber ich kann nicht dagegen an. Ich fühle mich verantwortlich. Ich brauche jemanden, bei dem ich mich aussprechen kann. Ich habe schon daran gedacht, zu einem Psychiater zu gehen
«Ich weiß einen ganz ausgezeichneten«, versicherte Evelyn ihr.»Wim geht übrigens gelegentlich zu ihm. Er heißt Alan Hamilton. Ich habe eine Freundin, die selbstmordgefährdet war und von Doktor Hamilton völlig geheilt wurde. Möchtest du zu ihm?«
Was ist, wenn er mir erklärt, daß ich verrückt bin? Was ist, wenn ich's bin?» Gut, von mir aus«, sagte Catherine widerstrebend.
«Ich versuche, einen Termin für dich zu bekommen. Er ist sehr beschäftigt.«
«Danke, Evelyn, das ist nett von dir.«
Catherine ging in Wims Büro. Er sollte erfahren, was Kirk zugestoßen ist, dachte sie.
«Wim — erinnern Sie sich an Kirk Reynolds? Er ist vor ein paar Tagen beim Skifahren tödlich verunglückt.«
«Oh? Westminster null-vier-sieben-eins-eins.«
Catherine starrte ihn an.»Wie bitte?«Und dann wurde ihr plötzlich klar, daß er Kirks Telefonnummer heruntergeleiert hatte. War das alles, was Menschen für Wim bedeuteten? Eine Zahlenreihe? Empfand er gar nichts für sie? War er wirklich unfähig, zu lieben, zu hassen oder Mitleid zu haben?
Vielleicht ist er besser dran als ich, dachte Catherine. Wenigstens bleibt ihm der schreckliche Schmerz erspart, den wir anderen empfinden können.
Evelyn meldete Catherine für den kommenden Freitag bei Dr. Hamilton an. Sie überlegte, ob sie Constantin Demiris anrufen und ihm diese Tatsache mitteilen sollte. Aber dann verzichtete sie darauf, weil die Angelegenheit ihr nicht wichtig genug erschien, um ihn damit zu belästigen.
Alan Hamiltons Praxis lag in der Wimpole Street. Als Catherine zu ihrem ersten Termin erschien, war sie ängstlich und aufgebracht. Ängstlich, weil sie sich davor fürchtete, was er über sie sagen könne, und aufgebracht, weil sie sich ärgerte, die Hilfe eines Fremden in Anspruch nehmen zu müssen, um Probleme zu lösen, die sie eigentlich allein hätte bewältigen können müssen.
«Doktor Hamilton ist bereit für Sie, Miss Alexander«, sagte die Sprechstundenhilfe hinter der gläsernen Trennwand.
Aber bin ich bereit für ihn? fragte Catherine sich. Jähe Panik erfaßte sie. Was tue ich hier? Ich denke nicht daran, mich in die Hände irgendeines Quacksalbers zu begeben, der sich wahrscheinlich für Gott hält.
«Ich… ich hab's mir anders überlegt«, antwortete Catherine.»Ich brauche eigentlich gar keine Beratung. Aber diesen Termin bezahle ich natürlich.«
«Oh! Warten Sie bitte einen Augenblick.«
Die Sprechstundenhilfe verschwand im Behandlungszimmer ihres Chefs.
Wenig später öffnete sich die Tür, und Alan Hamilton kam heraus. Er war ein großer blonder Mann von Anfang Vierzig mit strahlendblauen Augen und legeren Umgangsformen.
«Jetzt ist mein Tag gerettet!«erklärte er Catherine lächelnd.
Sie runzelte die Stirn.»Was…?«
«Ich habe nicht gewußt, was für ein guter Arzt ich wirklich bin. Sie sind eben erst in meine Praxis gekommen — und schon fühlen Sie sich besser. Das ist bestimmt eine Art Rekord.«
«Tut mir leid«, murmelte Catherine verlegen.»Es war ein Irrtum. Ich brauche gar keine Hilfe.«
«Ich freue mich, das zu hören«, versicherte Alan Hamilton ihr.»Ich wollte, alle meine Patienten könnten das von sich sagen. Aber wollen Sie nicht einen Augenblick hereinkommen, Miss Alexander, wenn Sie schon mal da sind? Wir könnten eine Tasse Kaffee trinken.«
«Nein, vielen Dank. Ich möchte
«Ich verspreche Ihnen, daß Sie sie im Sitzen trinken dürfen.«
Catherine gab ihr Zögern auf.»Gut, aber nur für eine Minute.«
Sie folgte ihm ins Sprechzimmer. Es war schlicht, aber geschmackvoll eingerichtet und erinnerte eher an einen Wohnraum als an ein Behandlungszimmer. An den Wänden hingen einige gute Grafiken, und auf seinem Schreibtisch stand das gerahmte Foto einer schönen Frau in den Dreißigern mit einem Jungen von fünf oder sechs Jahren. Gut, er hat also eine hübsche Praxis und eine attraktive Familie. Was beweist das?
«Nehmen Sie bitte Platz«, forderte Dr. Hamilton sie auf.»Der Kaffee ist bestimmt gleich fertig.«
«Ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich Ihre Zeit vergeude, Doktor. Ich bin
«Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. «Er lehnte sich in seinen Sessel zurück, während er sie betrachtete.»Sie haben viel durchgemacht«, sagte er mitfühlend.
«Was wissen Sie schon davon?«fauchte Catherine. Ihr Tonfall war aggressiver, als sie beabsichtigt hatte.
«Ich habe mit Evelyn Kaye gesprochen. Sie hat mir erzählt, was in Sankt Moritz vorgefallen ist. Mein Beileid, Miss Alexander.«
Schon wieder dieses verdammte Wort!» Das können Sie sich sparen. Warum versuchen Sie nicht, Kirk ins Leben zurückzuholen, wenn Sie ein so hervorragender Arzt sind?«Der in ihr aufgestaute Schmerz brach sich plötzlich Bahn, und sie nahm zu ihrem
Erschrecken wahr, daß sie hysterisch schluchzte.»Lassen Sie mich in Ruhe!«kreischte sie.»Lassen Sie mich in Ruhe!«
Alan Hamilton saß da, beobachtete sie und ließ ihren Ausbruch schweigend über sich ergehen.
«Verzeihen Sie«, murmelte Catherine, nachdem sie sich wieder leidlich gefaßt hatte.»Ich muß jetzt wirklich gehen. «Sie stand auf und ging zur Tür.
«Miss Alexander, ich weiß nicht, ob ich Ihnen helfen kann, aber ich möchte es versuchen. Ich kann Ihnen nur versprechen, daß ich Sie bei allem, was ich tue, nicht verletzen werde.«
Catherine blieb unschlüssig an der Tür stehen. Sie hatte Tränen in den Augen, als sie sich jetzt zu Hamilton umdrehte.»Ich weiß gar nicht, was mit mir los ist«, flüsterte sie.»Ich fühle mich so verloren.«
Alan Hamilton stand auf und trat auf sie zu.»Warum versuchen wir dann nicht, Sie zu finden? Wir können gemeinsam daran arbeiten. Nehmen Sie bitte wieder Platz. Ich sehe nach, wo der Kaffee bleibt.«
Er blieb einige Minuten lang draußen.
Während seiner Abwesenheit saß Catherine da und fragte sich, wie es ihm gelungen war, sie zum Bleiben zu bewegen. Seine ganze Art hatte eine beruhigende Wirkung. Und irgend etwas an seinem Auftreten war vertrauenerweckend.
Vielleicht kann er mir helfen, dachte Catherine.
Alan Hamilton kam mit zwei Tassen Kaffee und einem Tablett zurück.»Sahne? Zucker?«
«Nein, danke.«
Er setzte sich ihr gegenüber.»Ihr Freund ist beim Skifahren tödlich verunglückt, nicht wahr?«
Es tut so weh, darüber zu sprechen!'»Ja — bei einer Abfahrt auf einer Piste, die eigentlich gesperrt war. Aber der Wind hatte das Warnschild umgeblasen.«
«Ist es das erste Mal, daß ein Ihnen nahestehender Mensch gestorben ist?«
Wie sollte sie diese Frage beantworten? O nein! Mein Mann und seine Geliebte sind hingerichtet worden, weil sie versucht haben, mich zu ermorden. Ich bringe allen um mich herum den Tod. Es wäre ein Schock für ihn. Wie er dasitzt und auf eine Antwort wartet, dieser eingebildete Affe! Aber sie hatte nicht die Absicht, seine
Neugier zu befriedigen. Ihr Privatleben ging ihn nichts an. Ich mag
ihn nicht!
Alan Hamilton sah ihre verärgerte Miene und wechselte bewußt das Thema.»Wie geht's Wim?«erkundigte er sich.
Die Frage brachte Catherine völlig aus dem Gleichgewicht.»Wim? Oh, dem… dem geht's gut. Evelyn hat mir erzählt, daß er bei Ihnen in Behandlung ist.«
«Ja.«
«Können Sie mir erklären, warum er so merkwürdig ist?«
«Wim ist zu mir gekommen, weil er eine Stellung nach der anderen verlor. Er ist eine sehr seltene Erscheinung — ein echter Misanthrop. Die Ursachen dafür kann ich Ihnen jetzt nicht erläutern, aber im Grunde genommen haßt er seine Mitmenschen. Er ist außerstande, normale Beziehungen zu anderen Menschen einzugehen.«
Catherine erinnerte sich an Evelyns Worte: Wim kennt keine Gefühlsregungen. Er wird sich niemals zu jemandem hingezogen fühlen.
«Aber Wim ist ein Zahlengenie«, fuhr Alan Hamilton fort.»Und jetzt hat er eine Stellung, in der er seine besonderen Fähigkeiten einsetzen kann.«
Catherine nickte zustimmend.»Einem Menschen wie ihm bin ich noch nie begegnet.«
Dr. Hamilton beugte sich in seinem Sessel vor.»Miss Alexander«, sagte er,»Sie machen jetzt eine sehr schmerzliche Phase durch, aber ich glaube, daß ich sie Ihnen erleichtern kann. Ich möchte es jedenfalls versuchen.«
«Ich… ich weiß nicht recht«, antwortete Catherine widerstrebend.»Mir kommt alles so hoffnungslos vor.«
«Solange Ihnen so zumute ist«, sagte Alan Hamilton lächelnd,»kann's nur noch aufwärtsgehen, oder?«Sein Lächeln war ansteckend.»Wollen wir nicht noch einen weiteren Termin vereinbaren? Falls Sie mich danach noch immer ablehnen, geben wir's auf.«
«Ich lehne Sie nicht ab«, widersprach Catherine.»Na ja, vielleicht ein kleines bißchen.«
Hamilton trat an den Schreibtisch und blätterte in seinem Terminkalender, obwohl er recht gut wußte, daß er längst
ausgebucht war.»Wie war's mit nächstem Montag?«fragte er.»Um dreizehn Uhr?«Das war seine Mittagspause, aber Hamilton war bereit, darauf zu verzichten. Catherine Alexander war eine Frau, die eine unerträgliche Last mit sich herumschleppte, und er war entschlossen, alles menschenmögliche zu tun, um sie davon zu befreien.
Catherine sah ihn lange an.»Einverstanden.«
«Gut, dann also bis Montag. «Hamilton gab ihr seine Karte.»Falls Sie mich vorher brauchen sollten, haben Sie hier meine Praxisnummer und meine Nummer zu Hause. Ich schlafe sehr leicht, so daß Sie kein schlechtes Gewissen zu haben brauchen, falls Sie mich aufwecken.«
«Danke«, sagte Catherine.»Ich komme am Montag wieder.«
Dr. Alan Hamilton sah ihr nach, als sie den Raum verließ, und dachte: Sie ist so schön und so verletzlich. Ich muß sehr behutsam sein. Er betrachtete das gerahmte Foto auf seinem Schreibtisch. Was Angela wohl dazu sagen würde?
Der Anruf kam mitten in der Nacht.
Constantin Demiris hörte zu, und als er dann sprach, klang seine Stimme bestürzt:»Die Thele ist gesunken? Das kann ich nicht glauben!«
«Es stimmt leider, Herr Demiris. Die amerikanische Coast Guard hat einige Wrackteile aufgefischt.«
«Gibt es Überlebende?«
«Nein, Herr Demiris, leider nicht. Die gesamte Besatzung ist mit untergegangen.«
«Wie schrecklich! Weiß man schon, wie das passieren konnte?«
«Ich fürchte, daß wir das nie erfahren werden, Herr Demiris. Alles, was Hinweise liefern könnte, liegt jetzt auf dem Meeresgrund.«
«Das Meer«, murmelte Demiris,»das grausame Meer.«
«Sollen wir den Schaden der Versicherung melden?«
«Es fällt schwer, an Geld zu denken, wenn all diese tapferen Männer umgekommen sind, aber… ja, melden Sie den Schaden zur Regulierung an.«
Die kostbare Amphore würde er seiner Privatsammlung einverleiben.
Jetzt war der Augenblick gekommen, seinen Schwager zu bestrafen.