loannina, Griechenland — Juli 1948
Jede Nacht erwachte sie schreiend aus dem gleichen Traum. Sie befand sich bei heulendem Sturm mitten auf einem See, und ein Mann und eine Frau drückten ihren Kopf ins eiskalte Wasser, um sie zu ertränken. Jedesmal schreckte sie nach Atem ringend, mit jagendem Puls und in Schweiß gebadet hoch. Sie hatte keine Ahnung, wer sie war, und konnte sich an nichts erinnern. Sie sprach Englisch — aber sie wußte nicht, woher sie stammte oder wie sie nach Griechenland in das kleine Karmeliterinnenkloster gekommen war, in dem sie Zuflucht gefunden hatte.
Allmählich stellten sich quälend flüchtige Erinnerungen ein: vage, schemenhafte Bilder, die aufblitzten und ebenso schnell wieder verschwanden, ohne sich festhalten und genauer betrachten zu lassen. Sie kamen stets ohne Vorankündigung, überrumpelten sie förmlich und ließen sie verwirrt zurück. Zu Anfang hatte sie viele Fragen gestellt. Die Karmeliterinnen waren freundlich und verständnisvoll, aber sie gehörten einem Schweigeorden an, und allein Mutter Theresa, die greise, gebrechliche Oberin, durfte mit ihr sprechen.
«Wissen Sie, wer ich bin?«
«Nein, mein Kind«, antwortete Mutter Theresa.
«Wie bin ich hierhergekommen?«
«Am Fuß dieser Berge liegt das Dorf loannina. Letztes Jahr sind Sie während eines Sturms mit einem kleinen Boot unten auf dem See gewesen. Das Boot ist gesunken, aber durch die Gnade Gottes haben zwei unserer Schwestern Sie gesehen und gerettet. Sie haben Sie hierhergebracht.«»Aber… wo war ich vorher?«»Es tut mir leid, mein Kind. Das weiß ich nicht. «Damit konnte sie sich nicht zufriedengeben.»Hat denn niemand nach mir gefragt? Hat niemand versucht, mich zu finden.«
Mutter Theresa schüttelte den Kopf.»Niemand. «Sie war so frustriert, daß sie am liebsten geschrieen hätte. Aber sie ließ nicht locker.»Die Zeitungen… Sie müssen über mein Verschwinden berichtet haben.«
«Wie Sie wissen, ist uns jeglicher Kontakt mit der Außenwelt untersagt. Wir müssen uns dem Willen Gottes fügen, mein Kind. Wir müssen ihm für seine Gnade danken, dafür, daß Sie noch leben.«
Und das war alles gewesen, was sie herausbekommen hatte. Anfangs war sie zu krank gewesen, um sich Sorgen wegen ihrer ungeklärten Vergangenheit zu machen, aber im Laufe der Monate war sie genesen und wieder zu Kräften gekommen.
Als sie sich stark genug fühlte, verbrachte sie ihre Tage damit, in dem strahlenden Licht, das die Landschaft leuchten ließ, und der nach Wein und Zitronen duftenden sanften Brise den üppig blühenden Klostergarten zu pflegen.
Die Atmosphäre, in der sie lebte, war heiter und gelassen, und doch fand sie keine Ruhe. Ich habe mich verirrt, dachte sie, aber niemanden kümmert es. Weshalb nicht? Habe ich etwas Böses getan? Wer bin ich? Wer bin ich? Wer bin ich?
Wieder stiegen Bilder aus ihrem Unterbewußtsein auf. Eines Morgens sah sie sich beim Aufwachen plötzlich in einem Zimmer, in dem ein nackter Mann sie auszog. Nur ein Traum? Oder etwas, das in der Vergangenheit wirklich geschehen war? Wer war dieser Mann? Jemand, mit dem sie verheiratet war? Hatte sie einen Ehemann? Sie trug keinen Ehering. Tatsächlich besaß sie nichts außer der schwarzen Ordenstracht einer Karmelitin, die Mutter Theresa ihr gegeben hatte, und eine Brosche: einen kleinen goldenen Vogel mit Rubinen als Augen und ausgebreiteten Schwingen.
Sie war eine namenlose Unbekannte, eine Fremde, die unter Fremden lebte. Hier gab es niemanden, der ihr helfen konnte — keinen Psychiater, der ihr hätte sagen können, daß ihre Psyche ein so schweres Trauma erlitten hatte, daß sie nur bei Verstand bleiben konnte, indem sie die Schrecken der Vergangenheit verdrängte.
Und die Bilder folgten rascher und immer rascher aufeinander, als habe ihr Gedächtnis sich plötzlich in ein gigantisches Puzzle verwandelt, von dem hier und da einzelne Teile zusammenpaßten. Einmal sah sie sich in einem riesigen Atelier voller Soldaten, in dem offenbar ein Film gedreht wurde. Bin ich Schauspielerin gewesen? Nein, sie schien für irgend etwas verantwortlich zu sein. Aber wofür?
Ein Soldat überreichte ihr einen Blumenstrauß. Den müssen Sie selbst bezahlen, sagte er lachend.
Zwei Nächte später träumte sie wieder von diesem Mann. Sie verabschiedete sich auf einem Flughafen von ihm — und wachte schluchzend auf, weil sie ihn verloren hatte.
Danach fand sie keinen Frieden mehr. Dies waren keine bloßen Träume, sondern Bruchstücke ihres Lebens, ihrer Vergangenheit. Ich muß herausfinden, wer ich gewesen bin. Wer bin ich?
Und eines Nachts gab ihr Unterbewußtsein ganz unerwartet, ohne die geringste Vorwarnung, einen Namen preis. Catherine. Ich heiße Catherine Alexander.