Fünf Tage vor Beginn der Verhandlung gegen Constantin Demiris sperrte ein Aufseher seine Zellentür auf.
«Besuch für Sie.«
Constantin Demiris hob den Kopf. Außer seinem Verteidiger hatte er bisher keinen Besuch empfangen dürfen. Er weigerte sich, Neugier erkennen zu lassen. Diese Schweinehunde behandelten ihn wie einen gewöhnlichen Kriminellen. Aber er würde ihnen nicht die Befriedigung verschaffen, Gefühle zu zeigen. Er folgte dem Aufseher den Korridor entlang in ein kleines Besprechungszimmer.
«Dort drinnen.«
Demiris betrat den Raum und blieb an der Tür stehen. Vor ihm saß ein schwerbehinderter alter Mann in einem Rollstuhl. Das Gesicht unter seinem weißen Haar war ein grausiges Flickwerk aus verbrannten und vernarbten Hautstücken. Seine Lippen waren für ewig zu einem gräßlichen Lächeln verzerrt. Demiris brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, wer der Besucher war. Dann wurde er aschfahl.»Mein Gott!«
«Ich bin kein Gespenst«, sagte Napoleon Chotas.»Komm nur rein, Costa.«
Demiris fand seine Stimme wieder.»Aber das Feuer…«
«Ich bin aus dem Fenster gesprungen und habe mir das Rückgrat gebrochen. Mein Butler hat mich fortgeschafft, bevor die Feuerwehr kam. Ich wollte nicht, daß du erfährst, daß ich mit dem Leben davongekommen war. Ich hatte nicht die Kraft, den Kampf gegen dich fortzusetzen.«
«Aber… die Polizei hat einen Toten gefunden.«
«Das war mein Hausmeister.«
Demiris sank auf einen Stuhl.»Ich… ich bin froh, daß du lebst«, sagte er mit schwacher Stimme.
«Das solltest du auch sein. Ich werde dir das Leben retten.«
Constantin Demiris betrachtete ihn mißtrauisch.»Wie meinst du das?«
«Ich werde dich verteidigen.«
Demiris lachte auf.»Unsinn, Leon! Hältst du mich nach so vielen Jahren für einen Dummkopf? Wie kommst du darauf, daß ich mein Leben in deine Hände legen würde?«
«Weil ich der einzige bin, der dich retten kann, Costa.«
Constantin Demiris stand auf.»Nein, danke. «Er ging zur Tür.
«Ich habe mit Spyros Lambrou gesprochen. Ich habe ihn dazu überredet, als Zeuge auszusagen, er sei zum Zeitpunkt der Ermordung seiner Schwester mit dir zusammengewesen.«
Demiris blieb ruckartig stehen und drehte sich um.»Weshalb sollte er das tun?«
Chotas beugte sich im Rollstuhl vor.»Weil ich ihn davon überzeugt habe, daß er sich besser an dir rächen kann, wenn er dir statt des Lebens dein Vermögen nimmt.«
«Das verstehe ich nicht.«
«Ich habe Lambrou erklärt, daß du ihm dein gesamtes Vermögen überschreibst, wenn er zu deinen Gunsten aussagt. Deine Schiffe, deine Firmen, deine Immobilien — deinen gesamten Besitz.«
«Du bist verrückt!«
«Meinst du? Überleg es dir gut, Costa. Seine Aussage kann dir das Leben retten. Ist dein Besitz dir mehr wert als dein Leben?«
Danach entstand eine lange Pause. Demiris setzte sich wieder.»Er ist bereit, vor Gericht auszusagen, daß wir zusammengewesen waren, als Melina ermordet wurde?«
«Ganz recht.«
«Und dafür will er…«
«Alles.«
Constantin Demiris schüttelte den Kopf.»Er müßte mir meine…»
«Alles. Er will, daß du vollkommen mittellos dastehst. Das ist seine Rache.«
Demiris beschäftigte eine andere Frage.»Und was hättest du davon, Leon?«
Chotas grinste sein starres Totenkopf lächeln.»Ich kriege alles.«»Das verstehe ich nicht.«
«Bevor du die Hellenic Trade Corporation deinem Schwager überschreibst, transferierst du sämtliche Aktiva auf eine neue Gesellschaft. Auf eine Gesellschaft, die mir gehört.«
Demiris starrte ihn an.»Lambrou geht also leer aus.«
Chotas zuckte mit den Schultern.»Es gibt immer Gewinner und Verlierer.«
«Wird Lambrou denn nicht mißtrauisch?«
«Nicht bei meiner Methode.«
Demiris runzelte die Stirn.»Woher weiß ich, daß du mich nicht reinlegst, wenn du schon Lambrou reinlegen willst?«
«Nichts leichter als das, mein lieber Costa. Wir vereinbaren vertraglich, daß die neue Firma mir nur unter der Bedingung gehört, daß du freigesprochen wirst. Solltest du wegen Mordes verurteilt werden, bekomme ich nichts.«
Sein Vorschlag begann Constantin Demiris zu interessieren. Er lehnte sich zurück und studierte den verkrüppelten Mann. Würde er den Prozeß absichtlich verlieren und auf Hunderte von Millionen Dollar verzichten, nur um sich an mir zu rächen? Nein, so dumm ist er nicht.»Gut«, sagte Demiris langsam.»Abgemacht.«
«Sehr vernünftig«, stimmte Chotas zu.»Du hast dir gerade das Leben gerettet, Costa.«
Und nicht nur das/dachte Demiris. Ich habe zehn Millionen Dollar so untergebracht, daß sie keiner findet.
Das Gespräch zwischen Napoleon Chotas und Spyros Lambrou war sehr schwierig gewesen. Melinas Bruder hätte Chotas beinahe hinausgeworfen.
«Ich soll aussagen, damit dieses Ungeheuer am Leben bleibt? Scheren Sie sich zum Teufel!«
«Sie wollen sich rächen. Ist es nicht so?«hatte Napoleon Chotas gefragt.
«Allerdings! Und ich bekomme meine Rache!«
«Sie kennen Costa doch. Sein Reichtum bedeutet ihm mehr als sein Leben. Wird er hingerichtet, ist sein Schmerz in wenigen Sekunden vorbei — aber wenn Sie ihm alles wegnehmen, was er besitzt, wenn Sie ihn zwingen, mittellos weiterzuleben, bestrafen Sie ihn viel härter und nachhaltiger.«
Und damit hatte der Anwalt recht. Demiris war der geldgierigste Mann, dem Spyros je begegnet war.»Sie sagen, daß er bereit ist, mir alles zu überschreiben, was er besitzt?«
«Alles. Seine Flotte, seine Gesellschaften, seine Immobilien, sein gesamtes Vermögen.«
Das war eine gewaltige Versuchung.»Lassen Sie mich darüber nachdenken. «Lambrou beobachtete, wie der Anwalt seinen Rollstuhl hinauslenkte. Armer Teufel! Was hat der noch vom Leben?
Nach Mitternacht erreichte Napoleon Chotas ein Anruf von Spyros Lambrou.»Der Handel gilt.«
Die Presse überschlug sich beinahe. Constantin Demiris stand nicht nur wegen Mordes an seiner Frau vor Gericht, sondern wurde noch dazu von einem von den Toten Auferstandenen verteidigt — von dem brillanten Strafverteidiger, der in seinem bis auf die Grundmauern niedergebrannten Haus umgekommen sein sollte.
Die Verhandlung fand im selben Saal statt wie der Prozeß gegen Noelle Page und Larry Douglas. Constantin Demiris saß aufrecht und unnahbar auf der Anklagebank. Neben ihm hockte Napoleon Chotas zusammengesunken in seinem Rollstuhl. Der Anklagevertreter war der Sonderermittler der Staatsanwaltschaft, Delma.
Zu Prozeßbeginn wandte Delma sich an die Geschworenen.
«Meine Damen und Herren Geschworenen! Constantin Demiris gehört zu den mächtigsten Männern der Welt. Seinem gewaltigen Vermögen verdankt er zahlreiche Privilegien. Aber eines kann es ihm nicht verschaffen: das Recht, einen kaltblütigen Mord zu verüben. Dieses Recht besitzt kein Mensch. «Sein Blick streifte Demiris.»Die Anklage wird zweifelsfrei beweisen, daß Constantin Demiris des brutalen Mordes an seiner Frau, die ihn geliebt hat, schuldig ist. Ich bin davon überzeugt, daß am Ende der Beweisaufnahme nur ein einziges Urteil möglich sein wird: schuldig wegen Mordes. «Er ging an seinen Platz zurück.
Der Vorsitzende Richter wandte sich an Napoleon Chotas.»Ist die Verteidigung bereit, ihr Eröffnungsplädoyer zu halten?«
«Ja, Hohes Gericht. «Chotas lenkte seinen Rollstuhl vor die
Geschworenenbank. Er sah das Mitleid auf den Gesichtern der Männer und Frauen, die sich bemühten, über sein entstelltes Gesicht und seinen verkrüppelten Körper hinwegzusehen.»Gegen Constantin Demiris wird hier nicht verhandelt, weil er reich und mächtig ist. Oder vielleicht ist er wegen dieser Eigenschaften vor die Schranken dieses Gerichts gezerrt worden. Die Schwachen sind stets bemüht, die Starken zu stürzen, nicht wahr? Herr Demiris ist vielleicht schuldig, reich und mächtig zu sein — aber eine Tatsache werde ich zweifelsfrei beweisen: Er ist nicht schuldig, seine Frau ermordet zu haben. «Der Prozeß hatte begonnen.
Staatsanwalt Delma hatte Kriminalinspektor Theophilos in den Zeugenstand gerufen.
«Würden Sie uns bitte schildern, was Sie beim Betreten des Strandhauses gesehen haben, Inspektor?«
«Der ganze Raum war verwüstet. Lampen, Sessel, Tische und andere Möbelstücke waren umgestürzt.«
«Als ob dort ein heftiger Kampf stattgefunden hätte?«
«Ganz recht. Als ob dort eingebrochen worden wäre.«
«Am Tatort haben Sie ein blutiges Messer gefunden, nicht wahr?«
«Ja, das stimmt.«
«Und an diesem Messer haben sich Fingerabdrücke feststellen lassen?«
«Richtig.«
«Wessen Fingerabdrücke?«
«Die des Angeklagten. «Die Blicke der Geschworenen gingen zu Constantin Demiris.
«Was haben Sie bei der Durchsuchung des Hauses sonst noch entdeckt?«
«Auf dem Boden eines Kleiderschranks haben wir eine blutbefleckte Badehose mit dem Monogramm des Angeklagten gefunden.«
«Kann sie nicht schon längere Zeit dort gelegen haben?«
«Nein. Sie war noch feucht vom Meerwasser.«
«Ich danke Ihnen.«
Nun war Napoleon Chotas an der Reihe.»Inspektor Theophilos, Sie haben Gelegenheit gehabt, persönlich mit dem Angeklagten zu sprechen, nicht wahr?«»Ja, das stimmt.«
«Wie würden Sie ihn physisch beschreiben?«
«Hmmm…» Der Kriminalbeamte sah zu Demiris hinüber.»Als großen Mann.«
«Hat er stark ausgesehen? Körperlich, meine ich.«
«Ja.«
«Also kein Mann, der einen Raum auf den Kopf stellen müßte, um seine Frau zu ermorden?«
Delma sprang auf.»Einspruch!«
«Stattgegeben. Der Herr Verteidiger stelle dem Zeugen bitte keine Suggestivfragen.«
«Ich bitte um Verzeihung, Hohes Gericht. «Chotas wandte sich erneut an den Kriminalbeamten.»Haben Sie bei Ihrem Gespräch mit Herrn Demiris den Eindruck gewonnen, er sei ein intelligenter Mensch?«
«Ja, denn so reich wie er wird man nur, wenn man verdammt clever ist.«
«Ich bin ganz Ihrer Meinung, Inspektor. Und das wirft eine sehr interessante Frage auf: Wie könnte ein Mann wie Constantin Demiris dumm genug sein, einen Mord zu verüben und am Tatort ein Messer mit seinen Fingerabdrücken und eine blutbefleckte Badehose mit seinem Monogramm zurückzulassen… Würden Sie das nicht auch als wenig intelligent bezeichnen?«
«Nun, in der Hitze eines Verbrechens tun Menschen manchmal seltsame Dinge.«
«Die Polizei hat einen goldfarbenen Knopf von einer Jacke gefunden, die Herr Demiris getragen haben soll, nicht wahr?«
«Ja, das stimmt.«
«Und dieser Knopf gehört zu den wichtigsten Beweisen gegen Herrn Demiris. Die Polizei glaubt, seine Frau habe ihm den Knopf während eines Kampfes abgerissen, als er sie ermorden wollte?«
«Richtig.«
«Wir haben es hier mit einem Mann zu tun, der sich stets sehr elegant kleidet. Von seiner Jacke wird ein Knopf abgerissen, aber er merkt nichts davon. Er trägt diese Jacke auf der Heimfahrt, ohne den fehlenden Knopf zu bemerken. Dann zieht er die Jacke aus und hängt sie in den Kleiderschrank — und merkt noch immer nicht, daß ein Knopf fehlt. Schwer zu glauben, nicht wahr?«
loannis Katelanos befand sich im Zeugenstand. Der Besitzer des Detektivbüros genoß seinen Auftritt im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit sichtlich. Delma befragte den Zeugen.
«Sie sind der Besitzer eines Detektivbüros?«
«Ja, Herr Staatsanwalt.«
«Und Frau Demiris ist einige Tage vor ihrer Ermordung zu Ihnen gekommen?«
«Genau.«
«Was wollte sie?«
«Personenschutz. Sie hat mir erzählt, sie wolle sich von ihrem Mann scheiden lassen und er habe damit gedroht, sie zu ermorden.«
Ein Murmeln ging durch den Saal.
«Frau Demiris war wohl sehr aufgeregt?«
«O ja! Sie war völlig durcheinander.«
«Und sie hat Ihrem Büro den Auftrag erteilt, sie vor ihrem Mann zu schützen?«
«Richtig.«
«Danke, keine weiteren Fragen mehr. «Delma wandte sich an Chotas.»Ihr Zeuge, Herr Verteidiger.«
Napoleon Chotas lenkte seinen Rollstuhl zum Zeugenstand hinüber.»Herr Katelanos, wie lange sind Sie schon Privatdetektiv?«
«Seit fast fünfzehn Jahren.«
Chotas war sichtlich beeindruckt.»Das ist allerdings eine lange Zeit. Da müssen Sie wirklich sehr gute Arbeit leisten.«
«Das tue ich wohl«, sagte Katelanos bescheiden.
«Sie haben also viel Erfahrung im Umgang mit Menschen in Krisensituationen?«
«Deshalb kommen sie zu mir«, antwortete Katelanos selbstgefällig.
«Und als Frau Demiris zu Ihnen gekommen ist, hat sie da ein bißchen aufgeregt gewirkt oder…?«
«Nein, nein, sie ist sehr auf geregt gewesen! In panischer Angst, könnte man sagen.«
«Ja, ich verstehe. Weil sie gefürchtet hat, ihr Mann wolle sie ermorden.«»Genau.«
«Wie viele Ihrer Leute haben Sie ihr mitgegeben, als sie Ihr Büro verließ? Einen? Zwei?«
«Äh, keinen. Ich habe ihr keinen mitgegeben.«
Chotas runzelte die Stirn.»Das verstehe ich nicht. Weshalb nicht?«
«Nun, sie hat gesagt, wir sollten unsere Tätigkeit erst am Montag aufnehmen.«
Chotas starrte ihn verblüfft an.»Tut mir leid, aber das begreife ich nicht ganz, Herr Katelanos. Diese Frau, die zu Ihnen gekommen ist, weil sie gefürchtet hat, ihr Mann trachte ihr nach dem Leben, ist einfach wieder gegangen und hat gesagt, sie brauche Ihren Schutz erst ab Montag?«
«Äh, ja, das stimmt.«
«Da fragt man sich doch, wie groß Frau Demiris' Angst gewesen sein muß?«sagte Napoleon Chotas fast wie zu sich selbst.
Die nächste Zeugin war das Dienstmädchen des Ehepaars Demiris.»Sie haben also das Telefongespräch zwischen Frau Demiris und ihrem Mann mitgehört?«
«Ja, Herr Staatsanwalt.«
«Können Sie den Inhalt wiedergeben?«
«Nun, Frau Demiris hat ihrem Mann erklärt, sie wolle sich von ihm scheiden lassen, und er hat geantwortet, damit sei er auf keinen Fall einverstanden.«
Delma sah zu den Geschworenen hinüber.»Aha. «Er wandte sich wieder an die Zeugin.»Was haben Sie noch gehört?«
«Er hat sie aufgefordert, sich um fünfzehn Uhr mit ihm im Strandhaus zu treffen — und allein zu kommen.«
«Er hat verlangt, sie solle allein kommen?«
«Ja. Und sie hat mich angewiesen, die Polizei zu verständigen, falls sie bis achtzehn Uhr nicht zurück sei.«
Auf der Geschworenenbank entstand Bewegung. Alle starrten jetzt Demiris an.
«Danke, keine weiteren Fragen. «Der Staatsanwalt nickte zu Chotas hinüber.»Ihre Zeugin, Herr Verteidiger.«
Napoleon Chotas lenkte seinen Rollstuhl dicht an den Zeugenstand heran.»Sie heißen Andrea, stimmt's?«»Ja, das stimmt. «Sie versuchte, nicht in das von Brandwunden entstellte Gesicht zu blicken.
«Andrea, Ihrer Aussage nach haben Sie mitgehört, daß Frau Demiris ihrem Mann erklärt hat, sie wolle sich von ihm scheiden lassen, daß Herr Demiris gesagt hat, er sei nicht bereit, einer Scheidung zuzustimmen, und daß er sie aufgefordert hat, um fünfzehn Uhr allein ins Strandhaus zu kommen. Stimmt das alles?«
«Ja, das stimmt.«
«Sie stehen hier unter Eid, Andrea. Das alles haben Sie keineswegs gehört.«
«Doch, doch, ich hab's gehört!«
«Wie viele Telefone stehen in dem Zimmer, in dem Frau Demiris telefoniert hat?«
«Nur das eine.«
Napoleon Chotas rollte noch näher an den Zeugenstand heran.»Sie haben das Gespräch also nicht an einem anderen Apparat mitgehört?«
«Natürlich nicht! Das täte ich nie!«
«Tatsächlich haben Sie also nur gehört, was Frau Demiris gesagt hat. Sie hätten gar nicht hören können, was ihr Mann geantwortet hat.«
«Oh. Na ja, wahrscheinlich…«
«Mit anderen Worten: Sie haben nicht gehört, daß Herr Demiris seine Frau bedroht und aufgefordert hat, sich mit ihm im Strandhaus zu treffen. Das haben Sie sich alles nur eingebildet, weil Sie mitbekommen haben, was Frau Demiris gesagt hat.«
Andrea war verwirrt.»Ich… äh… ja, so könnte man's ausdrücken, nehm' ich an.«
«Ich drücke es so aus. Warum sind Sie überhaupt im Zimmer gewesen, als Frau Demiris telefoniert hat?«
«Ich sollte ihr einen Tee bringen.«
«Und Sie haben ihn ihr gebracht?«
«Natürlich.«
«Sie haben ihn auf den Tisch gestellt?«
«Ja.«
«Warum sind Sie danach nicht gegangen?«
«Frau Demiris hat mir ein Zeichen gemacht, ich solle noch bleiben.«
«Sie wollte, daß Sie das Gespräch — oder dieses angebliche Gespräch — mithören?«
«Ich… ich nehm's an.«
Die Stimme des Verteidigers war schneidend scharf geworden.
«Sie wissen also nicht einmal, ob Frau Demiris mit ihrem Mann telefoniert hat — oder ob sie überhaupt mit irgend jemandem gesprochen hat.«
Andrea nickte hilflos.
Chotas lenkte seinen Rollstuhl noch näher an den Zeugenstand heran.
«Finden Sie's nicht merkwürdig, daß Frau Demiris Sie mitten in einem sehr privaten Gespräch zum Bleiben und Zuhören aufgefordert hat? Ich weiß nur, daß wir in meinem Haus nie auf die Idee kämen, bei privaten Diskussionen unser Personal zum Mithören aufzufordern. Nein, ich unterstelle, daß dieses angebliche Gespräch niemals stattgefunden hat.
Frau Demiris hat mit überhaupt niemandem telefoniert. Sie hat ihren Mann absichtlich belastet, damit er hier und heute wegen Mordes angeklagt wurde. Aber Constantin Demiris hat seine Frau nicht ermordet. Das Beweismaterial ist sorgfältig — allzu sorgfältig — präpariert worden. Kein intelligenter Mensch würde eine Serie eindeutiger Indizien für seine Täterschaft hinterlassen. Und unabhängig davon, was Constantin Demiris vielleicht sonst ist, seine Intelligenz steht außer Zweifel.«
Mit Anschuldigungen und Gegenanschuldigungen, Gutachten und Berichten von Spurensicherung und Gerichtsmediziner wogte das Verfahren weitere fünf Tage hin und her. Nach allgemeiner Ansicht war Constantin Demiris vermutlich schuldig.
Napoleon Chotas hob sich seinen Knüller bis zuletzt auf. Dann rief er Spyros Lambrou in den Zeugenstand. Vor Prozeßbeginn hatte Constantin Demiris einen Vertrag unterzeichnet, mit dem er die Hellenic Trade Corporation mit sämtlichen Aktiva auf seinen Schwager übertrug. Einen Tag zuvor hatte er sein Imperium bereits Napoleon Chotas überschrieben, der es aber nur bekommen würde, wenn er, Demiris, freigesprochen würde.
«Herr Lambrou, Sie und Ihr Schwager Constantin Demiris haben sich nie sonderlich gut vertragen, nicht wahr?«
«Ja, das stimmt.«
«Könnte man nicht sogar sagen, daß Sie einander hassen?«
Lambrou sah zu Constantin Demiris hinüber.»Das wäre vielleicht sogar noch untertrieben.«
«Am Tag der Ermordung Ihrer Schwester hat Constantin Demiris der Kriminalpolizei gegenüber ausgesagt, er sei nicht einmal in der Nähe seines Strandhauses gewesen. Er hat weiterhin angegeben, er habe sich um fünfzehn Uhr — also zum Zeitpunkt des Todes Ihrer Schwester — mit Ihnen in Akro-Korinth getroffen. Bei Ihrer polizeilichen Vernehmung haben Sie dieses Treffen abgestritten.«
«Ja, das habe ich getan.«
«Weshalb?«
Spyros Lambrou antwortete nicht gleich. Dann war der Zorn in seiner Stimme unüberhörbar.»Demiris hat meine Schwester wie ein Stück Dreck behandelt. Er hat sie ständig gedemütigt und gequält. Diesmal hat er mich gebraucht, um ein Alibi zu haben. Aber ich wollte ihm keines liefern.«
«Und jetzt?«
«Ich kann nicht länger mit einer Lüge leben. Ich muß einfach die Wahrheit sagen!«
«Haben Sie sich an dem bewußten Nachmittag mit Constantin Demiris in Akro-Korinth getroffen?«
«Ja, das habe ich.«
Ein Aufschrei ging durch den Saal. Delma, der blaß geworden war, stand auf.»Hohes Gericht, ich erhebe Einspruch gegen…«
«Einspruch abgelehnt!«
Der Staatsanwalt sank auf seinen Stuhl zurück. Constantin Demiris hatte sich mit glitzernden Augen vorgebeugt.
«Erzählen Sie uns von diesem Treffen. Haben Sie es vorgeschlagen?«
«Nein. Das Treffen ist Melinas Idee gewesen. Sie hat uns beide reingelegt.«
«Wie reingelegt?«
«Melina hat mich angerufen und behauptet, ihr Mann wolle sich dort oben in meiner Jagdhütte mit mir treffen, um mit mir einen Waffenstillstand zu schließen. Dann hat sie Demiris angerufen und ihm weisgemacht, ich wolle mich aus den gleichen Gründen dort oben mit ihm treffen. Nach unserer Ankunft haben wir festgestellt, daß wir einander nichts zu sagen hatten.«
«Und dieses Treffen hat nachmittags zu der Zeit stattgefunden, als Frau Demiris zu Tode kam?«
«Ja, das stimmt.«
«Von Akro-Korinth zum Strandhaus des Angeklagten fährt man etwa drei Stunden. Das habe ich nachprüfen lassen. «Napoleon Chotas wandte sich an die Geschworenen.»Da Constantin Demiris um fünfzehn Uhr in Akro-Korinth war, kann er unmöglich vor achtzehn Uhr in seinem Strandhaus gewesen sein. «Chotas drehte sich wieder zu Spyros Lambrou um.»Sie stehen unter Eid, Herr Lambrou. Ist das, was Sie soeben ausgesagt haben, die reine Wahrheit?«
«Ja, so wahr mir Gott helfe.«
Die Geschworenen berieten vier Stunden lang. Constantin Demiris beobachtete sie gespannt, als sie in den Saal zurückkamen. Er wirkte blaß und ängstlich. Napoleon Chotas achtete nicht auf die Geschworenen. Er konzentrierte sich auf Demiris, dessen Arroganz und Selbstbewußtsein sich verflüchtigt hatten. Er sah wie ein Mann aus, der den Tod vor Augen hat.
«Meine Damen und Herren Geschworenen, sind Sie zu einem Urteilsspruch gelangt?«fragte der Vorsitzende Richter.
Der Geschworenensprecher stand auf.»Ja, Hohes Gericht. Der Angeklagte ist nicht schuldig.«
Im Saal brach ein Tumult aus. Die Zuhörer schrieen durcheinander; manche klatschten Beifall, andere protestierten lautstark.
Constantin Demiris strahlte übers ganze Gesicht. Er atmete tief durch, stand auf und ging zu Napoleon Chotas hinüber.»Leon, du hast es geschafft!«sagte er.»Ich schulde dir viel!«
Chotas sah ihm in die Augen.»Jetzt nicht mehr. Ich bin sehr reich, und du bist sehr arm. Komm, das muß gefeiert werden!«
Demiris schob den Rollstuhl mit dem kleinen Anwalt durchs Gewühl, an den herandrängenden Reportern vorbei und auf den Parkplatz hinaus. Napoleon Chotas deutete auf eine in der Nähe der Einfahrt geparkte schwere Limousine.»Mein Wagen steht dort drüben.«
Constantin Demiris schob ihn zur Fahrertür.»Hast du keinen Chauffeur?«
«Ich brauche keinen. Ich habe den Wagen so umrüsten lassen, daß ich ihn selbst fahren kann. Hilf mir hinein.«
Demiris sperrte die Fahrertür auf und hob Chotas hinter das Lenkrad. Er klappte den Rollstuhl zusammen und legte ihn in den Kofferraum. Danach setzte er sich neben Napoleon Chotas.
«Du bist noch immer der beste Straf Verteidiger der Welt«, behauptete Constantin Demiris.
«Ja. «Chotas legte den ersten Gang ein und fuhr an.»Was hast du jetzt vor, Costa?«
«Oh, ich komme schon irgendwie zurecht«, antwortete Demiris vorsichtig. Mit zehn Millionen Dollar Startkapital kann ich mein Imperium neu aufbauen. Demiris lachte vor sich hin.»Spyros wird verdammt sauer sein, wenn er merkt, wie du ihn reingelegt hast.«
«Aber er kann nichts dagegen machen«, versicherte Chotas ihm.»Mit dem Vertrag, den er unterzeichnet hat, bekommt er eine völlig mittellose Firma.«
Sie fuhren auf die Berge zu. Constantin Demiris beobachtete, wie Chotas die Hebel bediente, die Kupplungs-, Brems- und Gaspedal ersetzten.»Du kommst erstaunlich gut damit zurecht.«
«Was man braucht, das lernt man auch«, antwortete Chotas.
Sie fuhren eine schmale, steile Bergstraße hinauf.
«Wo fahren wir hin?«
«Ich habe dort oben ein kleines Haus. Wir trinken ein Glas Champagner miteinander, und ich lasse dich mit einem Taxi in die Stadt zurückbringen. Weißt du, Costa, ich habe mir meine Gedanken gemacht. Über alles, was passiert ist… Noelle Pages Tod — und Larry Douglas' Tod. Und über den armen Stavros. Dabei ist es nie um Geld gegangen, stimmt's?«Chotas sah kurz zu Demiris hinüber.»Immer nur um Haß. Um Haß und Liebe. Du hast Noelle geliebt, nicht wahr?«
«Ja«, antwortete Constantin Demiris.»Ich habe Noelle geliebt.«
«Ich habe sie auch geliebt«, sagte Napoleon Chotas.»Das hast du nicht geahnt, stimmt's?«
Demiris starrte ihn überrascht an.»Nein, davon hab' ich nichts gewußt.«
«Und trotzdem habe ich dir geholfen, sie zu ermorden. Das habe
ich mir nie verziehen. Hast du dir selbst vergeben, Costa?«
«Sie hat verdient, was sie bekommen hat.«
«Ich glaube, daß wir letztendlich alle verdienen, was wir bekommen. Ich muß dir übrigens noch etwas erzählen. Dieser Brandanschlag…seit der Nacht, in der mein Haus abgebrannt ist, leide ich entsetzliche Schmerzen. Die Ärzte haben versucht, mich wieder zusammenzuflicken, aber das ist ihnen nicht wirklich gelungen. Ich war zu schwer verletzt. «Er gab Gas. Die Reifen quietschten, als der Wagen eine Haarnadelkurve nahm. Tief unter ihnen wurde das Ägäische Meer sichtbar.
«Tatsächlich sind meine Schmerzen so schlimm«, sagte Chotas,»daß ich das Leben nicht mehr lebenswert finde. «Er beschleunigte weiter.
«Langsamer!«forderte Demiris ihn auf.»Du fährst viel zu…«
«Deshalb habe ich beschlossen, daß wir es gemeinsam beenden werden.«
Demiris starrte ihn erschrocken an.»Was soll das heißen? Fahr langsamer, Mann! Du bringst uns noch beide um.«
«Richtig«, bestätigte Chotas. Er drückte den Gashebel bis zum Anschlag durch. Der Wagen machte förmlich einen Satz.
«Du bist verrückt!«schrie Demiris.»Du bist reich! Warum willst du sterben?«
Chotas' Lippen verzogen sich zu einer grausigen Imitation eines Lächelns.»Nein, ich bin nicht reich. Soll ich dir sagen, wer jetzt reich ist? Deine alte Freundin Schwester Theresa. Ich habe dein ganzes Geld dem Kloster in loannina vermacht.«
Sie rasten auf eine ungesicherte Haarnadelkurve zu.
«Halt endlich an!«kreischte Demiris. Er versuchte, Chotas ins Steuer zu greifen, aber der kleine Mann entwickelte überraschende Kräfte.
«Ich gebe dir alles, was du willst!«brüllte Constantin Demiris.»Halt an!«
«Ich habe, was ich will«, sagte Napoleon Chotas.
Im nächsten Augenblick schoß der Wagen über die Kurve hinaus und rollte, sich immer wieder überschlagend, den Steilhang hinunter, bis er endlich tief unten mit einem lauten Klatschen ins Meer fiel. Nach einer gewaltigen Explosion herrschte tiefe Stille.
Es war vorbei.