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Die scheinbar enge Freundschaft zwischen Constantin Demiris und seinem Schwager Spyros Lambrou hatte alle Außenstehenden schon immer verwundert.

Spyros Lambrou war fast so reich und mächtig wie Demiris. Constantin Demiris war Eigner der größten Tankerflotte der Welt; Lambrou gehörte die zweitgrößte. Demiris kontrollierte einen Zeitungskonzern und besaß Fluggesellschaften, Ölfelder, Stahlwerke und Goldminen; Lambrou gehörten

Versicherungsgesellschaften, Banken, Immobilien und ein Chemiewerk. Sie schienen freundschaftlich miteinander zu konkurrieren.

«Ist es nicht wunderbar«, fragten die Leute,»daß zwei der mächtigsten Männer der Welt so gute Freunde sind?«

In Wirklichkeit waren die beiden unversöhnliche Rivalen, die einander verachteten. Als Spyros Lambrou sich eine Dreißigmeterjacht kaufte, orderte Demiris sofort eine Fünfzigmeterjacht mit 13 Mann Besatzung, vier GM-Dieselmotoren, zwei Motorbooten und einem mit Süßwasser gefüllten Swimmingpool.

Als Spyros Lambrous Flotte mit seinem zwölften Tanker die Grenze von 200.000 BRT überschritt, vergrößerte

Constantin Demiris seine eigene Flotte auf 23 Tanker mit 650.000 BRT Gesamttonnage. Als Lambrou sich einen Rennstall zulegte, kaufte Demiris sich einen noch größeren, ließ seine Pferde gegen die seines Schwagers laufen und blieb fast immer Sieger.

Die beiden Männer begegneten sich häufig, denn sie waren in Wohltätigkeitsorganisationen engagiert, gehörten zahlreichen Aufsichtsräten an und nahmen gelegentlich an Familientreffen teil.

Vom Temperament her waren sie einander genau entgegengesetzt. Während Demiris sich aus eigener Kraft aus der Gosse hochgearbeitet hatte, war Lambrou adeliger Herkunft. Er war ein schlanker, eleganter, stets untadelig gekleideter Mann von etwas angestaubter Höflichkeit. Die Familie Lambrou konnte ihre Abstammung auf den Wittelsbacher Prinzen zurückführen, der Griechenland als Otto I. regiert hatte.

In den Wirren der Balkankriege hatte eine kleine Gruppe von Industriellen, Grundstücksmaklern und Reedern gewaltige Vermögen angehäuft. Lambrous Vater hatte dazugehört, und Spyros hatte sein Imperium geerbt.

Spyros Lambrou war ein abergläubischer Mann. Er wußte seine glückhaften Lebensumstände zu schätzen und war ängstlich bedacht, die Götter nicht gegen sich aufzubringen. Von Zeit zu Zeit suchte er Wahrsagerinnen auf, um ihren Rat einzuholen. Er war intelligent genug, um Schwindlerinnen zu durchschauen, aber es gab eine Wahrsagerin, deren Voraussagen mit unheimlicher Genauigkeit eintrafen. Sie hatte die Fehlgeburt seiner Schwester Melina, das Scheitern ihrer Ehe und Dutzende von später eingetretenen Ereignissen richtig vorausgesagt. Sie lebte in Athen.

Sie hieß Madame Piris.

Spyros Lambrou und Constantin Demiris taten schon seit vielen Jahren so, als seien sie gute Freunde. Aber beide waren entschlossen, den anderen zu vernichten. Demiris aus seinem Überlebensinstinkt heraus; Lambrou wegen der empörend schlechten Behandlung Melinas durch seinen Schwager.

Constantin Demiris hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden Morgen um Punkt sechs Uhr in seinem Büro in der Agiou Geronda zu sein. Bis die Konkurrenz zu arbeiten begann, hatte Demiris schon mehrere Stunden mit seinen Vertretern in einem Dutzend Staaten telefoniert.

Demiris' Privatbüro war spektakulär. Riesige Fenster gaben die Aussicht auf das zu seinen Füßen liegende Athen frei. Der Fußboden war aus schwarzem Granit, die Möbel aus Stahl, Glas und Leder. An den Wänden hingen Meisterwerke von Leger und Braque und ein halbes Dutzend Picassos. Demiris thronte hinter einem Schreibtisch in einem hochlehnigen Ledersessel. Auf der Schreibtischplatte lag die in Kristall gefaßte Totenmaske Alexanders des Großen. Die Inschrift darunter lautete: Alexandras. Beschützer des Menschen.

An diesem Morgen klingelte das Telefon, als Constantin Demiris sein Arbeitszimmer betrat. Die Nummer dieses Anschlusses kannten nicht mehr als ein halbes Dutzend Leute. Demiris nahm den Hörer ab. »Oriste?«

«Kalimera. «Der Anrufer war Nikos Veritos, Spyros Lambrous Privatsekretär. Seine Stimme klang nervös.

«Bitte entschuldigen Sie die Störung, Herr Demiris. Aber Sie wollten, daß ich Sie anrufe, wenn ich etwas erfahre, das Ihnen

«Ja. Was gibt's also?«

«Herr Lambrou beabsichtigt, die amerikanische Firma

Aurora International zu kaufen. Sie ist an der New Yorker Börse notiert. Herr Lambrou hat einen Freund im Vorstand, der ihm erzählt hat, daß die Firma einen Großauftrag zum Bau von Bombern erhalten wird. Diese Information muß natürlich streng vertraulich bleiben. Sobald das Geschäft bekanntgegeben wird, dürfte der Kurs der Aurora-Aktien stark… «

«Die Börse interessiert mich nicht!«knurrte Demiris mißgelaunt.»Belästigen Sie mich nicht wieder mit solchen Bagatellen, haben Sie mich verstanden?«

«Verzeihung, Herr Demiris. Ich dachte

Aber Demiris hatte bereits aufgelegt.

Um acht Uhr, als sein Assistent Jannis Charis das Büro betrat, sah Demiris von seinem Schreibtisch auf.»An der New Yorker Börse ist eine Firma Aurora International notiert. Lassen Sie in allen unseren Zeitungen veröffentlichen, daß gegen ihren Vorstand wegen Betrugs ermittelt wird. Die Story soll ausgewalzt werden, bis der Kurs der Aurora-Aktien einbricht. Dann kaufen Sie mir eine Mehrheitsbeteiligung zusammen.«

«Wird sofort erledigt. Sonst noch was?«

«Sobald ich die Aktienmehrheit besitze, lassen Sie bekanntgeben, die Gerüchte seien unbegründet gewesen. Und sorgen Sie dafür, daß die New Yorker Börsenaufsicht erfährt, daß Spyros Lambrou seine Beteiligung aufgrund von inoffiziellen Informationen erworben hat.«

Jannis Charis zögerte.»Herr Demiris, in den Vereinigten Staaten ist das strafbar.«

Constantin Demiris lächelte.»Ich weiß.«

Keine zwei Kilometer weit entfernt arbeitete Spyros in seinem Büro am Syntagmaplatz. Sein mit französischen und italienischen Antiquitäten eingerichtetes Arbeitszimmer war Ausdruck seines guten Geschmacks. Drei der Wände verschwanden unter Gemälden französischer Impressionisten; die vierte Wand war belgischen Malern, von van Rysselberghe bis de Smet, vorbehalten. Auf dem Messingschild am Eingang stand Lambrou & Partner, aber es hatte niemals Partner gegeben.

Spyros Lambrou hätte glücklich sein müssen. Er war reich, hatte Erfolg und erfreute sich bester Gesundheit. Aber solange Constantin Demiris lebte, konnte er nicht wirklich glücklich sein. In seinen Augen war sein Schwager ein Polymichanos, ein trickreicher Mann, ein Gauner ohne Moral. Er hatte Demiris schon immer gehaßt, weil er Melina schlecht behandelte, aber die erbitterte Rivalität der beiden hatte ihre eigenen schrecklichen Gründe.

Begonnen hatte alles vor einigen Jahren mit einem Mittagessen, zu dem Spyros Lambrou seine Schwester eingeladen hatte. Sie hatte ihn noch nie so aufgeregt erlebt.

«Melina, weißt du eigentlich, daß die Welt jeden Tag so viel Erdöl verbraucht, wie die Natur in tausend Jahren hervorgebracht hat?«

«Nein, Spyros.«

«In Zukunft wird der Erdölverbrauch noch gewaltig ansteigen, und es gibt nicht genügend Tanker, um diese Mengen zu transportieren.«

«Hast du vor, welche bauen zu lassen?«

Ihr Bruder nickte.»Aber keine gewöhnlichen Tanker. Ich lasse die erste Flotte von Großtankern bauen. Sie werden doppelt so groß sein wie die bisher eingesetzten Schiffe. «Seine Begeisterung war unüberhörbar.»Ich habe alles monatelang durchgerechnet. Paß auf! Der Rohöltransport vom Persischen Golf zur amerikanischen Ostküste kostet drei Dollar pro Barrel. Durch den Einsatz von Großtankern würden die Kosten auf eineinviertel Dollar pro Barrel sinken. Hast du eine Vorstellung davon, was das bedeuten würde?«

«Spyros — woher willst du das Geld für eine neue Tankerflotte nehmen?«

Ihr Bruder lächelte.»Das ist das Beste an meinem Plan! Sie kostet mich keinen Cent.«

«Unmöglich!«

Er beugte sich vor.»Ich reise nächsten Monat nach Amerika, um mit den Bossen der großen Ölgesellschaften zu sprechen. Mit diesen Tankern kann ich ihr Öl um die Hälfte billiger transportieren, als sie es selbst können.«

«Aber… aber du hast keine Großtanker.«

Sein Lächeln wurde zu einem Grinsen.»Nein, aber wenn ich die Ölgesellschaften dazu bringe, langfristige Charterverträge mit mir abzuschließen, leihen die Banken mir das Geld für den Tankerbau. Na, was hältst du davon?«

«Ich halte dich für ein Genie. Ein brillanter Plan!«

Melina Demiris fand den Plan ihres Bruders so aufregend, daß sie Constantin beim Abendessen davon erzählte.

«Ist seine Idee nicht großartig?«fragte Melina, nachdem sie ihm die Einzelheiten erläutert hatte.

Constantin Demiris schwieg einen Augenblick.»Dein Bruder ist ein Träumer. Das würde nie funktionieren.«

Melina starrte ihn überrascht an.»Warum nicht, Costa?«

«Weil es ein hirnrissiger Plan ist. Erstens wird die Nachfrage nach Erdöl nicht so steil ansteigen, wie er annimmt, so daß seine imaginären Tanker leer fahren werden. Zweitens denken die Ölgesellschaften nicht im Traum daran, ihr kostbares Rohöl einer Phantomflotte anzuvertrauen, die noch gar nicht existiert. Und drittens werden alle Banker, die er aufsuchen will, ihn gnadenlos abblitzen lassen.«

Melina verzog enttäuscht das Gesicht.»Spyros war so begeistert… Willst du nicht mal mit ihm darüber reden?«

Demiris schüttelte den Kopf.»Laß ihm seinen Traum, Melina. Am besten erzählst du ihm nicht mal, daß wir darüber gesprochen haben.«

«Wie du meinst, Costa.«

Am nächsten Morgen flog Constantin Demiris in aller Frühe in die Vereinigten Staaten, um über Großtanker zu verhandeln. Wie er wußte, wurden die Erdölreserven außerhalb der USA und des Ostblocks von den» Sieben Schwestern «kontrolliert: Standard Oil of

New Jersey, Standard Oil of California, Gulf Oil, Texas Company, Socony-Vacuum, Royal Dutch-Shell und Anglo-Iranian. Und er wußte, daß die anderen nachziehen würden, wenn es ihm gelang, nur eine von ihnen zu überzeugen.

Constantin Demiris' erster Besuch galt der Zentrale der Standard Oil of New Jersey. Er hatte einen Termin bei Owen Curtiss, einem der Vizepräsidenten.

«Was kann ich für Sie tun, Mr. Demiris?«

«Ich möchte Sie mit einem Projekt bekannt machen, das Ihrer Gesellschaft große finanzielle Vorteile bringen könnte.«

«Ja, das haben Sie am Telefon bereits angedeutet. «Curtiss warf einen Blick auf seine Armbanduhr.»Ich habe in wenigen Minuten einen Termin. Machen Sie es also kurz.«

«Ich werde es sehr kurz machen. Im Augenblick kostet Sie der Rohöltransport vom Persischen Golf zur amerikanischen Ostküste drei Dollar pro Barrel.«

«Das ist richtig.«

«Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen garantieren könnte, daß ich Ihr Rohöl für eineinviertel Dollar pro Barrel transportiere?«

Curtiss lächelte gönnerhaft.»Wie wollen Sie dieses Wunder fertigbringen?«

«Indem ich eine Flotte von Großtankern bauen lasse«, antwortete Demiris ruhig.»Jeder Tanker faßt die doppelte Menge wie die bisher üblichen. Damit kann ich Ihr Rohöl so schnell transportieren, wie Sie es aus dem Boden pumpen.«

Curtiss betrachtete ihn mit nachdenklicher Miene.»Und woher wollen Sie eine Großtankerflotte nehmen?«

«Die lasse ich bauen.«

«Tut mir leid, aber wir sind nicht an Beteiligungen interessiert, die…«- Demiris unterbrach ihn.»Es würde Sie keinen Cent kosten! Ich möchte nur einen langfristigen Vertrag für den Transport Ihres Öls zur Hälfte des Preises, den Sie im Augenblick zahlen müssen. Die Finanzierung werden Banken übernehmen.«

Ein langes, bedeutungsschweres Schweigen folgte. Dann räusperte Owen Curtiss sich.»Ich glaube, wir fahren mal nach oben, damit unser Präsident Sie kennenlernt.«

Damit war der Anfang gemacht. Auch die übrigen Ölgesellschaften zeigten sich bereit, Constantin Demiris' neue Großtanker zu chartern. Als Spyros Lambrou mitbekam, was dort geschah, war es bereits zu spät. Er flog nach Amerika und konnte noch mit einigen unabhängigen Ölgesellschaften Charterverträge für seine Großtanker abschließen, aber Demiris hatte bereits abgesahnt.

«Er ist dein Mann«, wütete Spyros,»aber ich schwöre dir, Melina, daß ich ihm das eines Tages heimzahle!«

Melina war bei dem Gedanken daran, wie ihr Bruder reingelegt worden war, ganz elend zumute. Sie hatte das Gefühl, ihn verraten zu haben.

Aber als sie Constantin Vorwürfe machte, zuckte der nur die Achseln.»Ich bin nicht zu ihnen gegangen, Melina. Sie sind zu mir gekommen. Wie hätte ich sie abweisen können?«

Und damit war die Diskussion beendet.

Nikos Veritos, Lambrous Assistent, betrat das Büro seines Chefs. Veritos arbeitete nun schon fünfzehn Jahre bei Spyros Lambrou. Er war kompetent, aber phantasielos, ein Mann ohne Zukunft, grau und gesichtslos. Die Rivalität zwischen den beiden Schwägern bot Veritos eine seiner Überzeugung nach goldene Gelegenheit. Er setzte darauf, daß Constantin Demiris siegen würde, hinterbrachte ihm gelegentlich vertrauliche Informationen und hoffte, später dafür belohnt zu werden.

Veritos blieb vor Lambrous Schreibtisch stehen.»Verzeihung, Herr Lambrou, draußen wartet ein Mr. Anthony Rizzoli, der Sie sprechen möchte.«

Sein Chef seufzte.»Bringen wir's also hinter uns! Schicken Sie ihn rein.«

Anthony Rizzoli war ein Mittvierziger mit schwarzem Haar, einer schmalen Adlernase und tiefliegenden braunen Augen. Er bewegte sich mit der Leichtfüßigkeit eines trainierten Boxers. Zu einem teuren cremeweißen Maßanzug trug er ein gelbes Seidenhemd und weiche Slipper. Obwohl er höflich und zurückhaltend auftrat, hatte er etwas Verschlagenes an sich.

«Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Lambrou.«

«Nehmen Sie Platz, Mr. Rizzoli. Was kann ich für Sie tun?«

«Nun, wie ich Mr. Veritos schon erklärt habe, möchte ich einen Ihrer Frachter chartern. Ich habe eine Maschinenfabrik in Marseille und will einige Schwermaschinen in die Vereinigten Staaten verschiffen. Falls wir uns einig werden, können Sie in Zukunft mit lukrativen Folgeaufträgen rechnen.«

Spyros Lambrou lehnte sich in seinen Sessel zurück und betrachtete den vor ihm Sitzenden. Widerwärtig.»Ist das alles, was Sie zu verschiffen beabsichtigen, Mr. Rizzoli?«erkundigte er sich.

Tony Rizzoli runzelte die Stirn.»Wie meinen Sie das? Tut mir leid, ich verstehe Sie nicht.«

«Doch, Sie verstehen mich recht gut«, antwortete Lambrou.»Ihnen stehen meine Schiffe nicht zur Verfügung.«

«Warum nicht? Wovon reden Sie überhaupt?«

«Von Drogen, Mr. Rizzoli. Sie sind Drogenhändler.«

Rizzoli kniff die Augen zusammen.»Unsinn! Sie werden doch nicht auf Gerüchte hereinfallen.«

Lambrous Informationen basierten jedoch keineswegs nur auf Gerüchten, denn er hatte den Mann sorgfältig überprüfen lassen. Tony Rizzoli gehörte zur Mafia und galt als einer der erfolgreichsten Drogenhändler Europas, aber in der Branche hieß es, Rizzoli habe Schwierigkeiten, neue Lieferungen zu arrangieren. Das war der Grund, warum er mit Lambrou unbedingt ins Geschäft kommen wollte.

«Ich fürchte, Sie werden sich einen anderen Reeder suchen müssen.«

Tony Rizzoli saß da, starrte Lambrou mit kaltem Blick an und nickte zuletzt.»Okay. «Er zog seine Visitenkarte aus der Jackentasche und warf sie auf den Schreibtisch.»Sollten Sie sich die Sache doch noch anders überlegen, erreichen Sie mich unter dieser Adresse. «Er stand auf und ging.

Spyros Lambrou griff nach der Karte. Unter den beiden Zeilen ANTHONY RIZZOLI und Export — Import las er Anschrift und Telefonnummer eines Athener Hotels.

Nikos Veritos hatte das Gespräch mit großen Augen verfolgt. Als Tony Rizzoli die Tür hinter sich geschlossen hatte, fragte er:»Ist er wirklich ein…?«

«Ja. Rizzoli handelt mit Heroin. Überließen wir ihm jemals eines unserer Schiffe, würden wir riskieren, daß der Staat unsere gesamte

Flotte beschlagnahmt.«

Tony Rizzoli verließ Lambrous Arbeitszimmer vor Wut kochend. Dieser Scheißgrieche hat mich behandelt wie einen Bauernlümmel von der Straße. Und woher hat er von dem Deal gewußt! Die Lieferung bringt mindestens zehn Millionen Dollar. Aber wie mache ich das mit dem Transport nach New York? Ich werd' in Sizilien anrufen und noch etwas mehr Zeit rausschinden.

Tony Rizzoli war noch kein Deal durch die Lappen gegangen, und er würde es auch diesmal schaffen. Er hielt sich für den geborenen Sieger.

In New York war Rizzoli in Hell's Kitchen aufgewachsen, einem Stadtteil an der Westseite von Manhattan, zwischen 8th Avenue und Hudson River, im Norden und Süden von der 23rd und 59th Street begrenzt. Hell's Kitchen war eine Stadt in der Stadt, eine waffenstarrende Enklave; seine Straßen wurden von Banden beherrscht; Mordaufträge wurden für 100 Dollar Kopfgeld übernommen; durfte das Opfer zuvor mißhandelt werden, gab es sogar Rabatt.

Die Bewohner von Hell's Kitchen hausten in verfallenen und verwahrlosten Mietskasernen, in denen es von Läusen, Ratten und Wanzen nur so wimmelte. Den Mangel an hygienischen Einrichtungen glichen die Kids des Viertels auf ihre Weise aus: Sie sprangen nackt von den Docks in den Hudson River — in Eintracht mit den ungeklärten Abwässern von Hell's Kitchen. Ihre Spielplätze waren die Straßen, die Docks, die Flachdächer der Mietskasernen, zu Müllbergen verkommene unbebaute Grundstücke und — im Sommer — der einer Kloake gleichende North River. Und über allem lag der beißende Geruch von Armut.

In dieser Umgebung war Tony Rizzoli aufgewachsen.

Rizzolis Erinnerungen an seine Kindheit reichten bis zu jenem Tag zurück, an dem zwei Jungen ihn niedergeschlagen und ihm das Milchgeld gestohlen hatten. Damals war er vier Jahre alt gewesen. Ältere und größere Jungen stellten eine ständige Bedrohung dar. Der Schulweg war ein Niemandsland und die Schule selbst ein Schlachtfeld. Mit 15 hatte Rizzoli eisenharte Muskeln und wußte seine Fäuste zu gebrauchen. Er boxte gern, und da er kaum einen Gegner zu fürchten hatte, verschaffte ihm das ein gewisses Gefühl der Überlegenheit. Seine Freunde und er veranstalteten Boxkämpfe im Stillman's Gym.

Manche Gangsterbosse kamen gelegentlich vorbei, um zu beobachten, wie die ihnen gehörenden Berufsboxer trainierten. Frank Costello erschien ein- bis zweimal im Monat, meistens mit Joe Adonis und Lucky Luciano im Schlepptau. Sie hatten Spaß an den Boxkämpfen der Jugendlichen und begannen schließlich sogar Wetten abzuschließen. Der Dauersieger Tony Rizzoli wurde rasch zum Favoriten der Gangster.

Beim Umziehen bekam Rizzoli eines Tages ein Gespräch zwischen Frank Costello und Lucky Luciano im Umkleideraum mit.»Der Junge ist 'ne Goldmine«, sagte Luciano.»Ich hab' letzte Woche auf ihn gesetzt und fünf Riesen gewonnen.«

«Hast du vor, beim Kampf gegen Lou Domenic auf ihn zu setzen?«

«Klar. Und diesmal gleich zehn Riesen.«

Da Tony die Bedeutung dieses Gesprächs nicht so richtig klar war, ging er zu seinem älteren Bruder Gino und erzählte ihm davon.»Jesus!«rief sein Bruder aus.»Die Jungs setzen 'ne Menge Geld auf dich!«

«Aber warum? Ich bin doch kein Profi.«

Gino überlegte kurz.»Du hast noch keinen Kampf verloren, oder, Tony?«

«Richtig.«

«Wahrscheinlich haben sie anfangs nur aus Spaß gewettet, aber als sie gesehen haben, was du kannst, sind sie groß eingestiegen.«

Der Jüngere zuckte mit den Schultern.»Und wennschon! Mir kann's egal sein.«

Gino legte ihm eine Hand auf den Arm.»Damit ist 'ne Menge Geld zu machen«, sagte er beschwörend.»Für beide von uns. Hör mir mal zu, Kleiner…«

Der Kampf gegen Lou Domenic fand an einem Freitagnachmittag im Stillman's Gym statt, und die Big Boys waren fast vollzählig versammelt: Frank Costello, Joe Adonis, Albert Anastasia, Lucky Luciano und Meyer Lansky, Sie hatten Spaß daran, die Kids boxen zu sehen, aber noch mehr Spaß verschaffte ihnen die Tatsache, daß sie eine Möglichkeit entdeckt hatten, mit ihnen Geld zu verdienen.

Lou Domenic war 17 — ein Jahr älter als Tony und drei Kilo schwerer. Aber er hatte Tony Rizzolis technischen Fähigkeiten und seinem Killerinstinkt nicht viel entgegenzusetzen.

Der Kampf ging über fünf Runden. Die ersten drei Runden entschied Tony mühelos für sich, und die Gangster zählten bereits ihr Geld.

«Der Junge wird noch mal Weltmeister!«rief Lucky Luciano begeistert aus.»Wieviel hast du auf ihn gesetzt?«

«Zehn Riesen«, antwortete Frank Costello.»Die beste Quote ist fünfzehn zu eins gewesen. Der Junge hat 'nen guten Ruf.«

Und dann geschah plötzlich das Unerwartete. Zur Hälfte der fünften Runde schickte Lou Domenic seinen Gegner mit einem Uppercut zu Boden. Der Ringrichter begann zu zählen… sehr langsam, während er die mit versteinerten Mienen dasitzenden Zuschauer ängstlich im Auge behielt.

«Steh auf, du kleines Miststück!«kreischte Joe Adonis.»Steh auf und mach weiter!«

Der Ringrichter zählte langsam weiter und kam selbst bei diesem Tempo schließlich bis zehn. Tony Rizzoli lag noch immer bewußtlos auf der Matte.

«Dieser Hurensohn! Ein einziger Zufallstreffer!«

Die Männer begannen, ihre Verluste zusammenzurechnen. Sie hatten eine Menge Geld verloren. Gino Rizzoli schleppte seinen Bruder in den Umkleideraum. Tony hielt die Augen fest geschlossen, denn er fürchtete, man könnte merken, daß er bei Bewußtsein war, und ihm etwas Schreckliches antun. Tony wagte erst aufzuatmen, als er sicher zu Hause angelangt war.

«Wir haben's geschafft!«rief sein Bruder aufgeregt.»Hast du 'ne Ahnung, wieviel Geld wir verdient haben? Fast tausend Dollar, Mann!«

«Das versteh' ich nicht. Ich

«Ich hab' bei ihren eigenen Shylocks Geld aufgenommen, um auf Domenic zu wetten, und 'ne Quote von eins zu fünfzehn gekriegt. Wir sind reich!«

«Sind sie jetzt nicht sauer?«fragte Tony.

Gino winkte grinsend ab.»Das kriegen sie nie raus!«

Als Tony Rizzoli am nächsten Tag aus der Schule kam, wartete eine lange schwarze Limousine am Straßenrand. Im Fond saß Lucky Luciano. Er winkte den Jungen zu sich heran.»Steig ein.«

Tonys Herz begann zu jagen.»Ich kann nicht, Mr. Luciano, ich muß

«Steig ein!«

Er gehorchte.»Fahr um den Block«, wies Lucky Luciano seinen Fahrer an.

Gott sei Dank fährt er nicht mit mir weg, um mich irgendwo umzulegen!

Luciano wandte sich an den Jungen.»Du hast Fallobst gespielt«, stellte er nüchtern fest.

Tony wurde rot.»Nein, Sir. Ich…«

«Erzähl mir keinen Scheiß! Wieviel hast du mit dem Kampf verdient?«

«Nichts, Mr. Luciano. Ich

«Ich frage dich noch mal: Wieviel hat dir deine Show eingebracht?«

Der Junge zögerte,»'nen Tausender.«

Lucky Luciano lachte.»Ein besseres Taschengeld! Aber für 'nen… wie alt bist du?«

«Fast sechzehn.«

«Für 'nen Sechzehnjährigen ist das gar nicht so schlecht. Dir ist hoffentlich klar, daß du meine Freunde und mich 'ne Menge Geld gekostet hast.«

«Das tut mir leid. Ich

«Schon gut. Du bist ein cleverer Junge. Du hast Zukunft.«

«Danke, Mr. Luciano.«

«Was du mir erzählt hast, bleibt unter uns, Tony. Du weißt, was man mit Leuten wie dir sonst macht? Aber ich möchte, daß du am Montag zu mir kommst. Wir sollten uns einmal darüber unterhalten, wie du in Zukunft für mich arbeitest.«

In der Woche danach arbeitete Tony Rizzoli bereits für Lucky Luciano. Er begann mit illegaler Zahlenlotterie auf der Straße und wurde dann Geldeintreiber. Da er begabt und clever war, arbeitete er sich stetig hoch, bis er zuletzt Lucianos rechte Hand war.

Als Lucky Luciano dann verhaftet, verurteilt und ins Gefängnis gesteckt wurde, blieb Tony Rizzoli bei Lucianos Organisation.

Die» Familien «betrieben Glücksspiel, Geldverleih zu Wucherzinsen, Prostitution und alles andere, womit sich illegale Gewinne erzielen ließen. Rauschgifthandel wurde im allgemeinen abgelehnt, aber da einige Mitglieder darauf bestanden, sich damit zu befassen, gestatteten die Familien ihnen widerstrebend, sich als Dealer selbständig zu machen.

Der Gedanke an dieses Geschäft setzte sich bei Tony Rizzoli fest. Soviel er bisher gesehen hatte, waren die Drogenhändler völlig desorganisiert. Bei denen gibt's viel zuviel Leerlauf. Mit dem richtigen Kopf und ordentlich Muskeln dahinter…

Er traf seine Entscheidung.

Tony Rizzoli war kein Mann, der sich blindlings in ein Abenteuer stürzte. Er begann damit, daß er alles schluckte, was er an Informationen über Heroin auftreiben konnte.

Heroin wurde rasch zum König der Rauschgifte. Kokain oder Marihuana machten» high«, aber Heroin rief die totale Euphorie hervor — keine Schmerzen, keine Probleme, keine Sorgen.

Die Türkei gehörte zu den größten Anbauern von Mohn, aus dem sich Heroin gewinnen ließ.

Die Familie unterhielt Verbindungen dorthin, und Tony wandte sich an Pete Lucca, einen der führenden Köpfe.

«Ich steige ins Drogengeschäft ein«, sagte Rizzoli.»Aber alles, was ich tue, wird auch der Familie zugute kommen. Das wollte ich dir nur noch mal sagen.«

«Du bist ein guter Junge gewesen, Tony.«

«Ich möchte mich in der Türkei umsehen. Kannst du das arrangieren?«

Der Alte zögerte.»Gut, ich melde dich an. Aber diese Leute sind nicht wie wir, Tony. Sie sind unzivilisiert. Wenn sie dir nicht trauen, legen sie dich um.«

«Keine Angst, ich bin vorsichtig.«

«Komm gesund wieder.«

Zwei Wochen später trat Tony Rizzoli seine Reise in die Türkei an.

Er reiste nach Izmir, Afyon und Eskischir, wo Mohn angebaut wurde, und stieß anfangs überall auf tiefstes Mißtrauen. Er war ein Fremder, und Fremde waren nirgendwo willkommen.

«Wir können groß miteinander ins Geschäft kommen«, sagte Rizzoli.»Ich würde mir gern mal die Mohnfelder ansehen.«

Ein Schulterzucken.»Von Mohnfeldern wissen wir nichts. Sie vergeuden hier bloß Ihre Zeit. Fahren Sie heim.«

Aber Rizzoli ließ nicht locker. Er setzte durch, daß ein halbes Dutzend Telefongespräche geführt und verschlüsselte Kabelbotschaften ausgetauscht wurden. Zuletzt sollte er in Kilis nahe der türkisch-syrischen Grenze die Mohnernte auf den Plantagen des Großgrundbesitzers Carella beobachten dürfen.

«Ich verstehe es nicht«, sagte Rizzoli.»Wie macht man Heroin aus 'ner gottverdammten Blume?«

Ein Chemiker in einem weißen Kittel erklärte es ihm.»Das erfordert mehrere Schritte, Mr. Rizzoli. Heroin wird aus Morphium gewonnen, das durch die Behandlung von Opium mit Essigsäure entsteht. Der Rohstoff Opium wird aus Papaver somniferum, dem Schlafmohn, gewonnen und verdankt seinen Namen dem griechischen Wort Opos, Saft.«

«Schon kapiert.«

Zur Erntezeit wurde Rizzoli dann auf Carellas Gut eingeladen. Jedes Mitglied von Carellas Familie besaß ein sichelförmiges Messer, mit dem die Pflanzen sorgfältig angeschnitten wurden.»Die reifen Mohnkapseln müssen binnen vierundzwanzig Stunden abgeerntet werden«, erklärte Carella ihm,»sonst ist die Ernte verloren.«

Die insgesamt neun Familienangehörigen arbeiteten wie besessen, um die Ernte rechtzeitig unter Dach und Fach zu bringen. Die Luft war geschwängert von betäubenden Dämpfen.

Rizzoli fühlte sich benommen.»Vorsicht!«warnte Carella ihn.»Bleiben Sie wach! Wer sich ins Mohnfeld legt, steht nie mehr auf.«

Während der 24stündigen Ernteperiode wurden die Türen und Fenster des Gutshauses fest geschlossen gehalten.

Nachdem die Mohnkapseln abgeerntet waren, beobachtete Rizzoli in einem» Labor «in den Hügeln, wie aus dem geronnenen Mohnsaft erst Morphinbase und dann Heroin gewonnen wurde.

«Das war's also, wie?«

Carella schüttelte den Kopf.»Nein, mein Freund. Das war erst der Anfang. Die Heroinproduktion ist der leichteste Teil. Jetzt geht's darum, die Ware zu transportieren, ohne erwischt zu werden.«

Tony Rizzolis Erregung wuchs. Genau hier würde er mit seiner Erfahrung ansetzen. Bisher war dieses Geschäft von Amateuren betrieben worden. Jetzt würde er ihnen zeigen, wie ein Profi arbeitete…

«Wie transportieren Sie das Zeug?«

«Da gibt's viele Möglichkeiten. Auto, Lastwagen, Bus, Eisenbahn, Maultiere, Kamele

«Kamele?«

«Früher haben wir Heroin in verlöteten Büchsen im Magen von Kamelen geschmuggelt — bis die Grenzer angefangen haben, Metalldetektoren zu benutzen. Deshalb sind wir zu Gummibeuteln übergegangen. Am Ziel werden die Kamele dann geschlachtet. Leider kann's passieren, daß diese Beutel im Kamelmagen platzen und die Tiere nur noch über die Grenze torkeln. Dann wissen die Grenzer natürlich auch, was läuft.«

«Welche Routen benutzen Sie?«

«Meistens schicken wir die Ware über Haleb und Beirut nach Marseille. Oder sie gelangt aus Istanbul über Griechenland nach Sizilien und von dort aus über den Atlantik. Weniger wichtige Routen führen über Korsika und Marokko.«

«Ich weiß Ihre Unterstützung sehr zu schätzen«, sagte Rizzoli.»Sie können sich darauf verlassen, daß ich den Jungs davon erzähle. Aber ich möchte Sie noch um einen weiteren Gefallen bitten.«

«Ja?«

«Ich möchte den nächsten Transport begleiten.«

Daraufhin folgte eine lange Pause.»Es könnte gefährlich werden.«

«Das riskiere ich.«

Am nächsten Nachmittag lernte Tony Rizzoli einen hünenhaften Banditen mit imposantem Schnurrbart und gewaltigen Muskelpaketen kennen.»Das ist Mustafa aus Afyon. Auf türkisch heißt Afyon Opium. Mustafa ist einer unserer geschicktesten Schmuggler.«

«Man muß schon geschickt sein«, sagte Mustafa bescheiden.»Es gibt viele Gefahren.«

Tony Rizzoli grinste.»Aber das Risiko lohnt sich, was?«»Sie sprechen von Geld«, stellte Mustafa würdevoll fest,»aber für uns ist Opium mehr als ein geldbringendes Erzeugnis. Der weiße Mohnsaft ist ein Geschenk Allahs, ein wahres Elixier, das in kleinen Mengen als Heilmittel wirkt. Innerlich oder äußerlich angewandt, kuriert er alltägliche Beschwerden — Magenverstimmung, Erkältung, Fieber, Schmerzen, Verstauchungen. Aber er ist mit Vorsicht zu gebrauchen. Nimmt man zu große Mengen, betäubt er nicht nur die Sinne, sondern raubt einem auch die Manneskraft, und in der Türkei wird ein Mann durch nichts so sicher seiner Ehre beraubt wie durch Impotenz.«»Wenn Sie meinen.«

Zwei Stunden nach Sonnenuntergang brachen sie von Afyon auf. Aus dem Dunkel der mondlosen Nacht tauchten Bauern mit mehreren Maultieren auf, um sich mit Mustafa zu treffen. Ihre kräftigen Tiere waren mit insgesamt 700 Kilogramm Opium beladen. Süßlicher, an nasses Heu erinnernder Opiumgeruch umgab die Männer. Begleitet wurden die Mulitreiber von einem weiteren Dutzend Bauern, die den Opiumtransport unterwegs sichern sollten. Jeder dieser Bauern war mit einem Gewehr bewaffnet.

«Heutzutage müssen wir vorsichtig sein«, erklärte Mustafa Rizzoli.»Interpol und die hiesige Polizei fahnden nach uns. In der guten alten Zeit hat unsere Arbeit mehr Spaß gemacht. Manchmal haben wir das Opium in einem schwarzverhängten Sarg durch Dörfer und Städte transportiert. Es war ein herzerwärmender Anblick, wenn Männer den Hut abnahmen und Polizisten den >Leichenzug< respektvoll grüßten.«

Die Provinz Afyon liegt in der Mitte des östlichen Drittels der Türkei, am Fuß der Sultanberge auf einer einsamen, weit von allen

Großstädten des Landes entfernten Hochebene.

«Für unsere Arbeit ist dieses Gebiet besonders gut geeignet«, erklärte Mustafa.»Hier sind wir nur schwer zu finden.«

Die Maultierkarawane zog langsam durch das karge Bergland und erreichte kurz nach Mitternacht die türkisch-syrische Grenze. Dort wurden die Schmuggler von einer schwarzgekleideten Frau erwartet. Sie führte ein mit einem harmlosen Sack Mehl beladenes Pferd, an dessen Sattelhorn ein dünnes Hanfseil befestigt war. Das fast hundert Meter lange Seil hing hinter dem Pferd herab, ohne jemals den Boden zu berühren. Ein Ende war am Sattel festgeknotet, und den Rest des Seils hielten Mustafa und die Männer hinter ihm in den Händen.

Sie schlichen tiefgebückt weiter, umklammerten mit einer Hand das Leitseil und hielten mit der anderen einen Jutesack Opium auf ihrer Schulter fest. Jeder Sack wog fünfunddreißig Kilo. Die Frau und ihr Pferd durchquerten das mit Tellerminen gesicherte Grenzgebiet durch eine Gasse, die am Vortag durch eine über die Grenze getriebene kleine Schafherde geschaffen worden war. Fiel das Seil zu Boden, waren Mustafa und seine Männer gewarnt, daß vor ihnen eine Grenzpatrouille aufgetaucht war. Wurde die Frau dann abgeführt, war der Weg für die Schmuggler frei.

Nachdem die Kolonne das verminte, von Patrouillen kontrollierte Grenzgebiet durchquert hatte, marschierte sie durch die fünf Kilometer breite Pufferzone und erreichte den vereinbarten Treffpunkt, wo sie von syrischen Schmugglern empfangen wurde. Die Männer warfen ihre Last ab und nahmen dankbar eine Flasche Raki entgegen, die sie herumgehen ließen. Rizzoli beobachtete, wie die Ware geprüft, gewogen und auf zehn schmutzige syrische Esel verladen wurde. Damit war ihre Arbeit getan.

Okay, dachte Rizzoli, jetzt wollen wir mal sehen, wie die Jungs in Thailand arbeiten.

Tony Rizzolis nächstes Ziel war Bangkok. Nachdem er sich legitimiert hatte, durfte er auf einem thailändischen Fischerboot mitfahren, dessen Fracht aus Opium in Plastikbeuteln bestand, die man in alten Ölfässern mit angeschweißten Ringen verstaut hatte. Vor der Einfahrt nach Hongkong warfen die Boote diese Fässer dann in ordentlicher Reihe ins seichte Wasser, aus dem einheimische Fischer sie mit Greif haken mühelos bergen konnten.

Nicht übel, dachte Rizzoli. Aber es muß eine bessere Methode geben.

Die Erzeuger sprachen vom Heroin als» H «oder» Horse«, aber für Tony Rizzoli war es reines Gold. Die Gewinne waren atemberaubend hoch. Für zehn Kilo Rohopium erhielten die Mohnbauern 350 Dollar, aber der weiterverarbeitete Stoff brachte in New York im Straßen verkauf 250.000 Dollar.

Ein Kinderspiel! dachte Rizzoli. Carella hat recht gehabt — man darf sich bloß nicht erwischen lassen.

So war es zu Anfang gewesen, aber jetzt war das Geschäft schwieriger geworden. Erst kürzlich hatte Interpol der Bekämpfung des Drogenhandels absolute Priorität eingeräumt. Alle auch nur im geringsten verdächtig wirkenden Schiffe, die aus den bekannten Schmuggelhäfen ausliefen, wurden von der Polizei durchsucht.

Das war der Grund, warum Rizzoli Spyros Lambrou aufgesucht hatte. Dessen Flotte war so renommiert, daß keine Durchsuchung zu befürchten gewesen wäre. Aber der Schweinehund hatte ihn abgewiesen. Ich finde eine andere Möglichkeit, dachte Rizzoli. Aber ich muß sie verdammt schnell finden.

«Catherine… störe ich etwa?«

Es war kurz vor Mitternacht.»Nein, Costa. Es ist schön, deine Stimme zu hören.«

«Bei dir alles in Ordnung?«

«Ja — und das verdanke ich dir. Die Arbeit macht mir großen Spaß.«

«Wunderbar. Hör zu, ich komme in zwei, drei Wochen wieder nach London. Ich freue mich darauf, dich wiederzusehen.«Vorsichtig. Nichts überstürzen.»Ich möchte mit dir über einige Leute in der Firma sprechen.«

«Gern.«

«Schön, dann bis bald. Gute Nacht, Catherine.«

«Gute Nacht, Costa.«

Diesmal rief sie ihn an.»Costa… ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Das Medaillon ist wunderschön. Aber ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn du mir… «

«Es ist ein kleines Dankeschön, Catherine. Evelyn erzählt mir immer wieder, wie gut du dich eingearbeitet hast. Ich wollte dir nur meine Anerkennung ausdrücken.«

Wie einfach alles ist! dachte Demiris. Komplimente und kleine Geschenke. Später dann: Meine Frau und ich sind dabei, uns zu trennen.

Danach das» Ich-bin-so-einsam«-Stadium.

Zuletzt vage angedeutete Heiratsabsichten und eine Einladung auf seine Jacht und seine Privatinsel. Die Masche funktionierte immer. Aber diesmal ist es besonders aufregend, weil die Sache anders enden wird…

Er rief Napoleon Chotas an.

Der Rechtsanwalt war erfreut, von ihm zu hören.»Wir haben uns eine Ewigkeit nicht mehr gesehen, Costa. Bei dir alles in Ordnung?«

«Ja, danke. Hör zu, du mußt mir einen Gefallen tun.«

«Selbstverständlich.«

«Noelle Page hat eine kleine Villa in Rafina gehört. Ich möchte, daß du sie als Strohmann für mich kaufst.«

«Wird erledigt. Ich beauftrage einen Kollegen aus meiner Kanzlei damit, sie…»

«Ich möchte, daß du die Sache selbst in die Hand nimmst.«

Der Anwalt antwortete nicht gleich. «Gut, wie du willst. Ich kümmere mich persönlich darum.«-»Danke.«

Napoleon Chotas saß da und starrte das Telefon an. Diese Villa war das Liebesnest gewesen, in dem Noelle Page und Larry Douglas sich getroffen hatten. Was hat Constantin Demiris damit vor?

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