30


Wenige Minuten vor 18 Uhr machten Evelyn Kaye und die übrigen Angestellten sich zum Gehen bereit.

Evelyn kam in Catherines Büro.»Im Criterion wird Miracle On 34th gegeben. Das Stück hat sehr gute Kritiken. Hättest du Lust, heute abend mit mir hinzugehen?«

«Ich kann leider nicht«, sagte Catherine.»Danke, Evelyn, aber ich habe Jerry Haley versprochen, mit ihm ins Theater zugehen.«

«Die drei halten dich wirklich auf Trab, was? Schön, dann amüsier dich gut.«

Catherine hörte, wie Türen geschlossen wurden und die Schritte der anderen verhallten. Dann herrschte Stille. Nach einem letzten prüfenden Blick auf ihren Schreibtisch schlüpfte sie in ihren Mantel, griff nach ihrer Handtasche und ging den Korridor hinunter.

Sie war schon fast am Ausgang, als ihr Telefon klingelte.

Catherine zögerte, sah auf ihre Uhr; sie würde sich verspäten.

Aber das Telefon klingelte weiter. Sie lief in ihr Büro zurück und nahm den Hörer ab.»Hallo?«

«Catherine!«sagte Alan Hamilton. Er schien außer Atem zu sein.»Gott sei Dank, daß ich dich noch erreicht habe!«

«Ist was nicht in Ordnung?«

«Du bist in Lebensgefahr! Ich glaube, daß jemand dich ermorden will!«

Sie stöhnte leise auf. Ihr schlimmster Alptraum schien plötzlich wahr zu werden. Ihr schwindelte.»Wer?«

«Das weiß ich nicht. Aber ich möchte, daß du bleibst, wo du bist. Bleib im Büro! Red mit keinem Menschen! Ich komme und hol' dich ab.«

«Alan, ich… «

«Keine Angst, ich bin schon unterwegs. Schließ dich ein! Ich komme, so schnell ich kann.«

Am anderen Ende wurde eingehängt.

Catherine legte langsam den Hörer auf.»O mein Gott!«

Atanas erschien an der Tür. Als er sah, wie blaß Catherine war, trat er rasch näher.»Ist was nicht in Ordnung, Miss Alexander?«

Sie drehte sich zu ihm um.»Jemand…jemand will mich umbringen.«

Er starrte sie erschrocken an.»Warum? Wer… wer könnte das tun wollen?«

«Das weiß ich nicht sicher.«

Sie hörten ein Klopfen an der Eingangstür.

Atanas sah Catherine fragend an.»Soll ich…?«

«Nein«, sagte sie rasch.»Laß niemanden rein. Doktor Hamilton ist hierher unterwegs.«

Das Klopfen wurde lauter, energischer.

«Sie könnten sich im Keller verstecken«, flüsterte Atanas.»Dort unten wären Sie sicher.«

Catherine nickte nervös.»Ja, das stimmt.«

Sie schlichen den Flur entlang zur Kellertür.»Wenn Doktor Hamilton kommt, sagst du ihm, wo ich bin.«

«Werden Sie dort unten auch keine Angst haben?«

«Nein«, antwortete Catherine.

Atanas machte Licht und ging auf der Kellertreppe voraus nach unten.

«Hier findet Sie kein Mensch«, versicherte er Catherine.»Haben Sie denn gar keinen Verdacht, wer Sie umbringen will?«

Sie dachte an Constantin Demiris und ihre Träume. et wild dich umbringen. Aber das war nur ein schlimmer Traum gewesen.»Nein, keinen bestimmten.«

Atanas sah sie an und flüsterte:»Ich weiß, wer der Mörder ist, glaub' ich.«

Catherine starrte ihn an.»Wer?«

«Ich, Catherine. «Er hielt plötzlich ein offenes Klappmesser in der Hand und drückte die Schneide an ihre Kehle.

«Laß das, Atanas! Dies ist nicht der richtige Augenblick für makabre… «

Sie spürte, wie er den Druck auf die Schneide verstärkte.

«Hast du mal Eine Verabredung in Samarra gelesen, Catherine? Nein! Nun, dafür ist es jetzt auch zu spät, nicht wahr? Die Geschichte handelt von einem Mann, der vor dem Tod flüchten wollte. Er ist nach Samarra geflohen, aber der Tod hat ihn dort erwartet. Dies ist dein Samarra, Catherine.«

Aus dem Mund dieses so unschuldig wirkenden Jungen klangen solche schrecklichen Worte obszön.

«Atanas, bitte! Du kannst kein…«

Er schlug ihr brutal ins Gesicht.»Ich kann kein Mörder sein, weil ich ein kleiner Junge bin? Habe ich dich nicht gut getäuscht? Das liegt daran, daß ich ein brillanter Schauspieler bin. In Wirklichkeit bin ich dreißig Jahre alt, Catherine. Weißt du, warum ich wie ein kleiner Junge aussehe? Weil ich in meiner Kindheit nie genug zu essen gekriegt habe. Ich habe von Abfällen gelebt, die ich mir nachts aus Mülltonnen holen mußte. «Er nahm das Messer keinen Millimeter von ihrer Kehle.»Als Siebenjähriger habe ich zusehen müssen, wie die Türken meine Mutter vergewaltigten und meinen Vater erstachen — und danach haben sie mich vergewaltigt und liegengelassen, weil sie mich tot glaubten.«

Er drängte Catherine rückwärts tiefer in den Keller hinein.

«Atanas, ich… ich habe dir nie etwas getan. Ich… «

Er lächelte sein jungenhaftes Lächeln.»Was ich tue, hat keine persönlichen Gründe. Dies ist eine geschäftliche Transaktion. Tot bringst du mir fünfzigtausend Dollar.«

Catherine sah alles wie durch einen roten Schleier. Ein Teil ihres Ichs schien ihren Körper verlassen zu haben und die Ereignisse von außen zu beobachten.

«Ich hatte einen wundervollen Plan für dich ausgearbeitet. Aber der Boß hat's jetzt eilig — deshalb müssen wir improvisieren, nicht wahr?«

Mit zwei, drei raschen Bewegungen schlitzte er ihr Kleid und Unterwäsche auf.

«Hübsch«, meinte er.»Sehr hübsch. Eigentlich wollte ich mich erst ein bißchen mit dir amüsieren, aber da dein Doktorfreund hierher unterwegs ist, bleibt uns keine Zeit dafür, stimmt's? Dein Pech, denn ich bin ein hervorragender Liebhaber!«

Catherine stand, nach Atem ringend und zu keiner Bewegung fähig, vor ihm.

Atanas griff in die Innentasche seiner Jacke und zog eine flache Halbliterflasche heraus. Sie enthielt eine bläßlichbernsteinfarbene Flüssigkeit.»Magst du Slivowitz? Komm, wir trinken auf deinen Unfall!«Als er das Messer dazu benutzte, die Flasche zu öffnen, spielte Cathrine einen Augenblick mit dem Gedanken, einen Fluchtversuch zu wagen.

«Tu's doch«, forderte Atanas sie halblaut auf.»Versuch's mal! Los!«

Catherine fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen.»Hör zu, ich… ich zahle dir, was du willst. Ich…«

«Gib dir keine Mühe. «Atanas nahm einen großen Schluck aus der Flasche und hielt sie dann Catherine hin.»Trink!«forderte er sie auf.

«Nein. Ich trinke keinen…«

«Trink!«

Catherine griff nach der Flasche und trank einen kleinen Schluck. Der Schnaps brannte wie Feuer in ihrer Kehle. Atanas nahm ihr die Flasche ab und setzte zu einem weiteren langen Zug an.

«Wer hat deinem Doktorfreund den Tip gegeben, daß du ermordet werden sollst?«

«Ich… das weiß ich nicht.«

«Ist auch unwichtig. «Atanas deutete auf einen der massiven Balken, mit denen die Kellerdecke abgestutzt war.»Stell dich dort drüben hin.«

Catherine sah zur Kellertreppe hinüber. Dann spürte sie, wie die Messerspitze sich in ihren Nacken bohrte.»Soll ich nachhelfen?«

Catherine trat an den Stützbalken.

«Braves Mädchen«, sagte Atanas.»Setz dich hin. «Er wandte sich kurz ab. In diesem Augenblick rannte Catherine los.

Ihr Puls jagte, während sie zur Kellertreppe hastete. Sie wußte, daß sie um ihr Leben lief. Sie erreiche die unterste Stufe, aber als sie den Fuß heben wollte, griff eine Hand nach ihrem Knöchel und riß sie zurück. Er war unglaublich stark.

«Schlampe!«

Er packte sie an den Haaren und riß ihr Gesicht zu sich heran.»Versuch das nicht noch mal, sonst brech' ich dir die Beine!«

Catherine spürte die Messerspitze zwischen ihren Schulterblättern.

«Los, beweg dich!«

Atanas zwang sie, vor ihm her zu dem Stützbalken zu gehen, und stieß sie dort zu Boden.

«Du rührst dich nicht von der Stelle, kapiert?«

Catherine beobachtete, wie er an einen Stapel Kartons trat, die mit kräftigen Stricken verschnürt waren. Er schnitt zwei lange Schnüre ab und kam damit zurück.

«Halt die Hände hinter den Balken.«

«Nein, Atanas, ich…«

Seine Faust traf ihren Wangenknochen, und der Kellerraum verschwamm für Sekunden vor ihren Augen. Atanas beugte sich über sie und fauchte:»Sag nie wieder nein zu mir. Tu, was ich dir sage, sonst schneid' ich dir den verdammten Kopf ab!«

Catherine hielt ihre Hände hinter den Stützbalken und fühlte im nächsten Augenblick, wie die Schnur in ihre Handgelenke schnitt, als Atanas sie fesselte.

«Bitte!«sagte sie.»Das ist zu fest.«

«Nein, es ist genau richtig«, versicherte er ihr grinsend. Mit der zweiten Schnur band er ihre Beine an den Knöcheln zusammen. Dann erhob er sich.»Fertig!«sagte er.»Sauber und ordentlich. «Er nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche.»Noch einen Drink?«

Catherine schüttelte den Kopf.

Er zuckte die Achseln.»Auch recht.«

Sie beobachtete, wie er die Flasche erneut an die Lippen setzte. Vielleicht betrinkt er sich und schläft ein, dachte Catherine verzweifelt.

«Früher hab' ich jeden Tag einen Liter getrunken«, prahlte Atanas. Er legte die leere Schnapsflasche auf den Boden.»So, jetzt an die Arbeit!«

«Was… was hast du vor?«

«Ich werde einen kleinen Unfall produzieren. Das wird mein Meisterstück. Vielleicht muß mir Demiris dafür sogar das doppelte Honorar zahlen.«

Demiris! Dann hat mein Traum also doch einen realen Hintergrund gehabt. Er will mich ermorden lassen. Aber weshalb?

Catherine sah Atanas zu, wie er quer durch den Raum auf den riesigen Heizkessel zuging. Er öffnete die Kesseltür und begutachtete die kleine Dauerflamme und die acht Gasbrenner, die den Kessel beheizten. Das Sicherheitsventil war durch einen Drahtkäfig geschützt. Atanas klemmte einen Holzsplitter, den er von dem Stützbalken abgeschnitten hatte, so in den Käfig, daß das Sicherheitsventil nicht mehr funktionieren konnte. Der Kesselthermostat stand auf 65 °C. Während Catherine ihn hilflos beobachtete, stellte Atanas die höchste Temperatur ein und kam befriedigt zu ihr zurück.

«Weißt du noch, was für Schwierigkeiten wir immer mit diesem Kessel gehabt haben?«fragte Atanas.»Nun, ich fürchte, daß er jetzt doch explodieren wird. «Er trat näher an Catherine heran.»Spätestens bei zweihundert Grad geht das Ding hoch. Weißt du, was dann passiert? Die Gasleitung platzt — und die Brenner setzen das ausströmende Gas in Brand. Dann explodiert das ganze Gebäude wie eine Bombe.«

«Du bist wahnsinnig! Du willst unschuldige Menschen…«

«Unschuldige Menschen gibt es nicht. Ihr Amerikaner glaubt immer, Happy-Ends seien unvermeidlich. Ihr seid Dummköpfe. Es gibt keine Happy-Ends. «Er bückte sich und kontrollierte die Schnur, mit der Catherines Hände an den Balken gefesselt waren. Ihre Handgelenke waren blutig aufgeschürft. Die Schnur schnitt ins Fleisch ein, und die Knoten saßen fest.

Atanas ließ seine Hände langsam und liebkosend über Catherines nackte Brüste gleiten; dann beugte er sich vor und küßte sie.»Schade, daß wir nicht mehr Zeit haben. Leider wirst du nie erfahren, was du verpaßt hast. «Er packte sie an den Haaren und küßte sie auf den Mund. Sein Atem roch stark nach Schnaps.»Adieu, Catherine«, sagte er und richtete sich auf.

«Geh nicht weg!«bat Catherine.»Wir können doch darüber reden und… «

«Ich darf mein Flugzeug nicht verpassen. Ich fliege nach Athen zurück. «Sie beobachtete, wie er sich in Richtung Treppe entfernte.»Ich lasse das Licht an, damit du siehst, wie's passiert.«

Im nächsten Augenblick hörte Catherine, wie die massive Kellertür zugeknallt und von außen verriegelt wurde. Danach blieb es still. Sie war allein.

Catherine sah zum Kesselthermometer hinüber. Seine Quecksilbersäule bewegte sich sichtbar. Die Temperatur stieg jetzt von 70 °C auf 80 °C und kletterte weiter. Sie bemühte sich verzweifelt, die Hände freizubekommen, aber je mehr sie an ihren Fesseln zerrte, desto fester wurden die Knoten. Sie sah erneut auf. Die Säule hatte jetzt 85 °C erreicht und bewegte sich weiter.

Alan Hamilton raste wie ein Wahnsinniger über die Wimpole Street, schoß von einer Fahrspur in die andere, um schneller voranzukommen, und ignorierte das wütende Hupen erboster Autofahrer. Er bog auf den Portland Place ab und fuhr in Richtung Regent Street weiter. Dort war der Verkehr dichter, so daß er nur langsam vorwärts kam.

Im Keller des Gebäudes 217 Bond Street zeigte das Thermometer 100 °C an. Der ganze Raum begann sich aufzuheizen.

Der Verkehr stand beinahe. Die Menschen waren nach Hause, zum Abendessen, ins Theater unterwegs. Alan Hamilton saß frustriert am Steuer seines Wagens. Hätte ich die Polizei einschalten sollen? Aber was hätte das genützt? Eine neurotische Patientin behauptet, irgend jemand trachte ihr nach dem Leben. Die Polizei hätte mich ausgelacht. Nein, ich muß sie dort selbst rausholen. Der Verkehr rollte stockend weiter.

Im Keller bewegte sich die Säule auf 150 °C zu. Es war jetzt unerträglich heiß. Catherine versuchte erneut, sich zu befreien. Ihre Handgelenke bluteten, aber die Schnur hielt.

Beim Einbiegen in die New Bond Street raste Alan über einen Fußgängerübergang und hätte um ein Haar zwei alte Damen über den Haufen gefahren. Hinter sich hörte er das schrille Signal einer Polizeipfeife. Einen Augenblick lang war er versucht, zu halten und den Uniformierten um Hilfe zu bitten. Aber es blieb keine Zeit für lange Erklärungen. Er fuhr weiter.

In der Regent Street fuhr ein riesiger Lastwagen in eine Kreuzung ein und blockierte die ganze Straße. Alan Hamilton hupte ungeduldig, kurbelte sein Fenster herunter und rief:»Los, fahren Sie weiter! Machen Sie schon!«

Der Lastwagenfahrer grinste phlegmatisch.»Was 'n los, Kumpel? Wo brennt's denn?«

Im Kreuzungsbereich stauten sich jetzt Dutzende von Fahrzeugen. Als der Verkehr endlich wieder in Gang kam, raste Alan Hamilton in Richtung Bond Street weiter. Für einen Weg von zehn Minuten hatte er fast eine halbe Stunde gebraucht.

Im Keller war die Temperatursäule auf 200 °C gestiegen.

Endlich! Das Bürogebäude! Alan Hamilton hielt auf der gegenüberliegenden Straßenseite mit kreischenden Bremsen. Er sprang aus dem Wagen und wollte eben die Straße überqueren, als er entsetzt stehenblieb. Der Boden unter seinen Füßen erzitterte, als das Gebäude wie eine riesige Bombe explodierte und die Luft mit Flammen und Trümmern erfüllte.

Und mit Tod.

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