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Die Anwaltskanzlei Tritsis &. Tritsis war zweifellos die angesehenste Kanzlei in ganz Griechenland. Ihre Gründer lebten längst im Ruhestand, und Napoleon Chotas war ihr Nachfolger als Hauptgesellschafter. Obwohl er einige Juniorpartner aufgenommen hatte, blieb Chotas weiterhin das Aushängeschild der Firma.

Wann immer einem Betuchten eine Anklage wegen Mordes drohte, landete er unweigerlich bei Napoleon Chotas. Seine Erfolgsbilanz war phänomenal. In den langen Jahren seiner Tätigkeit als Strafverteidiger hatte er einen Prozeß nach dem anderen gewonnen. Erst vor kurzem hatte das Verfahren gegen Anastasia Savalas weltweit Schlagzeilen gemacht. Chotas hatte eine Mandantin verteidigt, gegen die sämtliche Indizien sprachen, und einen spektakulären Sieg errungen. Dabei hatte er persönlich sehr viel riskiert — aber er war sich darüber im klaren gewesen, daß er den Kopf seiner Mandantin nur so würde retten können.

Chotas lächelte in sich hinein, als er sich an die Gesichter der Geschworenen erinnerte, als er einen großen Schluck von dem vergifteten Hustensaft genommen hatte. Er hatte sein Plädoyer zeitlich sorgfältig so gelegt, daß er um Punkt 12 Uhr unterbrochen werden würde. Darauf war es entscheidend angekommen. Wäre das Gericht von seinem bisherigen Modus abgegangen, die Verhandlung mittags zu unterbrechen… Ihn schauderte bei dem Gedanken daran, was dann hätte passieren können.

Auch so hatte sich unerwartet ein Zwischenfall ereignet, der ihn beinahe das Leben gekostet hätte. Als Chotas nach der Unterbrechung den Korridor entlanggehastet war, hatte eine Gruppe von Reportern ihm den Weg verstellt.

«Herr Chotas, woher haben Sie gewußt, daß der Hustensaft nicht vergiftet gewesen ist…?«

«Wissen Sie eine Erklärung dafür, wie…?«

«Glauben Sie, daß jemand die Flasche vertauscht hat…?«-»Hat Anastasia Savalas…?«

«Bitte, meine Herren! Tut mir leid, aber auch ich muß gelegentlich einem dringenden Bedürfnis nachkommen. Ich beantworte Ihre Fragen gern später.«

Er hastete zur Herrentoilette am Ende des Korridors weiter. An der Klinke hing ein Schild: AUSSER BETRIEB.

«Da werden Sie sich 'ne andere suchen müssen«, rief einer der Reporter.

Napoleon Chotas grinste.»So lange kann ich nicht warten, fürchte ich. «Er stieß die Tür auf, verschwand in der Toilette und schloß hinter sich ab.

Drinnen wartete bereits das Medizinerteam.»Ich hab' mir schon Sorgen um Sie gemacht«, beschwerte sich der Arzt.»Antimon wirkt verdammt schnell. «Er knurrte seinen Assistenten an:»Machen Sie die Magenpumpe fertig!«

Dann wandte er sich wieder an Chotas.»Legen Sie sich auf den Boden. Das wird eine unangenehme Sache, fürchte ich.«

«Wenn ich die Alternative bedenke«, grinste Napoleon Chotas,»macht mir das überhaupt nichts aus.«

Napoleon Chotas' Honorar dafür, daß er Anastasia Savalas das Leben gerettet hatte, betrug eine Million Dollar, die auf einem Schweizer Bankkonto einbezahlt wurden. Chotas besaß eine palastartige Villa in Kolonaki — einem der besten Wohnviertel Athens —, ein Landhaus auf Korfu und ein Apartment in der Pariser Avenue Foch.

Insgesamt gesehen hatte Napoleon Chotas allen Grund, mit dem Leben zufrieden zu sein. Lediglich eine Wolke verdunkelte seinen Horizont.

Der Mann hieß Frederick Stavros und war der neueste Sozius in der Anwaltsfirma Tritsis &. Tritsis. Die anderen Partner beschwerten sich ständig über ihn.

«Er ist zweitklassig, Napoleon. In einer Kanzlei wie dieser hat er nichts verloren

«Stavros hat meinen Fall beinahe vermurkst. Der Mann ist ein Idiot

«Hast du gehört, wie Stavros sich gestern vor Gericht benommen hat? Der Richter hätte ihn beinahe rausgeworfen…«

«Verdammt noch mal, warum schmeißt du diesen Stavros nicht raus? Er ist hier nur das fünfte Rad am Wagen. Wir brauchen ihn nicht, und er schadet unserem Ruf.«

Darüber war Napoleon Chotas sich nur allzusehr im klaren. Und er war beinahe versucht, mit der Wahrheit herauszuplatzen. Ich kann ihn nicht rausschmeißen! Aber er sagte lediglich:»Gebt Stavros eine Chance. Er macht sich noch, ihr werdet schon sehen. «Und das war alles, was seine Partner aus ihm herausbrachten.

Ein Philosoph hat einmal gesagt:»Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünschst — du könntest es bekommen.«

Frederick Stavros, Sozius in der Anwaltsfirma Tritsis & Tritsis, hatte seinen Wunsch erfüllt bekommen und war seither einer der unglücklichsten Menschen der Welt. Er litt unter Schlaflosigkeit, hatte keinen Appetit mehr und magerte beängstigend ab.

«Du mußt zum Arzt gehen, Frederick«, drängte seine Frau.»Du siehst schrecklich aus.«

«Nein, ich… das würde nichts nützen.«

Er wußte, daß er an etwas litt, das kein Arzt hätte kurieren können. Sein schlechtes Gewissen brachte ihn um.

Frederick Stavros war ein ernsthafter junger Mann, fleißig, ehrgeizig und idealistisch. Er hatte jahrelang eine schäbige Kanzlei im Athener Armen viertel Monastiraki gehabt, für mittellose Mandanten gekämpft und oft auf sein Honorar verzichtet. Als er dann Napoleon Chotas begegnet war, hatte sein Leben sich über Nacht verändert.

Im Jahr zuvor hatte Stavros Larry Douglas verteidigt, der mit Noelle Page wegen gemeinschaftlichen Mordes an Douglas' Frau Catherine vor Gericht gestanden hatte. Der reiche Constantin Demiris hatte Napoleon Chotas mit der Verteidigung seiner Geliebten beauftragt. Stavros war von Anfang an nur allzugern bereit gewesen, Chotas die Führung zu überlassen. Er erstarrte geradezu in Ehrfurcht vor seinem brillanten Kollegen.

«Du solltest Chotas in Aktion erleben«, pflegte er zu seiner Frau zu sagen.»Der Mann ist unglaublich! Ich wollte, ich könnte eines Tages in seine Kanzlei eintreten.«

Als der Prozeß sich seinem Ende näherte, war eine überraschende Wende eingetreten. Napoleon Chotas hatte Noelle Page, Larry Douglas und Frederick Stavros lächelnd in einem kleinen Konferenzraum um sich versammelt.

«Ich komme eben aus einer Besprechung mit den Richtern«, hatte er ihnen erklärt.»Falls die Angeklagten sich schuldig bekennen, wird Mr. Douglas des Landes verwiesen und darf nie mehr nach Griechenland zurückkehren. Noelle wird zu fünf Jahren Haft verurteilt, von denen sie aber nach Abschluß des Revisionsverfahrens nur etwa sechs Monate absitzen muß.«

Noelle Page und Larry Douglas waren sofort bereit gewesen, sich schuldig zu bekennen. Als die Angeklagten und ihre Verteidiger dann vor dem Richtertisch gestanden hatten, um das Urteil zu hören, hatte der Vorsitzende Richter gesagt:»In Fällen, in denen ein Mord nicht eindeutig nachgewiesen werden konnte, haben griechische Gerichte noch nie auf die Todesstrafe erkannt. Deshalb sind wir offen gesagt erstaunt gewesen, als die Angeklagten, die bisher geleugnet hatten, sich nun schuldig bekannt haben. Somit bleibt uns keine andere Möglichkeit, als die Angeklagten Noelle Page und Lawrence Douglas zum Tode durch Erschießen zu verurteilen. Das Urteil ist binnen dreißig Tagen zu vollstrecken.«

In diesem Augenblick hatte Stavros erkannt, daß Napoleon Chotas sie alle hereingelegt hatte. Eine Absprache mit den Richtern hatte es nie gegeben. Constantin Demiris hatte Chotas nicht damit beauftragt, Noelle Page zu verteidigen, sondern dafür zu sorgen, daß sie verurteilt wurde. Das war seine Rache an der Frau, die ihn betrogen hatte. Und Stavros war ahnungslos an diesem kaltblütigen Komplott beteiligt worden.

Das darfst du nicht zulassen! hatte der junge Anwalt gedacht. Du mußt zum Richter gehen und ihm mitteilen, was Chotas getan hat. Das Urteil muß aufgehoben werden!

Und dann war Napoleon Chotas zu ihm gekommen und hatte gesagt:»Darf ich Sie morgen mittag zum Essen einladen, falls Sie Zeit haben, Frederick? Ich möchte, daß Sie meine Partner kennenlernen… «

Vier Wochen später war Frederick Stavros mit eigenem großen Büro und sehr großzügigem Gehalt Sozius der angesehenen Kanzlei Tritsis & Tritsis. Er hatte seine Seele dem Teufel verkauft.

Aber seine tiefen Schuldgefühle ließen sich nicht abschütteln, und er war inzwischen zu der Erkenntnis gekommen, daß er sich nicht länger an diese schreckliche Abmachung halten konnte. So kann 's nicht weitergehen. Ich bin ein Mörder, sagte er sich.

Dann faßte er einen Entschluß.

Eines Morgens erschien er in aller Frühe in Napoleon Chotas' Arbeitszimmer.»Leon, ich… «

«Mein Gott, Mann, Sie sehen ja furchtbar aus!«stellte Chotas fest.»Wollen Sie nicht ein paar Tage Urlaub machen, Frederick? Das täte Ihnen bestimmt gut.«

Aber Stavros wußte, daß sein Problem damit nicht zu lösen war.»Leon, ich bin Ihnen sehr dankbar für alles, was Sie für mich getan haben, aber ich… ich kann nicht hierbleiben.«

Chotas starrte ihn überrascht an.»Wie meinen Sie das? Sie haben sich doch gut eingewöhnt.«

«Nein. Ich… ich werde aufgerieben.«

«Aufgerieben? Ich verstehe nicht, was Ihnen so zusetzt.«

Frederick Stavros wollte seinen Ohren nicht trauen.»Was Sie…was wir Noelle Page und Larry Douglas angetan haben. Haben Sie… denn gar keine Gewissensbisse?«

Chotas kniff die Augen zusammen. Vorsichtig.»Frederick, manchmal muß man der Gerechtigkeit auf verschlungenen Pfaden zum Sieg verhelfen. «Napoleon Chotas lächelte.»Glauben Sie mir, wir haben uns nichts vorzuwerfen. Die beiden sind schuldig gewesen.«

«Wir haben sie in den Tod geschickt. Wir haben sie reingelegt. Damit kann ich nicht länger leben. Tut mir leid, aber ich kündige hiermit. Ich bleibe nur noch bis zum Monatsende.«

«Ich nehme Ihre Kündigung nicht an«, stellte Chotas nachdrücklich fest.»Warum tun Sie nicht, was ich vorgeschlagen habe? Machen Sie ein paar Tage Urlaub, damit…«

«Nein! Mit dem, was ich weiß, könnte ich hier nie glücklich werden. Tut mir leid, Leon.«

Chotas musterte ihn mit kaltem Blick.»Ist Ihnen überhaupt klar, was Sie tun? Sie werfen eine brillante Karriere einfach weg… Ihr ganzes Leben.«

«Nein, ich rette mein Leben.«

«Ihr Entschluß steht also fest?«

«Ja. Tut mir wirklich leid, Leon. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, ich werde niemals davon sprechen, was… was passiert ist. «Er machte kehrt und verließ den Raum.

Napoleon Chotas blieb lange gedankenverloren hinter seinem Schreibtisch sitzen. Dann traf er eine Entscheidung. Er griff nach dem Telefonhörer und wählte eine Nummer.»Richten Sie Herrn Demiris bitte aus, daß ich ihn heute nachmittag aufsuchen werde. Es handelt sich um eine dringende Sache.«

Am selben Tag um 16 Uhr saß Napoleon Chotas in Constantin Demiris' Büro.»Wo brennt's denn, Leon?«fragte Demiris.

«Vorerst brennt noch nichts«, antwortete Chotas bedächtig,»aber ich wollte dir mitteilen, daß Frederick Stavros heute morgen bei mir gewesen ist. Er hat beschlossen, aus der Kanzlei auszuscheiden.«

«Stavros? Der Larry Douglas verteidigt hat? Und?«

«Er scheint Gewissensbisse zu haben.«

Längeres Schweigen.

«Oh, ich verstehe.«

«Er hat versprochen, nicht darüber zu reden, was… wie es zur Verurteilung gekommen ist.«

«Glaubst du ihm?«

«Ja. Ich habe Vertrauen zu ihm, Costa.«

Constantin Demiris lächelte.»Gut, dann haben wir nichts zu befürchten, stimmt's?«

Napoleon Chotas stand erleichtert auf.»Vermutlich nicht. Trotzdem wollte ich dich auf dem laufenden halten.«

«Du hast ganz richtig gehandelt. Hast du nächste Woche mal Zeit, zum Abendessen zu mir zu kommen?«

«Natürlich.«

«Ich rufe dich an, damit wir was vereinbaren können.«

«Danke, Costa.«

Am späten Freitagnachmittag herrschte unter den hohen Gewölben der riesigen Kapnikarea-Kirche in der Athener Innenstadt feierliche Stille. In einer Ecke neben dem Hauptaltar kniete Frederick Stavros vor Pater Konstantinou. Der Geistliche verhüllte den Kopf des Beichtwilligen mit einem Tuch.

«Ich habe gesündigt, Pater. Für mich gibt's keine Vergebung mehr.«

«Der große Fehler des Menschen liegt darin, mein Sohn, daß er sich nur für einen Menschen hält. Wie hast du gesündigt?«

«Ich bin ein Mörder.«

«Du hast ein Menschenleben auf dem Gewissen?«»Nicht nur eines, Pater. Ich weiß nicht, wie ich für meine Tat büßen soll.«

«Gott weiß Rat, mein Sohn. Wir werden ihn fragen.«»Ich bin durch Eitelkeit und Geldgier vom rechten Weg abgekommen. Das ist vor einem Jahr gewesen. Ich hatte einen wegen Mordes angeklagten Mann zu verteidigen. Er wäre vermutlich wegen Mangels an Beweisen freigesprochen worden. Aber dann hat Napoleon Chotas… «

Als Frederick Stavros eine halbe Stunde später aus der Kirche trat, fühlte er sich wie neu geboren. Er hatte das Gefühl, ihm sei eine erdrückend schwere Last von den Schultern genommen worden. Er hatte dem Geistlichen alles anvertraut und empfand nun zum ersten Mal seit jenem Schreckenstag wieder Zuversicht.

Ich fange ein ganz neues Leben an. Ich ziehe in eine andere Stadt und fange von vorn an. Ich muß es schaffen, mein Verbrechen irgendwie zu sühnen. Herr, ich danke dir, daß du mir noch eine Chance geben willst.

Inzwischen war es dunkel geworden, und der Platz zwischen Kirche und Ermoustraße war fast menschenleer. Als Stavros die Straßenecke erreichte, sprang die Fußgängerampel auf Grün um, und er wollte die Fahrbahn überqueren. Als er die Straßenmitte erreicht hatte, fuhr eine schwarze Limousine bergab und röhrte mit aufgeblendeten Scheinwerfern wie ein durchgehendes mechanisches Monstrum auf ihn zu. Stavros blieb wie vor Entsetzen gelähmt stehen. Für einen Sprung zur Seite war es bereits zu spät. Das Röhren wurde donnernd laut, und Stavros fühlte, wie sein Körper zerquetscht wurde und seine Muskeln und Knochen nachgaben. Nach einem Augenblick grausamster Schmerzen wurde es dunkel um ihn.

Napoleon Chotas war Frühaufsteher. Er genoß dieses ungestörte Alleinsein, bevor er sich den Anforderungen des Tages zu stellen hatte. Er frühstückte stets allein und las dabei die Morgenzeitungen. An diesem Morgen enthielten sie mehrere interessante Meldungen.

Ministerpräsident Themistikles Sophoulis, der mit einer Fünfparteienkoalition regierte, hatte ein neues Kabinett gebildet. Ich muß ihm ein Glückwunschschreiben schicken. Aus China wurde gemeldet, kommunistische Truppen hätten das Nordufer des

Jangtsekiang erreicht. Harry Truman und Alban Barkley waren in ihre Ämter als Präsident und Vizepräsident der Vereinigten Staaten eingeführt worden.

Napoleon Chotas blätterte um. Eine Meldung auf Seite zwei ließ ihm fast das Blut in den Adern gerinnen.

Frederick Stavros, einer der Partner der bekannten Anwaltsfirma Tritsis & Tritsis, ist gestern abend beim Verlassen der Kapnikarea-Kirche von einem Auto überfahren und tödlich verletzt worden. Berichten von Unfallzeugen zufolge soll es sich bei dem Wagen, dessen Fahrer mit Vollgas geflüchtet ist, um eine schwarze Limousine ohne Kennzeichen gehandelt haben.

Frederick Stavros hat zu den Hauptpersonen des sensationellen Mordprozesses gegen Noelle Page und Larry Douglas gehört. Er hat Douglas verteidigt und ist…

Napoleon Chotas las nicht weiter. Er saß wie erstarrt am Tisch und hatte sein Frühstück längst vergessen. Ein Unfall. War das wirklich ein Unfall gewesen? Constantin Demiris hatte ihm versichert, es gebe nichts zu befürchten. Aber zu viele Leute hatten den Fehler gemacht, Demiris' Worte für bare Münze zu nehmen.

Chotas griff zum Telefonhörer und wählte Constantin Demiris' Nummer. Eine Sekretärin stellte das Gespräch durch.

«Hast du die Morgenzeitungen schon gelesen?«fragte Chotas.

«Nein, noch nicht. Warum?«

«Frederick Stavros ist tot.«

«Was?« Demiris' Ausruf klang ehrlich überrascht.»Wie ist das passiert?«

«Frederick ist gestern abend von einem Kerl, der Fahrerflucht verübt hat, überfahren worden.«

«Großer Gott! Das tut mir leid, Leon. Haben sie den flüchtigen Fahrer schon geschnappt?«

«Nein, noch nicht.«

«Vielleicht kann ich bei der Polizei ein bißchen Druck machen. Heutzutage ist man nirgends mehr seines Lebens sicher. Wie war's übrigens mit Donnerstag zum Abendessen?«

«Einverstanden.«-»Gut, abgemacht.«

Napoleon Chotas verstand sich darauf, zwischen den Zeilen zu lesen. Constantin Demiris ist ehrlich überrascht gewesen. Er hat nichts mit Stavros' Tod zu schaffen.

Am Tag darauf fuhr Napoleon Chotas morgens in die Tiefgarage des Bürogebäudes, in dem sich seine Kanzlei befand, und stellte seinen Wagen ab. Als er zum Aufzug ging, tauchte ein junger Mann aus den Schatten auf.

«Haben Sie mal Feuer für mich?«

Bei Chotas schrillten sofort sämtliche Alarmglocken. Was hatte ein Unbekannter hier in der Tiefgarage zu suchen?

«Natürlich. «Chotas holte, ohne zu zögern, aus und schlug dem jungen Mann seine Aktentasche ins Gesicht.

Der Unbekannte stieß einen gellenden Schmerzensschrei aus.»Dreckskerl!«Aus seiner Jackentasche zog er eine Pistole mit Schalldämpfer.

«He, was geht hier vor?«rief eine Stimme. Der uniformierte Parkwächter kam auf sie zugerannt.

Der junge Mann zögerte kurz, steckte seine Waffe weg, lief die Einfahrtsrampe hinauf und verschwand.

Im nächsten Augenblick war der Parkwächter heran.»Alles in Ordnung, Herr Chotas?«

«Äh… ja. «Napoleon Chotas merkte, daß er keuchend atmete.»Danke, mir fehlt nichts.«

«Was hat der Kerl vorgehabt?«

«Schwer zu sagen«, antwortete Napoleon Chotas langsam.

Es könnte ein Zufall gewesen sein, sagte Chotas sich, als er an seinem Schreibtisch saß. Möglicherweise hat der Mann mich nur berauben wollen. Aber ein Straßenräuber benutzt keine Pistole mit Schalldämpfer, Nein, er wollte mich erschießen. Und Constantin Demiris hätte die Nachricht von seinem Tod mit ebenso gespieltem Entsetzen aufgenommen wie die von Frederick Stavros' tödlichem Unfall.

Das hätte ich wissen müssen! dachte Napoleon Chotas. Demiris ist kein Mann, der unnötige Risiken eingeht. Er kann es sich nicht leisten, Mitwisser zu haben. Nun, jetzt steht ihm eine Überraschung bevor.

Aus der Gegensprechanlage auf seinem Schreibtisch kam die Stimme seiner Sekretärin:»Herr Chotas, in einer halben Stunde müssen Sie zur Verhandlung.«

Heute sollte Chotas sein Plädoyer zugunsten eines Serienmörders halten, aber er war zu mitgenommen, um vor Gericht aufzutreten.»Rufen Sie den Vorsitzenden Richter an und entschuldigen Sie mich wegen Krankheit. Einer der Partner soll mich vertreten. Und noch was — heute keine Anrufe, keine Besucher.«

Er holte ein Tonbandgerät aus einem Wandschrank, stellte es auf den Schreibtisch und blieb nachdenklich davor sitzen. Dann begann er zu sprechen.

Am frühen Nachmittag erschien Napoleon Chotas mit einem versiegelten braunen Umschlag unter dem Arm im Büro des Staatsanwalts Peter Demonides, dessen Vorzimmerdame ihn sofort erkannte.

«Guten Tag, Herr Chotas. Was kann ich für Sie tun?«

«Ich möchte Herrn Demonides sprechen.«

«Er ist in einer Besprechung. Haben Sie einen Termin?«

«Nein. Sagen Sie ihm bitte, daß ich hier bin — und daß es sich um eine dringende Sache handelt.«

«Ja, natürlich.«

Eine Viertelstunde später wurde Napoleon Chotas ins Büro des Staatsanwalts gebeten.

«Sieh da«, sagte Peter Demonides,»der Prophet kommt zum Berg! Was kann ich für Sie tun? Vermute ich richtig, daß Sie mir im Fall Kleanthes einen Handel vorschlagen wollen?«

«Nein. Ich bin in einer persönlichen Angelegenheit hier, Peter.«

«Nehmen Sie Platz, Leon.«

Als die beiden Männer saßen, fuhr Chotas fort:»Ich möchte diesen Umschlag bei Ihnen hinterlegen. Er ist versiegelt und darf nur geöffnet werden, falls ich tödlich verunglücken sollte.«

Peter Demonides musterte ihn neugierig.»Rechnen Sie denn mit dieser Möglichkeit?«

«Möglich ist alles.«

«Aha. Einer Ihrer undankbaren Klienten?«

«Die Person tut nichts zur Sache. Sie sind der einzige, zu dem ich Vertrauen habe. Können Sie den Umschlag sicher verwahren?«»Selbstverständlich. «Demonides beugte sich vor.»Sie sehen aus, als hätten Sie Angst.«

«Das habe ich auch.«

«Wollen Sie, daß wir etwas für Sie tun? Ich könnte veranlassen, daß Sie unter Polizeischutz gestellt werden.«

Chotas tippte auf den Umschlag.»Dies ist der einzige Schutz, den ich brauche.«

«Gut, wenn Sie sich Ihrer Sache sicher sind…«

«Das bin ich. «Chotas stand auf und streckte die Hand aus. »Efcharisto, Peter. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin.«

Peter Demonides lächelte. »Parakalo, Leon. Jetzt schulden Sie mir einen Gefallen…»

Eine Stunde später betrat ein uniformierter Bote Constantin Demiris' Vorzimmer im Gebäude der Hellenic Trade Corporation. Er wandte sich an die Chefsekretärin.

«Ich habe ein Paket für Herrn Demiris.«

«Das können Sie mir geben. Ich werde den Empfang quittieren.«

«Ich habe den Auftrag, es nur Herrn Demiris persönlich zu übergeben.«

«Tut mir leid, ich darf ihn jetzt nicht stören. Von wem ist das Paket denn?«

«Napoleon Chotas.«

«Und Sie können es nicht einfach dalassen?«

«Nein, das darf ich nicht.«

«Gut, ich frage mal nach, ob Herr Demiris es entgegennehmen will.«

Sie drückte auf die Sprechtaste ihrer Gegensprechanlage.»Entschuldigen Sie, Herr Demiris, hier ist ein Bote mit einem Paket von Herrn Chotas.«

Aus dem Lautsprecher drang die Stimme ihres Chefs.»Bringen Sie es herein, Irene.«

«Der Bote sagt, daß er Anweisung hat, es Ihnen nur persönlich zu übergeben.«

Demiris antwortete nicht gleich.»Gut, kommen Sie mit ihm rein.«

Irene und der Bote betraten sein Arbeitszimmer.

«Sind Sie Constantin Demiris?«

«Ja.«

«Unterschreiben Sie bitte hier.«

Demiris unterschrieb die vorbereitete Empfangsbestätigung. Der Bote stellte einen großen Karton auf seinen Schreibtisch.»Danke, Herr Demiris.«

Constantin Demiris wartete, bis seine Sekretärin und der Bote den Raum verlassen hatten. Er betrachtete den Karton sekundenlang nachdenklich, bevor er ihn öffnete. Sein Inhalt bestand aus einem Tonbandgerät mit abspielbereit eingelegtem Band. Demiris drückte neugierig auf den Startknopf.

Napoleon Chotas' Stimme erfüllte den Raum.»Mein lieber Costa, alles wäre viel einfacher gewesen, wenn du geglaubt hättest, daß Frederick Stavros nicht die Absicht gehabt hat, unser kleines Geheimnis zu verraten. Noch bedauerlicher finde ich, daß du nicht geglaubt hast, daß ich diese unselige Geschichte für mich behalten würde. Ich habe allen Grund zu der Annahme, daß du den armen Stavros hast ermorden lassen — und daß nun ich an die Reihe kommen soll. Da mein Leben mir so kostbar ist wie dir deines, muß ich mich, bei allem Respekt, weigern, dein nächstes Opfer abzugeben… Vorsichtshalber habe ich alle Einzelheiten unserer Rollen, die du und ich im Verfahren gegen Noelle Page und Larry Douglas gespielt haben, schriftlich festgehalten und in einem versiegelten Umschlag bei der Staatsanwaltschaft hinterlegt. Dieser Umschlag wird nur geöffnet, falls ich tödlich verunglücke. Du siehst also, mein Freund, wie sehr es jetzt in deinem Interesse liegt, dass ich gesund und munter bleibe. «Die Aufnahme war zu Ende.

Constantin Demiris saß da und starrte ins Leere.

Als Napoleon Chotas an diesem Nachmittag in seine Kanzlei zurückkam, war die Angst von ihm abgefallen. Constantin Demiris war gefährlich, aber keineswegs dumm. Er würde es nicht wagen, jemanden beseitigen zu lassen, wenn er dadurch selbst in Gefahr geriet. Er hat angegriffen, dachte Chotas, und ich habe ihn mattgesetzt. Er lächelte vor sich hin. Zum Abendessen am Donnerstag werde ich mich anderswo einladen lassen müssen.

In den nächsten Tagen war Napoleon Chotas damit beschäftigt,

sich auf einen neuen Mordprozeß vorzubereiten — diesmal gegen eine Ehefrau, die die beiden Geliebten ihres Mannes erschossen hatte. Chotas stand wie gewohnt früh auf und arbeitete bis in die Nacht hinein, um seine Taktik für die Kreuzverhöre festzulegen. Sein Instinkt sagte ihm, daß er trotz der scheinbar hoffnungslosen Ausgangslage auch diesmal siegen würde.

Am Donnerstagabend arbeitete er bis nach Mitternacht in der Kanzlei, fuhr dann nach Hause und erreichte seine Villa gegen ein Uhr. Sein Butler empfing ihn an der Tür.»Soll ich Ihnen noch etwas bringen, Herr Chotas? Falls Sie hungrig sind, kann ich Ihnen Mezedes bringen oder…«

Danke, ich brauche nichts. Sie können zu Bett gehen.«

Napoleon Chotas ging in sein Schlafzimmer hinauf. Er lag noch eine ganze Weile wach, weil er über den bevorstehenden Prozeß nachdachte, und schlief erst kurz vor zwei Uhr ein. Dann begann er zu träumen.

Er war bei Gericht und befragte einen Zeugen, der plötzlich begann, sich die Kleider vom Leib zu reißen.

«Warum tun Sie das?«fragte Chotas.

«Weil ich verbrenne!«

Ein Blick in den überfüllten Saal zeigte Chotas, daß die Zuhörer sich ebenfalls auszogen.

Chotas wandte sich an den Richter.»Herr Vorsitzender, ich muß dagegen protestieren, daß… «

Auch der Richter war dabei, seine Robe auszuziehen.»Hier drinnen ist's zu heiß«, sagte er.

Hier ist's heiß. Und… laut.

Napoleon Chotas öffnete die Augen. An der Schlafzimmertür loderten Flammen empor, und der Raum war bereits völlig verqualmt.

Chotas setzte sich auf. Er war augenblicklich hellwach.

Das Haus brennt. Warum hat der Brandmelder nicht funktioniert!

Die Tür begann wegen der starken Hitze nachzugeben. Chotas stand auf und torkelte würgend und hustend ans Fenster. Er versuchte es zu öffnen, aber der Rahmen war so verzogen, daß das Fenster klemmte. Der Qualm wurde immer dichter, und Chotas rang nach Luft. Er sah sich verzweifelt nach einem Fluchtweg um.

Von der Zimmerdecke fielen glühende Holzstücke herab. Die

Wand zum Bad fiel zusammen, und lange Flammenzungen leckten nach ihm. Chotas begann zu schreien. Sein Haar und sein Schlafanzug brannten. Er warf sich mit aller Kraft gegen das Fenster und krachte durch die zersplitternde Scheibe. Sein wie eine Fackel brennender Körper schlug fünf Meter tiefer auf der Terrasse auf.

Sehr früh am nächsten Morgen wurde Staatsanwalt Peter Demonides von einem Dienstmädchen in Constantin Demiris' Bibliothek geführt.

«Kalimera, Peter«, sagte Demiris.»Danke, daß Sie gekommen sind. Haben Sie ihn mitgebracht?«

«Ja, Herr Demiris. «Er gab ihm den versiegelten Umschlag, den Napoleon Chotas bei ihm hinterlegt hatte.»Ich dachte, Sie würden ihn vielleicht lieber hier aufbewahren.«

«Das nenne ich aufmerksam, Peter. Darf ich Sie zum Frühstück einladen?«

«Efcharisto, sehr freundlich von Ihnen, Herr Demiris.«

«Costa. Nennen Sie mich Costa. Sie sind mir schon vor einiger Zeit aufgefallen, Peter. Ich glaube, daß Sie eine große Zukunft vor sich haben. Ich würde Ihnen gern eine passende Stellung innerhalb meines Unternehmens anbieten. Wären Sie daran interessiert?«

Peter Demonides lächelte.»Ja, Costa. Daran wäre ich sehr interessiert.«

«Gut! Ich schlage vor, daß wir uns beim Frühstück darüber unterhalten.«

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