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Eine Theorie besagt, daß in der Natur niemals etwas verlorengeht — daß jeder jemals erzeugte Ton, jedes jemals gesprochene Wort noch irgendwo in Raum und Zeit existieren und möglicherweise eines Tages zurückgeholt werden können.

Wer hätte vor der Erfindung des Radios geglaubt, sagen die

Verfechter dieser Theorie, daß die Atmosphäre um uns herum voller Musik und Nachrichten und Stimmen aus aller Welt ist Eines Tages werden wir in die Vergangenheit zurückreisen und alles hören können: Lincolns Gettysburger Ansprache, die Stimme

Shakespeares, die Bergpredigt…

Catherine Alexander hörte Stimmen aus ihrer Vergangenheit — aber sie waren undeutlich und bruchstückhaft und verwirrten sie nur noch mehr…

«Weißt du, daß du eine ganz besondere Frau bist, Cathy? Ich habe es auf den ersten Blick gemerkt

«Es ist aus, ich liebe eine andere. Ich lasse mich scheiden…«

«Ich weiß, wie gemein ich zu dir gewesen bin. Ich will alles wiedergutmachen

«Er hat versucht, mich umzubringen» Wer hat versucht, Sie umzubringen?«»Mein Mann!«

Die Stimmen wollten nicht verstummen. Sie waren eine Qual. Ihre Vergangenheit wurde zu einem Kaleidoskop aus wechselnden Bildern, die durch ihren Kopf huschten.

Das Kloster, das ihr ein wunderbar friedvoller Zufluchtsort hätte sein sollen, war plötzlich zu einem Gefängnis geworden. Ich gehöre nicht hierher. Aber wohin gehöre ich? Sie wußte es nicht.

Im Kloster gab es keinen Spiegel, aber in einem Teich im Garten spiegelte sich der Himmel. Catherine hatte ihn bisher bewußt gemieden, weil sie sich davor fürchtete, was er ihr zeigen würde. Aber an diesem Morgen ging sie zum Teich, kniete langsam nieder und betrachtete ihr Spiegelbild.

Die glatte Wasserfläche zeigte ihr eine höchst attraktive Frau mit schwarzem Haar, sonnengebräuntem Teint, ebenmäßigen Zügen und ernsten grauen Augen, die todtraurig wirkten — aber das konnte auch ein Trick des Wassers sein. Sie sah volle, zum Lächeln bereite Lippen und die leichte Stupsnase einer schönen Frau von Anfang Dreißig — einer Frau ohne Vergangenheit und ohne Zukunft, einer Frau ohne Gedächtnis. Ich brauche jemanden, der mir hilft, dachte Catherine verzweifelt, jemanden, mit dem ich reden kann. Sie betrat Mutter Theresas Arbeitszimmer.

«Ehrwürdige Mutter… «

«Ja, mein Kind?«

«Ich… möchte mich von einem Arzt behandeln lassen. Von jemandem, der mir helfen kann, zu mir selbst zurückzufinden.«

Die Oberin bedachte sie mit einem langen Blick.»Setzen Sie sich. «Catherine nahm auf dem Holzstuhl vor dem alten, verschrammten Schreibtisch Platz.

«Gott ist Ihr Arzt, meine Liebe«, stellte Mutter Theresa ruhig fest.»Er wird Sie beizeiten erfahren lassen, was Sie wissen sollen. Außerdem darf kein Fremder unser Kloster betreten.«

Catherine fiel plötzlich etwas ein… eine vage Erinnerung an einen Mann, der im Klostergarten mit ihr sprach, ihr irgend etwas gab… Aber das Bild verschwand so rasch, wie es gekommen war.

«Ich gehöre nicht hierher.«

«Wohin gehören Sie dann?«

Genau das war das Problem.»Das weiß ich nicht. Ich suche irgend etwas. Verzeihen Sie, Ehrwürdige Mutter, aber ich weiß, daß ich es hier nicht finden werde.«

Mutter Theresa beobachtete sie mit nachdenklicher Miene.»Ich verstehe. Wohin würden Sie von hier aus gehen?«

«Auch das weiß ich nicht.«

«Lassen Sie mich darüber nachdenken, mein Kind. Wir sprechen bald wieder darüber.«

«Danke, Ehrwürdige Mutter.«

Nachdem Catherine gegangen war, saß Mutter Theresa lange an ihrem Schreibtisch und starrte ins Leere. Sie hatte eine sehr schwere Entscheidung zu treffen. Zuletzt griff sie nach einem Briefbogen, schraubte ihren Füllfederhalter auf und begann zu schreiben.

«Sehr geehrter Herr«, schrieb sie,»hier ist eine Veränderung eingetreten, auf die ich Sie aufmerksam machen möchte. Unsere gemeinsame Freundin hat mir erklärt, daß sie das Kloster zu verlassen wünscht. Teilen Sie mir bitte mit, was ich tun soll.«

Er las den kurzen Brief einmal, lehnte sich in seinen Sessel zurück und dachte über die Konsequenzen dieser Mitteilung nach. Catherine Alexander will also von den Toten auferstehen! Wie schade. Ich werde sie beseitigen lassen müssen. Aber vorsichtig, sehr vorsichtig.

Der erste Schritt würde der sein, sie aus dem Kloster zu holen. Constantin Demiris fand, daß es an der Zeit war, Mutter Theresa einen Besuch abzustatten.

Am nächsten Morgen ließ Demiris sich von seinem Chauffeur nach loannina fahren. Auf der Fahrt über Land dachte er an Catherine Alexander. Er erinnerte sich daran, wie schön sie gewesen war, als er sie kennengelernt hatte. Eine fröhliche, intelligente und geistreiche Frau, die sich auf ihr zukünftiges Leben in Griechenland gefreut hatte. Sie hat alles gehabt, dachte Demiris, und dann haben die Götter sich an ihr gerächt. Catherine war mit einem seiner Piloten verheiratet gewesen, und die Ehe mit ihm war zur Hölle auf Erden geworden. Catherine war fast über Nacht um zehn Jahre gealtert und zu einer schwammigen, aufgedunsenen Alkoholikerin geworden. Demiris seufzte. Schade um sie!

«Es ist mir sehr unangenehm, Sie damit belästigen zu müssen«, entschuldigte die Oberin sich,»aber das Kind weiß nicht, wohin es gehen soll, und… «

«Sie haben völlig richtig gehandelt«, versicherte Constantin Demiris ihr.»Hat sie denn gar keine Erinnerung an ihre Vergangenheit?«

Mutter Theresa schüttelte den Kopf.»Nein. Die Ärmste…«Sie trat ans Fenster und blickte in den Klostergarten hinaus, in dem mehrere Nonnen arbeiteten.»Sie ist dort draußen.«

Demiris stand auf, kam ans Fenster und sah ebenfalls hinaus. Die drei Nonnen kehrten ihnen den Rücken zu. Er wartete. Dann drehte sich die mittlere um, so daß er ihr Gesicht sehen konnte. Sie war so schön, daß es ihm fast den Atem verschlug. Wo war die schwammige, aufgedunsene Alkoholikerin geblieben?

«Sie ist die in der Mitte«, sagte Mutter Theresa.

Constantin Demiris nickte wortlos.

«Was soll ich mit ihr anfangen?«

Vorsichtig.»Lassen Sie mich darüber nachdenken«, antwortete Demiris.»Ich benachrichtige Sie dann.«

Constantin Demiris mußte eine Entscheidung treffen. Catherine Alexanders Aussehen hatte ihn überrascht. Sie hatte sich völlig verwandelt. Kein Mensch würde sie wiedererkennen. Der Plan, der ihm jetzt einfiel, war so teuflisch simpel, daß er beinahe laut aufgelacht hätte.

Noch am selben Abend schrieb er Mutter Theresa einen kurzen Brief.

Ein Wunder! dachte Catherine. Ein wahrgewordener Traum. Nach dem Morgengebet war Mutter Theresa in ihre winzige Zelle gekommen.

«Ich habe Ihnen etwas mitzuteilen, mein Kind.«

«Ja, Ehrwürdige Mutter?«

Die Oberin wählte ihre Worte mit Bedacht.»Ich habe eine gute Nachricht für Sie. Ich habe einem Freund des Klosters von Ihnen berichtet, und er will Ihnen helfen.«

Catherine fühlte ihr Herz jagen.»Mir helfen… wie?«

«Das wird er Ihnen selbst erklären. Aber er ist ein sehr freundlicher und großzügiger Mann. Sie werden uns bald verlassen.«

Ihre Worte bewirkten, daß Catherine urplötzlich ein kalter Schauer über den Rücken lief. Sie würde in eine fremde Welt hinausgehen, an die sie sich nicht einmal erinnern konnte… Und wer ist mein Wohltäter?

Aber von Mutter Theresa erfuhr sie nichts weiter als:»Er ist ein sehr fürsorglicher Mann. Sie sollten ihm dankbar sein. Sein Wagen holt Sie am Montagmorgen ab.«

In den beiden folgenden Nächten fand Catherine Alexander kaum Schlaf. Die Vorstellung, das Kloster verlassen und in die unbekannte Welt hinausgehen zu müssen, war plötzlich erschreckend. Sie fühlte sich nackt und schutzlos. Vielleicht ist es besser, wenn ich nicht weiß, wer ich bin. Bitte, lieber Gott, gib auf mich acht.

Am Montagmorgen stand die Limousine schon um sieben Uhr vor dem Klostertor. Catherine hatte die ganze Nacht wach gelegen und an die vor ihr liegende unbekannte Zukunft gedacht.

Mutter Theresa begleitete sie bis zum in die Welt hinausführenden Tor.»Wir werden für Sie beten, mein Kind. Und denken Sie daran, daß wir immer Platz für Sie haben, falls Sie zurückkommen möchten.«

«Danke, ehrwürdige Mutter. Ich werde daran denken. «Aber in ihrem Innersten wußte Catherine, daß sie nie zurückkommen würde.

Die lange Fahrt von loannina nach Athen weckte in Catherine die widersprüchlichsten Empfindungen. Obwohl es herrlich aufregend war, außerhalb der Klostermauern zu sein, wirkte die Außenwelt irgendwie bedrohlich. Werde ich erfahren, was in meiner Vergangenheit Schreckliches passiert ist? Hat es irgendwas mit meinem immer wiederkehrenden Traum zu tun, in dem jemand versucht, mich zu ertränken?

Am frühen Nachmittag fuhren sie durch größere Dörfer, erreichten die Außenbezirke von Athen und befanden sich wenig später im Gewirr der Millionenstadt. Catherine erschien alles fremd und unwirklich — und dennoch merkwürdig vertraut. Hier bin ich schon einmal gewesen dachte sie aufgeregt.

Der Chauffeur fuhr nach Osten weiter, und eine Viertelstunde später erreichten sie einen riesigen Landsitz hoch auf einem Hügel. Sie fuhren an einem Pförtnerhäuschen vorbei durch ein hohes schmiedeeisernes Tor, folgten einer von majestätischen Zypressen gesäumten langen Auffahrt und hielten dann vor einer weitläufigen weißen Villa im mediterranen Stil, die von einem halben Dutzend herrlichen Statuen flankiert war.

Der Chauffeur riß Catherine den Schlag auf, und sie stieg aus. Vor dem Portal wartete ein Mann.

«Kalimera. «Das» Guten Tag «kam wie von selbst von Catherines Lippen.

«Kalimera.«

«Sind Sie…sind Sie der Mann, der mich hierher eingeladen hat?«

«Nein, Miss, ich bin der Butler. Mr. Demiris erwartet Sie in der Bibliothek.«

Demiris. Den Namen habe ich noch nie gehört. Weshalb will er mir helfen?

Catherine Alexander folgte dem Butler durch eine Rotunde, deren riesige Glaskuppel von Marmorsäulen getragen wurde. Auch der Fußboden bestand aus weißem italienischem Marmor.

Das große Wohnzimmer war eine Wohnhalle mit hoher Balkendecke und zu Sitzgruppen zusammengestellten, bequem niedrigen Ledersofas und — sesseln. Ein übergroßes Gemälde — ein dunkel dräuender Goya — nahm eine ganze Wand ein. Catherines Begleiter blieb vor der Tür zur Bibliothek stehen.

«Mr. Demiris erwartet Sie drinnen.«

Die Wände der Bibliothek verschwanden hinter mit Gold abgesetzten weißen Bücherschränken, in denen lange Reihen kostbarer Lederbände mit goldgeprägten Buchrücken standen. Hinter dem riesigen Schreibtisch am Fenster saß ein Mann. Er hob den Kopf, als Catherine hereinkam, und stand auf. Er beobachtete ihre Miene, ohne darin das geringste Zeichen von Erkennen zu finden.

«Willkommen! Ich bin Constantin Demiris. Wie ist Ihr Name?«Er stellte diese Frage eher beiläufig. Ob sie sich an ihren Namen erinnerte?

«Catherine Alexander.«

Demiris ließ keine Reaktion erkennen.»Willkommen, Miss Alexander. Nehmen Sie bitte Platz. «Er setzte sich ihr gegenüber auf eine schwarze Ledercouch. Aus der Nähe war Catherine noch attraktiver. Eine herrliche Frau. Sogar in dieser schwarzen Kutte… Eine Schande, etwas so Schönes zu vernichten. Wenigstens wird sie glücklich sterben.

«Es… ist sehr freundlich von Ihnen, mich zu empfangen«, begann Catherine zögernd.»Ich weiß allerdings nicht, weshalb Sie…»

Er lächelte freundlich.»Das ist schnell erklärt. Ich gehe Mutter Theresa von Zeit zu Zeit ein bißchen zur Hand. Das Kloster ist sehr arm, und ich tue, was ich kann. Als sie mir von Ihnen geschrieben und mich gebeten hat, Ihnen zu helfen, habe ich geantwortet, daß ich es gern versuchen würde.«

«Das ist sehr…«Sie machte eine Pause, weil sie nicht recht weiterwußte.»Hat Mutter Theresa Ihnen gesagt, daß ich… daß ich das Gedächtnis verloren habe?«

«Ja, das hat sie erwähnt. «Er machte eine Pause, bevor er wie beiläufig fragte:»Woran erinnern Sie sich noch?«

«Ich weiß meinen Namen — aber nicht, woher ich komme oder wer ich wirklich bin. «Sie fügte hoffnungsvoll hinzu:

«Vielleicht finde ich hier in Athen jemanden, der mich kennt.«

Constantin Demiris mußte sich beherrschen, um sich nichts anmerken zu lassen. Gerade das mußte unbedingt verhindert werden!» Das ist natürlich möglich«, sagte er bedächtig.»Warum unterhalten wir uns nicht morgen früh ausführlicher darüber? Jetzt muß ich leider zu einer Besprechung. Ich habe veranlaßt, daß hier im Haus eine Gästesuite für Sie hergerichtet wurde. Sie werden sich darin wohl fühlen, hoffe ich.«

«Ich… ich weiß wirklich nicht, wie ich Ihnen für alles danken soll.«

Er winkte ab.»Das brauchen Sie nicht. Hier werden Sie gut betreut. Fühlen Sie sich bitte wie zu Hause.«

«Danke, Mr… «

«Meine Freunde nennen mich Costa.«

Die Hausdame führte Catherine in eine in sanften Pastelltönen gehaltene phantastische Gästesuite mit einem übergroßen Himmelbett, weißen Ledersofas und — sesseln, kostbaren alten Möbeln, chinesischen Vasenlampen und impressionistischen Gemälden. Meergrüne Lamellenjalousien hielten allzu grelles Sonnenlicht ab. Ein Blick aus dem Fenster zeigte Catherine in der Ferne einen Streifen des Saronischen Golfs.

«Mr. Demiris hat veranlaßt, daß Ihnen eine Kleiderkollektion vorgelegt wird«, sagte die Hausdame.»Sie möchten sich bitte aussuchen, was Ihnen gefällt.«

Catherine wurde zum ersten Mal bewußt, daß sie noch immer die Ordenstracht aus dem Kloster trug.

«Danke. «Sie sank auf das weiche Bett und kam sich vor wie in einem Traum. Wer ist dieser Unbekannte — und weshalb ist er so freundlich zu mir?

Eine Stunde später hielt ein mit Kleiderkisten vollgepackter Lieferwagen vor dem Haus. Eine Direktrice wurde in Catherines Suite geführt.

«Ich bin Madame Dimas. Mal sehen, womit wir arbeiten müssen.

Würden Sie sich bitte ausziehen?«

«Ich…Verzeihung?«

«Ziehen Sie sich bitte aus. Solange Sie Ordenstracht tragen, kann ich Ihre Figur nicht beurteilen.«

Wie lange war es schon her, daß sie sich einem anderen Menschen nackt gezeigt hatte? Catherine zog sich langsam und verlegen aus. Als sie dann nackt vor der Direktrice stand, musterte Madame Dimas sie mit geübtem Blick. Sie war beeindruckt.

«Sie haben eine ausgezeichnete Figur. Ich glaube, daß wir Sie sehr gut werden bedienen können.«

Zwei ihrer Assistentinnen schleppten Kisten voller Kleider, Unterwäsche, Blusen, Röcke und Schuhe herein.

«Suchen Sie sich aus, was Ihnen gefällt«, forderte Madame Dimas Catherine auf.»Danach probieren wir die Sachen an.«

«Ich… ich kann mir diese teuren Sachen nicht leisten!«protestierte Catherine.»Ich habe kein Geld.«

Die Direktrice lachte.»Geld dürfte kein Problem sein. Die Rechnung geht an Mr. Demiris.«

Warum tut er das für mich?

Die feinen Stoffe erinnerten sie vage an Sachen, die sie früher getragen haben mußte. Es waren Seiden-, Tweed- und Baumwollgewebe in ausgesuchten Farben.

Die drei Frauen arbeiteten so rasch und geschickt, daß Catherine nach zwei Stunden Besitzerin eines halben Dutzends eleganter Garnituren war. Ein überwältigendes Gefühl! Sie saß da und wußte nicht, was sie mit sich anfangen sollte.

Jetzt bin ich todschick — und weiß nicht, wohin. Doch, es gab ein Ziel — sie konnte in die Stadt fahren. Der Schlüssel zu allem, was ihr zugestoßen war, lag in Athen. Davon war sie überzeugt. Sie stand abrupt auf. Komm, Fremde, vielleicht kriegen wir raus, wer du bist.

Als Catherine die große Eingangshalle durchquerte, trat der Butler auf sie zu.»Kann ich Ihnen behilflich sein, Miss?«

«Ja. Ich… ich möchte in die Stadt fahren. Würden Sie mir bitte ein Taxi rufen?«

«Das wird nicht nötig sein, Miss. Unsere Limousinen stehen zu

Ihrer Verfügung. Ich lasse einen Fahrer für Sie kommen.«

Catherine zögerte.»Danke.«Ob Mr. Demiris böse ist, wenn ich in die Stadt fahret Er hat nicht gesagt, daß ich 's nicht tun soll.

Wenige Minuten später saß sie im Fond einer Daimler-Limousine und war in Richtung Stadtmitte unterwegs.

Das bunte, lärmende Treiben in den belebten Straßen und die Denkmäler und Ruinen, die draußen in eindrucksvoller Folge vorbeizogen, machten Catherine zunächst fast benommen.

Der Chauffeur zeigte nach vorn und sagte stolz:»Das ist der Parthenon, Miss, oben auf der Akropolis.«

Catherine starrte zu dem so vertrauten weißen Marmortempel hinauf.»Der jungfräulichen Athene, der Göttin der Weisheit, geweiht«, hörte sie sich sagen.

Der Fahrer lächelte anerkennend.»Interessieren Sie sich für griechische Geschichte, Miss?«

Tränen der Enttäuschung ließen die Akropolis vor Catherines Blick verschwimmen.»Ich weiß es nicht«, flüsterte sie.»Ich weiß es nicht.«

Sie fuhren an einer weiteren Ruine vorbei.»Dies ist das Odeion des Herodes Atticus. Wie Sie sehen, steht ein Teil der Mauern noch. Es hat einst über fünftausend Plätze gehabt.«

«Sechstausendzweihundertsiebenundfünfzig«, sagte Catherine leise.

Überall zwischen den zeitlosen Ruinen ragten Hotels und Bürogebäude auf — eine exotische Mischung aus Vergangenheit und Gegenwart. In der Innenstadt fuhr die Limousine an einem großen Park mit einem glitzernden Springbrunnen in seiner Mitte vorbei. Dutzende von Tischen mit blauen Sonnenschirmen über grünen und orangeroten Schirmständern säumten den Park.

Das habe ich alles schon einmal gesehen, dachte Catherine, deren Hände klamm wurden. Und ich bin glücklich gewesen.

In fast jedem Häuserblock gab es Straßencafes, und an den Straßenecken verkauften Männer frisch aus dem Meer geholte Schwämme. Überall priesen Blumenhändler, deren Stände ein buntes Blütenmeer waren, stimmgewaltig ihre Ware an.

Die Limousine hatte den Syntagmaplatz erreicht.

Als sie an einem Hotel an einer Ecke des Platzes vorbeikamen, rief Catherine plötzlich:»Bitte halten Sie an!«

Sie konnte vor Aufregung kaum atmen. Dieses Hotel kenne ich. Hier habe ich schon gewohnt.

Ihre Stimme zitterte, als sie weitersprach.»Ich möchte hier aussteigen. Könnten Sie mich in… zwei Stunden abholen?«

«Natürlich, Miss. «Der Chauffeur beeilte sich, ihr die Tür zu öffnen, und Catherine stieg in die heiße Sommerluft aus. Sie fühlte, wie ihr die Beine zitterten.»Alles in Ordnung, Miss?«Sie konnte nicht antworten; sie hatte das Gefühl, am Rande eines Abgrunds zu stehen, dicht davor zu sein, in unbekannte, schreckliche Tiefen zu stürzen.

Catherine bewegte sich durch das ungewohnte Gedränge und staunte über die durch die Straßen hastenden Menschenmassen, deren Stimmen sich in einer lauten Kakophonie über sie ergossen. Nach der Einsamkeit und der Stille des Klosters erschien ihr alles unwirklich. Sie schlenderte zur Plaka, der Athener Altstadt, mit ihren verwinkelten Gassen, kleinen alten Häusern, Cafes und weiß verputzten größeren Gebäuden. Irgendein Instinkt, den sie nicht verstand, aber auch nicht zu unterdrücken versuchte, wies ihr den Weg.

Sie kam an einer Taverne vorbei, von deren Dachterrasse aus man die Stadt überblicken konnte, und blieb stehen, um sie anzustarren.

An diesem Tisch habe ich schon einmal gesessen. Jemand hat mir eine griechische Speisekarte in die Hand gedrückt. Wir sind zu dritt gewesen.

Was möchtest du essen? haben sie gefragt.

Bestellt ihr bitte für mich? Ich habe Angst, ich könnte den Wirt bestellen.

Sie haben gelacht. Aber wer sind» sie «gewesen?

Ein Kellner näherte sich ihr. »Boro na sas?«

«Ojchi, efcharisto.«

Kann ich Ihnen helfen? Nein, danke.

Woher habe ich das gewußt? Bin ich eine Griechin?

Catherine hastete weiter und hatte jetzt das Gefühl, von irgend jemandem geführt zu werden. Sie schien genau zu wissen, wohin sie gehen mußte.

Alles erschien ihr vertraut und doch wieder nicht. Großer Gott, dachte sie, ich werde verrückt! Ich habe Halluzinationen. Sie kam an einem Cafe Treflinkas vorbei, das vage Erinnerungen in ihr wachrief. Irgend etwas hatte sich dort ereignet, irgend etwas Wichtiges. Aber sie wußte nicht, was es gewesen war.

Sie ging durch die belebten Gassen weiter und bog an der Voukourestiou nach links ab. Auch an die eleganten Geschäfte in dieser Straße erinnerte sie sich. Hier habe ich früher oft eingekauft.

Als sie die Straße überqueren wollte, kam eine blaue Limousine um die Ecke geschossen und verfehlte sie nur um Haaresbreite.

Sie erinnerte sich an eine Stimme, die ihr erklärte: Hier scheinen alle so zu fahren. Den Übergang zum Auto haben wir Griechen noch nicht geschafft. Im Herzen sind wir Eselstreiber geblieben. Wollen Sie uns Griechen verstehen lernen, müssen Sie statt Reiseführern die alten Tragödien lesen. Wir sind von großartigen Leidenschaften, starken Eifersüchten und tiefer Trauer erfüllt und haben noch nicht gelernt, sie mit zivilisiertem Benehmen zu kaschieren.

Wer hat das zu mir gesagt?

Ein Mann, der ihr eilig entgegenkam, starrte sie an. Er ging langsamer, und seine Miene schien zu besagen, daß er sie wiedererkannte. Er war groß und schwarzhaarig, und Catherine glaubte zu wissen, daß sie ihn noch nie gesehen hatte. Und trotzdem…

«Hallo. «Der Mann schien sich über diese Begegnung sehr zu freuen.

«Hallo. «Catherine holte tief Luft.»Kennen Sie mich?«Er nickte grinsend.»Natürlich kenne ich Sie. «Catherine Alexander fühlte ihr Herz jagen. Endlich würde sie die Wahrheit erfahren! Aber wie konnte sie auf einer belebten Straße einen Unbekannten fragen:»Wer bin ich?«

«Können… können wir irgendwo miteinander reden?«schlug sie vor.

«Ja, das sollten wir.«

Catherine war dicht davor, in Panik zu geraten. Das Rätsel ihrer

Identität sollte nun endlich gelöst werden. Trotzdem hatte sie schreckliche Angst. Was ist, wenn ich die Wahrheit besser nicht hören solltet Wenn ich irgendwas Schreckliches getan habe?

Der Mann führte sie zur nächsten Taverne.»Ich freue mich sehr. Sie getroffen zu haben«, versicherte er ihr.

Catherine schluckte trocken.»Ja, ich auch.«

Ein Kellner wies ihnen einen Tisch an.

«Was möchten Sie trinken?«fragte der Mann.

Sie schüttelte den Kopf.»Danke, nichts.«

Es gab so viele Fragen! Wo soll ich nur anfangen?

«Sie sind sehr schön«, sagte der Mann.»Unsere Begegnung ist ein Wink des Schicksals, finden Sie nicht auch?«

«Ja. «Vor Aufregung zitterte sie beinahe. Sie holte tief Luft.»Ich… Wo haben wir uns kennengelernt?«

Er winkte ab.»Ist das wichtig, Manarimou? In Paris, in Rom, beim Rennen, auf einer Party. «Er griff über den Tisch hinweg nach ihrer Hand.»Du bist hübscher als alle, die ich je hier gesehen habe. Was kostet es bei dir?«

Catherine starrte ihn an. Sie verstand nicht gleich, was er meinte, aber dann sprang sie entsetzt auf.

«He, was hast du plötzlich? Ich zahle, was du…»

Catherine wandte sich abrupt um, verließ fluchtartig das Lokal und hastete die Straße entlang. Erst nach der nächsten Ecke ging sie wieder langsamer. In ihren Augen standen Tränen der Erniedrigung.

Dann kam sie an einer Taverne vorbei, in deren Fenster ein Schild mit der Aufschrift MADAME PIRIS — WAHRSAGERIN hing. Catherine blieb wie angewurzelt stehen. Ich kenne Madame Piris. Hier bin ich schon einmal gewesen. Sie hatte wieder Herzklopfen, weil sie spürte, daß hinter diesem dunklen Torbogen der Anfang vom Ende ihres Lebensmysteriums lag. Sie öffnete die Tür und trat ein. Ihre Augen brauchten einige Sekunden, um sich an das Halbdunkel des höhlenartigen Raums zu gewöhnen. Die Einrichtung bestand aus einer vertraut wirkenden Eckbar und einem Dutzend Tische mit hochlehnigen Stühlen. Ein Kellner kam auf sie zu und sprach sie auf griechisch an.

«Kalimera.«

«Kalimera. Pu ine Madame Piris?«

«Madame Piris?«

Sie nickte wortlos.

Der Kellner deutete auf einen freien Tisch in einer Ecke des Lokals, und Catherine nahm daran Platz. Alles war genau so, wie sie es in Erinnerung hatte.

Eine ganz in Schwarz gekleidete Griechin, deren hageres Gesicht nur noch aus Ecken und Kanten zu bestehen schien, kam an den Tisch geschlurft.

«Was kann ich…?«Sie brachte ihren Satz nicht zu Ende, sondern starrte Catherine mit weitaufgerissenen Augen an.»Ich habe Sie schon einmal gesehen, aber Ihr Gesicht Sie holte erschrocken tief Luft.»Sie sind zurückgekommen!«

«Sie wissen, wer ich bin?«fragte Catherine gespannt.

Aus dem Blick der Greisin sprach blankes Entsetzen.»Nein! Sie sind tot! Gehen Sie! Gehen Sie fort!«

Catherine stieß einen leisen Klagelaut aus und glaubte zu spüren, wie ihre Nackenhaare sich sträubten.»Bitte… Ich möchte nur…«

«Gehen Sie, Mrs. Douglas!«

«Ich muß wissen, wer…«

Die Greisin schlug ein Kreuz, wandte sich ab und schlurfte eilends davon.

Catherine blieb einen Augenblick zitternd sitzen, bevor sie sich aufraffte und hastig das Lokal verließ. Die Stimme in ihrem Kopf folgte ihr auf die Straße. Mrs. Douglas!

Und dann war es, als öffne sich eine Schleuse. Vor ihrem inneren Auge standen plötzlich Dutzende von grell beleuchteten Szenen: eine unkontrollierbare Folge bunter Kaleidoskopbilder.

Ich bin Mrs. Catherine Douglas, und mein Mann heißt Larry, Ein gutaussehender Mann. Ich sehe deutlich sein Gesicht. Ich habe ihn bis zum Wahnsinn geliebt, aber irgendwas ist schiefgegangen. Irgendwas…

Das nächste Bild zeigte ihr, wie sie Selbstmord zu begehen versuchte und in einem Krankenhaus aufwachte.

Catherine blieb stehen, weil sie Angst hatte, ihre Beine könnten versagen, ließ aber zu, daß weitere Bilder ihr Inneres überfluteten.

Ich habe viel getrunken, weil ich Larry verloren habe. Aber dann kehrt er zu mir zurück. Wir sitzen im Cafe Treflinkas, und Larry sagt: Ich weiß, wie gemein ich zu dir war. Ich will alles wiedergutmachen,

Cathy. Ich liebe dich. Ich habe niemals eine andere wirklich geliebt. Du mußt mir noch eine Chance geben. Wie würde dir eine zweite Hochzeitsreise gefallen, Cathy? Ich kenne einen hübschen kleinen Ort, in den wir fahren könnten. Er liegt bei loannina…

Die jetzt vor ihrem inneren Auge erscheinenden Bilder waren grauenerregend.

Larry und ich sind auf einem Gipfel, um den düstere Nebelschwaden ziehen, und er kommt mit ausgestreckten Armen auf mich zu, um mich in die Tiefe zu stoßen. In diesem Augenblick kommen Touristen vorbei. Ich bin gerettet.

Und danach die Höhlen.

Ich habe gehört, daß es hier in der Nähe berühmte Höhlen gibt. Alle Hochzeitsreisenden besuchen sie.

Wir fahren zu den Höhlen, und Larry überläßt mich in den Tiefen des weitverzweigten Labyrinths meinem Schicksal.

Catherine hielt sich die Ohren zu, als könnte sie dadurch die schrecklichen Erinnerungen bannen, die sie bedrängten.

Man rettet mich, und ich werde ins Hotel zurückgebracht. Ein Arzt gibt mir ein Beruhigungsmittel. Aber ich wache mitten in der Nacht auf und muß mit anhören, wie Larry und seine Geliebte auf dem Balkon meine Ermordung planen.

… niemand wird jemals…

Ich habe dir gesagt, daß ich dafür sorgen werde, daß…

… ist unrecht gewesen. Du kannst nichts…

… gleich jetzt, solange sie schläft.

Ich laufe bei diesem schrecklichen Sturm fort. Sie verfolgen mich…Ich flüchte mich in ein Ruderboot, das mit dem Wind auf den sturmgepeitschten See hinaustreibt. Und das Boot sinkt tiefer und tiefer…

Catherine versagten die Beine, und sie ließ sich auf die Bank einer Bushaltestelle sinken. Die Alpträume sind also wahr gewesen. Mein Ehemann und seine Geliebte haben versucht, mich zu ermorden.

Sie dachte wieder an den Unbekannten, der sie kurz nach ihrer Rettung im Kloster aufgesucht hatte. Er hatte ihr eine kostbar gearbeitete Brosche in Form eines goldenen Vogels mit flugbereit ausgebreiteten Schwingen gegeben, fetzt tut Ihnen niemand mehr etwas. Die bösen Leute sind tot. Sie konnte sein Gesicht noch immer nicht deutlich erkennen.

Catherines Kopf begann zu schmerzen.

Nach einer langen Zeit stand sie auf und ging langsam zu der Stelle, wo der Chauffeur sie abholen und zu Constantin Demiris zurückbringen sollte. Bei ihm würde sie in Sicherheit sein.

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