19


Constantin Demiris rief an.»Guten Morgen, Catherine. Wie fühlst du dich heute?«

«Gut, vielen Dank, Costa.«

«Es geht dir besser?«

«Ja.«

«Wunderbar! Das freut mich. Ich schicke eine Gruppe von

Führungskräften nach London, damit sie euren Betrieb kennenlernen. Ich wäre dir dankbar, wenn du sie bei der Hand nehmen und dich ein bißchen um sie kümmern würdest.«

«Gern, Costa. Wann kommen sie denn?«

«Morgen früh.«

«Ich tue, was in meinen Kräften steht.«

«Ich weiß, daß auf dich Verlaß ist. Danke, Catherine.«

«Nichts zu danken, Costa.«

Lebwohl, Catherine.

Die Verbindung wurde unterbrochen.

Das wäre geschafft! Constantin Demiris lehnte sich nachdenklich in seinen Sessel zurück. Sobald Catherine Alexander zum Schweigen gebracht war, hatte er nichts mehr zu befürchten. Jetzt konnte er sich ganz auf seine Frau und seinen Schwager konzentrieren.

«Wir werden heute abend Gäste haben. Einige leitende Angestellte aus der Firma. Ich möchte, daß du als Gastgeberin dabei bist.«

Ihr letzter Auftritt als Dame des Hauses lag schon lange zurück.

Melina war aufgeregt und in Hochstimmung. Vielleicht ist das die Wende zum Besseren.

Das Abendessen mit Gästen veränderte nichts. Drei Männer kamen, aßen und gingen wieder. Der Abend verging wie im Traum.

Melina lernte die Männer flüchtig kennen und saß dann dabei, während ihr Mann sie mit seinem Charme bezauberte. Sie hatte beinahe vergessen, wie charmant Costa sein konnte. Er erzählte Anekdoten und verteilte Komplimente, die seinen Besuchern schmeichelten. Sie befanden sich in Gegenwart eines großen Mannes und zeigten, daß sie sich dessen bewußt waren. Melina kam nicht zu Wort. Sobald sie etwas zu sagen versuchte, unterbrach Costa sie, bis sie schließlich schweigend dasaß.

Wozu hat er mich dabei haben wollen? fragte Melina sich.

Als die Gäste endlich aufbrachen, sagte Demiris:»Sie fliegen gleich morgen früh nach London. Ich bin sicher, daß Sie dort alles Notwendige veranlassen werden.«

Und dann waren sie verschwunden.

Am nächsten Morgen traf die Gruppe in London ein. Sie bestand aus drei Männern unterschiedlicher Nationalität.

Jerry Haley, der Amerikaner, war ein muskelbepackter Hüne mit freundlichem, offenem Gesicht und schiefergrauen Augen. Er hatte die größten Hände, die Catherine jemals gesehen hatte. Sie fand sie geradezu faszinierend. Seine Hände schienen ein Eigenleben zu führen: Sie waren ständig in Bewegung und drehten und wendeten sich, als seien sie begierig, etwas zu tun zu bekommen.

Der kleine, dickliche Franzose Yves Renard war das genaue Gegenteil. Er hatte ein verkniffenes Gesicht mit eiskalten, stechenden Augen, die Catherine zu durchbohren schienen. Dabei wirkte er zurückhaltend, fast abweisend. Argwöhnisch war das Wort, das Catherine bei ihm einfiel. Aber argwöhnisch wogegen? fragte sie sich.

Der dritte in der Gruppe war Dino Mattusi, ein liebenswürdiger Italiener, der aus allen Poren Charme verströmte.

«Mr. Demiris hält sehr viel von Ihnen«, erklärte er Catherine.

«Das ist sehr schmeichelhaft.«

«Er hat gesagt, daß Sie uns in London betreuen werden. Sehen Sie mal, ich habe Ihnen ein kleines Geschenk mitgebracht. «Er überreichte Catherine eine hübsch verpackte Schachtel mit einem eleganten Seidentuch von Hermes.

«Danke, Mr. Mattusi«, sagte Catherine.»Das ist sehr aufmerksam von Ihnen. «Sie nickte den anderen zu.»Soll ich Ihnen als erstes Ihre Büros zeigen?«

Ein lautes Poltern hinter ihnen ließ sie zusammenzucken. Alle drehten sich um. Ein schmächtiger Junge stand da, der erschrocken ein Paket anstarrte, das ihm aus der Hand gefallen war. Er trug drei Koffer gleichzeitig. Er schien ungefähr fünfzehn zu sein und für sein Alter klein. Er hatte lockiges braunes Haar und auffällig helle grüne Augen.

«Verdammt noch mal!«knurrte Renard.»Sei doch vorsichtig mit unseren Sachen!«

«Entschuldigung«, sagte der Junge nervös.»Wohin soll ich die Koffer tun?«

«Stell sie irgendwohin«, fuhr Renard ihn an.»Wir nehmen sie später mit.«

Catherine betrachtete den ihr unbekannten Jungen fragend.»Als er gehört hat, daß wir einen neuen Büroboten brauchen, hat er seine Stellung als Bürobote in Athen aufgegeben«, erklärte Evelyn ihr.

«Wie heißt du?«fragte Catherine ihn.

«Atanas Stavitsch, Ma'am. «Er war den Tränen nahe.

«Gut, Atanas, du kannst die Koffer vorläufig in die Garderobe stellen. Ich lasse sie später abholen.«

«Danke, Ma'am«, sagte der Junge dankbar.

Catherine wandte sich wieder den drei Männern zu.»Mr. Demiris hat mir mitgeteilt, daß Sie unsere Arbeit begutachten wollen. Ich werde Ihnen helfen, wo ich kann. Sollten Sie irgend etwas brauchen, wenden Sie sich bitte an mich. Wenn Sie jetzt bitte mitkommen wollen, Gentlemen. Ich möchte Sie mit Wim Vandeen und den übrigen Mitarbeitern bekannt machen. «Sie ging den Korridor entlang voraus zu Wims Büro.

«Wim, dies ist die Delegation, die uns Mr. Demiris angekündigt hat. Yves Renard… Dino Mattusi… Jerry Haley. Die drei sind eben aus Griechenland angekommen.«

Wim funkelte sie an.»Griechenland hat nur siebenmillionensechshundertdreißigtausend Einwohner. «Die Männer wechselten erstaunte Blicke.

Catherine lächelte in sich hinein. Genauso hatte sie reagiert, als sie Wim kennengelernt hatte.

«Ich habe Ihre Büros vorbereiten lassen«, erklärte sie den Männern.»Wenn Sie mir bitte folgen wollen.«

«Was zur Hölle war das denn?«fragte Jerry Haley, als die Bürotür sich hinter ihnen geschlossen hatte.»Dabei hab' ich gehört, daß er hier ein wichtiger Mann sein soll.«

«Das ist er auch«, versicherte Catherine ihm.»Wim überwacht die Finanzen der einzelnen Abteilungen.«

«Den würd' ich nicht mal auf meine Katze aufpassen lassen!«

«Wenn Sie ihn erst mal besser kennen

«Danke, kein Bedarf«, ließ sich der Franzose vernehmen.

«Ihre Hotelzimmer sind wie gewünscht reserviert worden«, erklärte Catherine den drei Männern.»Es stimmt doch, daß Sie alle in verschiedenen Hotels untergebracht werden möchten?«

«Richtig«, bestätigte Mattusi.

Catherine lag eine Bemerkung auf der Zunge, aber sie hielt dann doch lieber den Mund. Weshalb die drei verschiedene Hotels wollten, ging sie nichts an.

Er beobachtete Catherine und dachte: Sie ist viel hübscher, als ich erwartet habe. Das macht alles interessanter. Und sie hat Schmerz erlitten. Das kann ich in ihrem Blick lesen. Ich werde sie lehren, wie exquisit Schmerz sein kann. Wir werden ihn miteinander genießen. Und wenn ich mit ihr fertig bin, schicke ich sie dorthin, wo 's keinen Schmerz mehr gibt. Dann heißt es Himmel oder Hölle für sie. Das wird Spaß machen. Es wird großen Spaß machen.

Catherine zeigte den drei Männern ihre Büros. Als sie nicht mehr benötigt wurde, wollte sie an ihren eigenen Schreibtisch zurückkehren. Auf dem Korridor hörte sie, wie der Franzose den Jungen anbrüllte.

«Das ist die falsche Aktentasche, Dummkopf! Mir gehört die braune. Meine ist braun! Verstehst du kein Englisch?«

«Doch, Sir. Tut mir leid, Sir. «Seine Stimme klang ängstlich.

Ich muß seinetwegen irgendwas unternehmen, dachte Catherine.

Evelyn Kaye sprach Catherine an.»Falls ich dir bei der Betreuung der Leute helfen kann, brauchst du's mir nur zu sagen.«

«Danke, Evelyn. Ich melde mich, wenn ich Hilfe brauche.«

Einige Minuten später ging Atanas Stavitsch an Catherines Büro vorbei. Sie rief ihm zu:»Kommst du bitte einen Augenblick zu mir herein?«

Der Junge starrte sie ängstlich an.»Ja, Ma'am. «Er trat zögernd ein, als fürchte er, ausgepeitscht zu werden.

«Mach bitte die Tür zu.«

«Ja, Ma'am.«

«Setz dich, Atanas. Du heißt doch Atanas, stimmt's?«

«Ja, Ma'am.«

Sie bemühte sich, ihm seine Angst zu nehmen, aber das gelang ihr nicht.»Hier gibt's nichts, wovor du dich fürchten müßtest.«

«Nein, Ma'am.«

Catherine saß dem Jungen gegenüber, musterte ihn und fragte sich, was für schreckliche Erlebnisse ihn so ängstlich gemacht haben konnten. Sie kam zu dem Schluß, daß sie mehr über seine Vergangenheit würde in Erfahrung bringen müssen.

«Atanas, ich möchte, daß du zu mir kommst, falls dir hier jemand Schwierigkeiten macht oder dich schlecht behandelt. Hast du verstanden?«

Er schluckte nervös.»Ja, Ma'am.«

Aber sie fragte sich, ob er den Mut aufbringen würde, damit zu ihr zu kommen. Irgend jemand hatte ihm irgendwann das Rückgrat gebrochen.

«Wir werden darüber später noch mal miteinander reden«, entschied Catherine.

Die Kurzbiographien der drei Delegationsmitglieder zeigten, daß sie in unterschiedlichen Bereichen von Constantin Demiris' weitgespanntem Imperium tätig waren, so daß sie es alle aus eigener Anschauung kannten. Die größten Rätsel gab Catherine der liebenswürdige Italiener Dino Mattusi auf. Er bombardierte sie mit Fragen, deren Antworten er eigentlich hätte kennen müssen, und er schien sich nicht sonderlich für den Geschäftsablauf in London zu interessieren. Tatsächlich interessierte ihn die Firma weniger als Catherines Privatleben.»Sind Sie verheiratet?«fragte Mattusi.

«Nein.«

«Aber Sie sind verheiratet gewesen?«

«Ja.«

«Geschieden?«

Sie wollte dieses Thema beenden.»Ich bin verwitwet.«

Mattusi grinste sie an.»Aber ich möchte wetten, daß Sie einen Freund haben. Sie wissen, was ich meine?«

«Ich weiß, was Sie meinen«, sagte Catherine steif. Und es geht dich nichts an.»Sind Sie verheiratet?«

«Si, si. Ich habe eine Frau und vier wunderschöne Bambini. Alle fünf vermissen mich sehr, wenn ich nicht zu Hause bin.«

«Sie reisen wohl viel, Mr. Mattusi?«

Er wirkte gekränkt.»Dino, Dino. Mr. Mattusi ist mein Vater. Ja, ich bin ziemlich viel auf Reisen. «Er lächelte Catherine an und senkte die Stimme.»Aber manchmal bringt das Reisen auch zusätzliche Vergnügungen. Sie verstehen, was ich meine?«

Catherine erwiderte sein Lächeln.»Nein.«

An diesem Tag verließ Catherine um 12.30 Uhr das Büro, um zu Dr. Hamilton zu fahren. Zu ihrer Überraschung freute sie sich darauf, ihn wiederzusehen. Sie erinnerte sich daran, wie verwirrt sie bei ihrem ersten Besuch gewesen war. Diesmal empfand sie eine gewisse Vorfreude, als sie die Praxis betrat. Die Sprechstundenhilfe war zum Lunch gegangen, und die Tür des Behandlungszimmers stand offen. Alan Hamilton erwartete Catherine.

«Kommen Sie bitte herein«, begrüßte er sie. Mit einer Handbewegung bot er ihr einen Sessel an.

«Nun, haben Sie eine gute Woche gehabt?«

Ist die Woche gut gewesen? Nicht wirklich. Sie war außerstande gewesen, die Gedanken an Kirk Reynolds' Tod aus ihrem Kopf zu verbannen.»So einigermaßen. Ich… ich arbeite ziemlich viel.«

«Das hilft oft. Wie lange arbeiten Sie schon für Constantin Demiris?«

«Vier Monate.«

«Macht Ihnen die Arbeit Spaß?«

«Sie lenkt mich von… von bestimmten Dingen ab. Ich bin Mr. Demiris sehr zu Dank verpflichtet. Ich kann Ihnen nicht sagen, wieviel er für mich getan hat. «Catherine lächelte verlegen.»Aber ich werd's wohl noch tun, nicht wahr?«

Alan Hamilton schüttelte den Kopf.»Sie erzählen mir nur, was Sie mir erzählen wollen.«

Es entstand eine Pause, bis Catherine weitersprach.»Mein Mann hat früher für Mr. Demiris gearbeitet. Er war sein Pilot. Ich…ich habe einen Bootsunfall gehabt und dabei das Gedächtnis verloren. Als es dann zurückkam, hat Mr. Demiris mir diese Stellung angeboten.«

Ich lasse die Angst und die Schmerzen aus. Weil ich mich schäme, ihm zu erzählen, daß mein Mann mich zu ermorden versucht hat? Fürchte ich etwa, er könnte mich dann für weniger attraktiv halten?

«Keinem von uns fällt es leicht, über seine Vergangenheit zu sprechen.«

Catherine sah ihn schweigend an.

«Sie hatten Ihr Gedächtnis verloren, sagen Sie?«

«Ja.«

«Und Sie sind mit einem Boot verunglückt?«

«Ja. «Catherines Lippen wurden steif, als sei sie fest entschlossen, Hamilton möglichst wenig zu erzählen. Ein schrecklicher innerer Konflikt drohte sie zu zerreißen. Sie wollte ihm alles erzählen und sich von ihm helfen lassen. Sie wollte ihm nichts erzählen und in Ruhe gelassen werden.

Alan Hamilton betrachtete sie nachdenklich.»Sind Sie geschieden?«

Durch die Salve eines Erschießungskommandos.»Er ist… Mein Mann ist gestorben.«

«Miss Alexander…«Er zögerte.»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Sie Catherine nenne?«

«Nein.«

«Ich heiße Alan. Catherine, wovor haben Sie Angst?«

Sie erstarrte.»Wie kommen Sie darauf, daß ich Angst habe?«

«Haben Sie denn keine?«

«Nein. «Diesmal war die Pause länger.

Catherine fürchtete sich davor, ihren Verdacht auszusprechen; sie fürchtete sich davor, die Realität ans Tageslicht zu bringen.»Die Menschen um mich herum… scheinen zu sterben.«

Falls Hamilton verblüfft war, ließ er es sich nicht anmerken.»Und Sie glauben, an ihrem Tod schuld zu sein?«

«Ja. Nein. Ich weiß es nicht. Ich bin… ganz durcheinander.«

«Wir fühlen uns oft für Schicksalsschläge verantwortlich, die andere Menschen treffen. Lassen die Eltern sich scheiden, glauben die Kinder, es sei ihre Schuld. Stirbt ein Mensch, den man zum Teufel gewünscht hat, glaubt man sich für seinen Tod verantwortlich. Solche Überzeugungen sind keineswegs ungewöhnlich. Sie… «

«Bei mir steckt mehr dahinter.«

«Wirklich?«Seine abwartende Haltung zeigte, daß er bereit war, ihr zuzuhören.

Ein Wortschwall brach aus ihr heraus.»Mein Mann ist hingerichtet worden — und sein… seine Geliebte auch. Ihre beiden Verteidiger sind ebenfalls umgekommen. Und jetzt…«Ihre Stimme brach.

«Kirk.«

«Und Sie halten sich für alle diese Todesfälle verantwortlich. Das ist eine schreckliche Belastung, nicht wahr?«

«Ich… ich habe das Gefühl, eine Art Unglücksbringerin zu sein. Ich fürchte mich vor einer neuen Beziehung. Ich glaube nicht, daß ich's ertragen könnte, wenn auch er…«

«Catherine, wissen Sie, für wessen Leben Sie verantwortlich sind? Für Ihr eigenes — und sonst keines! Das Leben und Sterben anderer können Sie unmöglich beeinflussen. Sie sind schuldlos. Mit diesen Todesfällen haben Sie nicht das geringste zu schaffen. Das müssen Sie begreifen.«

Sie sind schuldlos. Mit diesen Todesfällen haben Sie nicht das geringste zu schaffen. Catherine saß da und dachte über seine Worte nach. Sie wünschte sich verzweifelt, daran glauben zu können. Der Tod dieser Menschen war auf deren eigenes Verhalten zurückzuführen. Und Kirk war durch einen tragischen Unfall umgekommen.

Alan Hamilton beobachtete sie schweigend. Er ist ein anständiger Kerl, dachte Catherine, als sie aufblickte. Ein weiterer Gedanke drängte sich ihr auf: Ich wollte, ich hätte ihn schon früher kennengelernt.

«Danke«, sagte Catherine.»Ich…ich will versuchen, das zu glauben. An diese Idee muß ich mich erst gewöhnen.«

Alan Hamilton lächelte.»Vielleicht können wir uns gemeinsam daran gewöhnen. Kommen Sie wieder?«

«Wie bitte?«

«Dies ist ein Probelauf gewesen, oder? Sie wollten danach entscheiden, ob Sie weitermachen wollen.«

Catherine zögerte keine Sekunde lang.»Ja, ich komme wieder, Alan.«

Als sie gegangen war, saß Alan Hamilton an seinem Schreibtisch und dachte über sie nach.

Im Laufe der Jahre hatte er viele attraktive Patientinnen behandelt, von denen einige ihm mehr oder weniger deutlich Avancen gemacht hatten. Aber er war ein zu guter Psychiater, um sich in Versuchung führen zu lassen. Eine persönliche Beziehung zu einer Patientin wäre Verrat an seinem Beruf gewesen.

Dr. Alan Hamilton stammte aus einer Arztfamilie. Schon sein Vater war Chirurg gewesen, sein Großvater berühmter Kardiologe. Alan hatte am King's College studiert und nach seiner Promotion die Facharztausbildung für Chirurgie begonnen. Dann war der Zweite Weltkrieg ausgebrochen.

Alan Hamilton hatte sich freiwillig gemeldet und arbeitete als Chirurg. Er operierte Tag und Nacht mit wenigen Pausen und kam manchmal bis zu sechzig Stunden nicht zum Schlafen. Als das Notlazarett, in dem er arbeitete, ausgebombt wurde, verlegte er seine Patienten in ein ehemaliges Lagerhaus.

Im Oktober 1940, als die deutschen Luftangriffe ihren Höhepunkt erreichten, heulten wieder einmal die Luftschutzsirenen, und die Zivilbevölkerung machte sich daran, in die unterirdischen Schutzräume zu flüchten. Alan Hamilton, der gerade operierte, weigerte sich, seinen Patienten im Stich zu lassen. Die Bombenteppiche kamen näher. Ein Kollege Hamiltons drängte:»Los, los, wir müssen in den Keller!«

«Nur noch zwei Minuten. «Er war dabei, dem Patienten einen Granatsplitter aus dem Oberschenkel zu entfernen.

«Alan!«

Aber er blieb an seinem Platz und konzentrierte sich so sehr auf die Operation, daß er die in naher Umgebung detonierenden Bomben kaum wahrnahm. Und die eine, die das Lagerhaus traf, hörte er nicht einmal.

Hamilton lag sechs Tage lang im Koma, und als er daraus erwachte, erfuhr er, daß er nicht nur innere Verletzungen erlitten hatte, sondern auch einen komplizierten Bruch der rechten Hand. Der Bruch war gerichtet worden und geheilt, so daß die Hand wieder normal aussah, aber Hamilton würde nie mehr operieren können.

Er brauchte fast ein fahr, um über das Trauma hinwegzukommen, daß seine berufliche Zukunft zerstört war. Er war bei einem Psychiater in Behandlung, der ihm eines Tages resolut erklärte:»Hör zu, es wird allmählich Zeit, daß du aufhörst, dich in Selbstmitleid zu ergehen, und dein Leben weiterlebst.«

«Und was soll ich beruflich tun?«fragte Hamilton verbittert.

«Was du bisher getan hast — nur auf andere Weise.«

«Das verstehe ich nicht.«

«Du bist ein Heiler, Alan. Bisher hast du menschliche Körper geheilt. Nun, das kannst du nicht mehr. Aber es ist ebenso wichtig, menschliche Seelen zu heilen. Du würdest einen guten Psychiater abgeben. Du bist intelligent und besitzt Einfühlungsvermögen. Denk mal darüber nach.«

Es sollte sich als eine der glücklichsten Entscheidungen seines Lebens erweisen. Alan Hamilton hatte viel Freude an seiner Tätigkeit. In gewisser Beziehung war es sogar befriedigender, in tiefer Verzweiflung lebenden Patienten wieder zu innerer Ruhe zu verhelfen, als sich um ihr körperliches Wohlergehen zu kümmern.

Hamilton machte sich rasch einen Ruf als ausgezeichneter Psychiater; in den letzten drei Jahren hatte er bereits häufig neue Patienten abweisen müssen. Mit Catherine Alexander hatte er nur sprechen wollen, um ihr einen Kollegen zu empfehlen. Aber irgend etwas an ihr hatte ihn angerührt. Ich muß ihr helfen.

Als Catherine von ihrem Termin bei Alan Hamilton ins Büro zurückkam, schaute sie bei Wim vorbei.

«Ich bin heute bei Doktor Hamilton gewesen«, erklärte sie ihm.

«Oh? Die psychologische Bewertungsskala für persönliche Krisensituationen zeigt folgende Rangfolge: Tod des Ehepartners hundert Punkte, Scheidung dreiundsiebzig, Trennung vom Ehepartner fünfundsechzig, Strafhaft dreiundsechzig, Tod eines nahen Angehörigen dreiundsechzig, eigene Krankheit oder Verletzung dreiundfünfzig, Eheschließung fünfzig, Kündigung durch den Arbeitgeber siebenundvierzig.

Catherine hörte ihm sprachlos zu. Wie muß es sein, alles nur statistisch sehen zu können? Niemals einen anderen als menschliches Wesen begreifen, niemals einen wirklichen Freund haben zu können? Mir kommt's vor, als hätte ich einen neuen Freund gewonnen, dachte Catherine.

Wie lange er wohl schon verheiratet ist?

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