Eine Stunde vor Sonnenaufgang begann die Maschine ihren Landeanflug. Nate hatte das Frühstück verschlafen, und als er wach wurde, brachte eine Stewardess eilends Kaffee.
Sao Paulo wurde sichtbar, eine Stadt, die sich über gut zweitausend Quadratkilometer ausbreitete. Er hielt den Blick auf das Lichtermeer unter sich gerichtet und fragte sich, wie es möglich war, dass eine einzige Stadt zwanzig Millionen Einwohner hatte.
Der Flugkapitän wünschte den Gästen an Bord einen guten Morgen und sagte dann in raschem Portugiesisch mehrere Sätze, von denen Nate nichts verstand. Die englische Übersetzung, die darauf folgte, war nicht viel
verständlicher. Hoffentlich würde er nicht gezwungen sein, sich mit Gesten und Grunzlauten seinen Weg durch das Land zu bahnen. Einen Augenblick lang machten ihm die Sprachschwierigkeiten Sorge, doch vergaß er sie, als ihn eine hübsche brasilianische Stewardess aufforderte, den Sicherheitsgurt anzulegen.
Im Flughafen, der von Menschen wimmelte, war es heiß. Er holte seine nagelneue Reisetasche vom Gepäckband, ging durch den Zoll, ohne dass jemand auch nur einen Blick darauf warf, und gab sie am Varig-Schalter für den Flug nach Campo Grande erneut auf. Dann suchte er ein Cafe, in dem eine Speisekarte an der Wand hing. Er wies darauf, sagte Espresso, und die Kassiererin tippte den Betrag ein. Sie betrachtete sein amerikanisches Geld zwar missbilligend, gab ihm aber heraus. Ein bras ilianischer Real entsprach einem Dollar. Nate besaß jetzt einige Reais.
Er schlürfte den Kaffee Schulter an Schulter mit einigen ungesittet wirkenden japanischen Touristen. Um ihn herum ertönte ein Sprachengewirr; Deutsch und Spanisch vermischte sich mit dem Portugiesisch der Lautsprecheransagen. Hätte er sich einen Sprachführer gekauft, dann könnte er wenigstens das eine oder andere Wort verstehen.
Allmählich spürte er, wie er sich von der Außenwelt abkoppelte. Inmitten der Menge war er einsam. Er kannte keine Menschenseele. Fast niemand wusste, wo er sich befand, und kaum jemandem war es wichtig. Der Zigarettenrauch der Touristen stieg um ihn herum auf, und er ging rasch in die Haupthalle, wo er die Decke zwei Stockwerke über sich und das Erdgeschoß unter sich sehen konnte. Mit der schweren Aktentasche in der Hand begann er ziellos durch die Menge zu streifen und verfluchte Josh, weil er sie mit soviel unnützem Kram gefüllt hatte.
Er hörte jemanden laut Englisch sprechen und trat näher. Einige Geschäftsleute warteten unweit vom Schalter der United Airlines, und er suchte sich einen Platz in ihrer Nähe. Er hörte, dass es in Detroit schneite und sie unbedingt an Weihnachten zu Hause sein wollten. Sie arbeiteten in Brasilien an einer Pipeline, und schon bald war Nate ihres Gewäschs müde. Sie hatten seine Anwandlung von Heimweh rasch kuriert.
Sergio fehlte ihm. Nach der letzten Entziehungskur hatte die Klinik Nate eine Woche lang in ein Haus zur Wiedereingewöhnung gesteckt, um ihm den Übergang zurück ins Alltagsleben zu erleichtern. Ihm war das Haus ebenso zuwider gewesen wie der Tagesablauf dort, aber im Rückblick war die Idee nicht unvernünftig. Man brauchte einige Tage, um sich wieder zurechtzufinden. Vielleicht hatte Sergio recht. Er rief ihn von einer Telefonzelle aus an und weckte ihn. In Sao Paulo war es halb sieben, in Virginia aber erst halb fünf.
Es machte Sergio nichts aus. Das gehörte mit zum Job.
In der Maschine, die nach Campo Grande flog, einer Boeing 727, gab es weder eine erste Klasse noch auch nur einen freien Platz. Angenehm überrascht merkte Nate, dass sämtliche Fluggäste ihr Gesicht in bemerkenswert viele verschiedene Tageszeitungen steckten, die ebenso gut aufgemacht und modern waren wie die in den Vereinigten Staaten. Die Menschen, die sie lasen, schienen geradezu versessen auf Neuigkeiten zu sein. Vielleicht war Brasilien doch kein so zurückgebliebenes Land, wie er angenommen hatte. Die Leute konnten lesen! Das Flugzeug war sauber und im Inneren frisch überholt. Der Getränkewagen bot Cola und Sprite an; Nate fühlte sich fast wie zu Hause.
Ohne die Informationsschrift über die Indianer, die er auf dem Schoß liegen hatte, weiter zu beachten, ließ er von seinem Fensterplatz in der zwanzigsten Reihe aus den Blick über die sich weithin erstreckende Hügellandschaft gleiten. Der leuchtend orangefarbene Boden war mit üppigem Grün bedeckt und in wildem Durcheinander von roten, unbefestigten Straßen durchzogen, die von einer kleinen Ansiedlung zur nächsten führten. Fernstraßen schien es so gut wie keine zu geben. Hier und da sah man eine Ranch.
Dann wurde eine befestigte Straße mit Fahrzeugen sichtbar. Die Maschine verlor an Höhe, und der Flugkapitän teilte ihnen mit, dass sie gleich in Campo Grande landen würden. In der Innenstadt drängten sich die Häuser dicht aneinander, man sah Hochhäuser, das unvermeidliche Fußballstadion und viele Straßen voller Autos. Alle Wohngebäude schienen mit roten Ziegeln gedeckt zu sein. Dank der sprichwörtlichen Tüchtigkeit einer großen Kanzlei war Nate im Besitz eines - zweifellos vom jüngsten Sozius, der für dreihundert Dollar die Stunde arbeitete, zusammengestellten - Informationsblatts, das Campo Grande auf eine Weise beschrieb, als sei die Stadt für die Angelegenheit, die zu erledigen er gekommen war, von entscheidender Bedeutung: sechshunderttausend Einwohner, Viehhandelszentrum, viele Gauchos, rasches Wachstum, moderne Infrastruktur. Zwar waren diese Angaben ganz nett, aber warum sollte er sich damit belasten? Er würde dort nicht einmal die Nacht verbringen. Der Flughafen kam ihm für eine Stadt dieser Größe bemerkenswert klein vor. Dann begriff er, dass er alles mit den Vereinigten Staaten verglich. Damit musste Schluss sein. Als er aus dem Flugzeug stieg, traf ihn die Hitze wie ein Schlag. Zwei Tage vor Weihnachten betrug die Temperatur dort mindestens zweiunddreißig Grad. Er blinzelte zur strahlenden Sonne empor und hielt sich mit einer Hand am Geländer fest, als er die Treppe zum Vorfeld hinabstieg.
Er schaffte es, im Flughafenrestaurant ein Mittagessen zu bestellen, und als es kam, sah er voll Freude, dass es sogar genießbar war. Zu einem überbackenen Hühnersandwich gab es Pommes, die so groß waren wie in irgendeinem Schnellrestaurant daheim. Während er bedächtig aß, richtete er den Blick abwechselnd auf die sonderbare Semmel, in der das Hühnerfleisch steckte, denn so eine hatte er noch nie gesehen, und auf die Landebahn. Als er mit seiner Mahlzeit zur Hälfte fertig war, landete eine zweimotorige Turboprop-Maschine von Air Pantanal und rollte ans Flughafengebäude. Sechs Personen stiegen aus.
Er hörte auf zu kauen, während er versuchte, einen plötzlichen Anflug von Angst zu überwinden. Zubringerflüge
tauchten immer wieder in den Zeitungen und im Programm des Senders CNN auf, nur dass zu Hause niemand je etwas davon erfahren würde, wenn diese Maschine abstürzte.
Aber eigentlich sah das Flugzeug recht stabil und sauber aus. Es schien sogar ziemlich modern zu sein, und die Piloten erwiesen sich als gutgekleidete Berufsflieger. Nate aß weiter. Positiv denken, mahnte er sich.
Eine Stunde lang durchstreifte er das kleine Abfertigungsgebäude. An einem Zeitschriftenkiosk erstand er einen portugiesischen Sprachführer und begann sich Wörter einzuprägen. Er las Werbeplakate für einen Abenteuerurlaub im Pantanal, der Ökotourismus genannt wurde. Man konnte Autos mieten. Es gab einen Stand, wo man Geld wechseln konnte, eine Bar mit Bierreklamen und auf einem Regal aufgereihte Whiskyflaschen. In der Nähe des Haupteingangs stand ein schlanker künstlicher Weihnachtsbaum mit einer einzelnen Lichterkette. Nate sah zu, wie die Birnchen zu den Klängen eines brasilianischen Weihnachtslieds aufblinkten, und musste trotz aller Mühe, es nicht zu tun, unwillkürlich an seine Kinder denken.
Es war der Tag vor Heiligabend. Nicht alle Erinnerungen waren quälend.
Er bestieg das Flugzeug mit zusammengebissenen Zähnen und durchgedrücktem Rückgrat und schlief fast die ganze Stunde, die der Flug bis Corumba dauerte. Der kleine Flughafen dort war voller Bolivianer, die auf einen Flug nach Santa Cruz warteten. Sie waren mit Kartons und Taschen beladen, die von Weihnachtsgeschenken überquollen.
Vor dem Flughafengebäude war die Luft drückend schwül. Nate trieb einen Taxifahrer in einem alten, ungepflegten Mazda auf, der kein Wort Englisch konnte. Doch nachdem er ihm die Wörter »Hotel Palace« auf seinem Reiseplan gezeigt hatte, ging die Fahrt los. Im Wagen war es heiß und stickig.
Corumba habe neunzigtausend Einwohner, erfuhr er aus einem weiteren der von Joshs Mitarbeiter ausgearbeiteten Merkblätter. Die Stadt liege nahe der bolivianischen Grenze am Fluss Paraguay und schmücke sich schon seit langem mit der Bezeichnung >Hauptstadt des Pantanal<. Der Verkehr auf dem Fluss und der Handel, dem die Stadt ihre Entstehung verdanke, werde wohl auch ihren Weiterbestand sichern.
Corumba machte auf Nate einen angenehmen Eindruck und wirkte in keiner Weise hektisch. Die baumbestandenen breiten Straßen waren gepflastert. Händler saßen im Schatten vor ihrem Ladeneingang und unterhielten sich miteinander, während sie auf Kunden warteten. Halbwüchsige flitzten auf ihren Motorrollern zwischen den Autos umher. Barfüssige Kinder schleckten an Tischen auf den Bürgersteigen ihr Eis.
Während sich das Taxi dem Geschäftsviertel näherte, wurde der Autoverkehr immer dichter, bis er ganz zum Stillstand kam. Der Fahrer murmelte etwas, schien aber nicht weiter beunruhigt zu sein. In New York oder W a-shington hätte ein Taxifahrer in einer solchen Situation und bei dieser Hitze vor einem Gewaltausbruch gestanden.
Aber hier waren sie in Brasilien. In Südamerika gingen die Uhren langsamer. Nichts hatte Eile. Zeit war nicht so wichtig. Nimm deine Uhr ab, sagte sich Nate. Er nahm sie aber doch nicht ab, schloss statt dessen die Augen und atmete die schwüle Luft ein.
Das Hotel lag mitten in der Stadt an einer Straße, die mit leichtem Gefalle zum Fluss Paraguay hinabführte, der majestätisch in der Ferne blinkte. Nate gab dem Taxifahrer eine Handvoll Reais und wartete geduldig auf sein Wechselgeld. Er brachte ein klägliches »Obrigado« heraus, um dem Fahrer zu danken. Dieser lächelte und sagte etwas, was er nicht verstand. Die Türen zur Hotelhalle standen offen, wie alle Türen in Corumba, die auf die Bürgersteige führten.
Die ersten Wörter, die er beim Eintritt hörte, wurden von jemandem aus Texas geschrien. Ein Trupp von Rowdys, die getrunken hatten und in festlicher Stimmung zu sein schienen, verließ gerade das Hotel. Sie wollten offenbar rechtzeitig zu den Feiertagen nach Hause kommen. Nate setzte sich in die Nähe eines Fernsehgeräts und wartete, bis sie verschwanden.
Sein Zimmer lag im siebten Stock. Für achtzehn Dollar am Tag bekam er einen Raum, der knapp fünfzehn Quadratmeter groß war und in dem ein schmales Bett stand. Sofern es eine Matratze hatte, musste die ziemlich dünn sein, denn man lag dicht über dem Fußboden. Von Sprungfedern war nichts zu sehen. Außerdem gab es einen Tisch, einen Stuhl, eine am Fenster angebrachte Klimaanlage, einen kleinen Kühlschrank mit Flaschen voll Wasser, Cola und Bier sowie ein sauberes Badezimmer mit Seife und vielen Handtüchern. Gar nicht so schlecht, sagte sich Nate. Das war ein Abenteuer. Es war kein Luxushotel, aber bestimmt konnte man da leben.
Eine halbe Stunde lang versuchte er Josh anzurufen, doch die Sprachbarriere war unüberwindlich. Der Hotelangestellte am Empfang konnte zwar genug Englisch, um ihn mit der Auslandsvermittlung zu verbinden, aber von da an ging es nur noch auf portugiesisch weiter. Er probierte sein neues Mobiltelefon aus, aber offensichtlich lag Corumba in einem Funkloch.
Er streckte seinen müden Körper auf der ganzen Länge des klapprigen Betts aus und schlief ein.
Valdir Ruiz war zweiundfünfzig Jahre alt, klein, hatte eine schmale Taille, olivbraune Haut und trug die wenigen Haare, die ihm geblieben waren, nach hinten gekämmt. Sie glänzten ölig. Seine schwarzen Augen waren von zahlreichen Fältchen umgeben, Ergebnis dreißigjährigen starken Rauchens. Als Siebzehnjähriger hatte er ein Jahr lang mit einem Stipendium der Rotarier als Austauschstudent bei einer Familie in lowa gelebt und war stolz auf sein Englisch, für das er normalerweise in Corumba nicht viel Verwendung hatte. Um in Übung zu bleiben, sah er sich abends meist CNN und amerikanische Unterhaltungsprogramme an.
Nach dem Jahr in lowa hatte Valdir Ruiz ein Hochschulvorbereitungsjahr in Campo Grande absolviert und dann in Rio Jura studiert. Nur zögernd war er nach Corumba zurückgekehrt, um in der kleinen Kanzlei seines Onkels zu arbeiten und sich um seine Eltern zu kümmern. Länger als ihm lieb war, hatte er den gemächlichen Rhythmus einer Anwaltstätigkeit in Corumba ertragen und gleichzeitig davon geträumt, wie es in der großen Stadt gewesen wäre.
Aber er war ein freundlicher Mann und, wie die meisten Brasilianer, mit dem Leben zufrieden. Er führte seine kleine Kanzlei, die lediglich aus ihm selbst und einer Sekretärin bestand, sehr effizient. Die Sekretärin versah den Telefondienst und tippte für ihn. Am liebsten waren ihm Immobiliengeschäfte, Grundbucheintragungen, Kaufverträge und dergleichen. Valdir Ruiz war nie als Prozessanwalt tätig geworden. Das lag in erster Linie daran, dass in Brasilien das Auftreten vor Gericht nicht zum Alltag eines Anwalts gehört, denn da man dort nicht wegen jeder Kleinigkeit vor Gericht zieht, sind Prozesse eher selten. Ruiz war erstaunt darüber, was Anwälte im Sender CNN sagten und was man dort über ihr Tun erfuhr. Warum lenken sie die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit so sehr auf sich? hatte er sich oft gefragt. Ein Anwalt, der Pressekonferenzen gibt und von einer Talkshow zur nächsten eilt, um sich dort über seine Mandanten auszulassen - so etwas war in Brasilien unerhört. Senhor Ruiz' Kanzlei lag drei Querstraßen von Nates Hotel entfernt auf einem ausgedehnten schattigen Grundstück, das sein Onkel vor Jahrzehnten erworben hatte. Da dicke Bäume mit ihrem Laub das Dach des Gebäudes beschatteten, standen die Fenster trotz der Hitze offen. Senhor Ruiz mochte die schwache Geräuschkulisse, die von der Straße hereindrang. Um Viertel nach drei sah er, dass ein Mann, den er nicht kannte, vor dem Haus stehen blieb und es musterte. Er war ganz offensichtlich Ausländer, und zwar Amerikaner. Das konnte nur Mr. O'Riley sein.
Die Sekretärin brachte ihnen cafezinho, den starken schwarzen Kaffee mit reichlich Zucker, den Brasilianer den ganzen Tag aus winzigen Tässchen schlürfen, und Nate war sogleich geradezu süchtig danach. Er saß in Senhor Ruiz' Büro und bewunderte seine Umgebung: den quietschenden Ventilator an der Decke, die offenen Fenster, durch welche die Geräusche der Straße gedämpft hereindrangen, die ordentlichen Reihen verstaubter Akten in Regalen, die hinter Valdir standen - sie redeten einander bereits mit Vornamen an -, den abgetretenen Dielenboden zu ihren Füssen. Im Raum war es ziemlich warm, aber durchaus erträglich. Nate kam sich vor wie in einem vor fünfzig Jahren gedrehten Film.
Valdir rief in Washington an und bekam Josh an den Apparat. Sie unterhielten sich kurz, dann reichte er den Hörer über den Tisch. »Hallo, Josh«, sagte Nate. Josh war erkennbar erleichtert, seine Stimme zu hören. Nate berichtete ihm über den Flug nach Corumba und betonte, dass es ihm gut ging, er nach wie vor nüchtern war und sich auf den Rest des Abenteuers freute.
Valdir machte sich in einer Ecke des Raumes mit einer Akte zu schaffen. Obwohl er so tat, als interessiere ihn das Gespräch nicht im geringsten, bekam er jedes Wort mit. Warum nur mochte dieser Nate O'Riley so stolz darauf sein, dass er nüchtern war?
Nach dem Telefongespräch holte Valdir eine große Verkehrskarte des Staates Mato Grosso do Sul heraus, der etwa dieselbe Größe wie Texas hat, und entfaltete sie. Er zeigte auf das gelb schattierte Schwemmland des Pantanal. Es nahm den gesamten Nordwesten des Staates ein und erstreckte sich nach Norden ins Mato Grosso und westlich bis nach Bolivien. Hunderte von Flussläufen und kleineren Ge wässern durchzogen das Gebiet. Man sah auf der Karte weder kleine noch große Städte, weder Straßen noch Autobahnen. Zweihundertfünfzigtausend Quadratkilometer Sumpf, erinnerte sich Nate, hatte er in einer der zahlreichen Beschreibungen gelesen, die ihm Josh auf die Reise mitgegeben hatte.
Valdir steckte sich eine Zigarette an, während sie gemeinsam die Karte betrachteten. Er hatte seine Hausaufgaben gemacht. Am westlichen Rand der Karte in der Nähe der bolivianischen Grenze waren vier rote Kreuze eingezeichnet.
»Dort leben Eingeborenenstämme«, sagte er und wies auf die Kreuze. »Guato und Ipica.«
»Wie groß sind die?« fragte Nate und beugte sich dicht über die Karte. Es war sein erster Blick auf das engere Gebiet, das er auf der Suche nach Rachel Lane durchforschen sollte.
»Das weiß niemand genau«, sagte Valdir sehr langsam und betont. Er gab sich große Mühe, den Amerikaner mit seinem Englisch zu beeindrucken. »Vor hundert Jahren gab es sehr viel mehr von ihnen. Aber mit jeder Generation nimmt die Zahl der Stammesangehörigen ab.«
»Wie viel Kontakt haben sie mit der Außenwelt?« wollte Nate wissen.
» Sie kommen mit ihr kaum in Berührung. Ihre Kultur ist in tausend Jahren unverändert geblieben. Sie treiben einen gewissen Handel mit den Besatzungen der Flussboote, haben aber nicht das Bedürfnis, ihr Leben zu ändern.«
»Und weiß man, wo sich die Missionare aufhalten?«
»Schwer zu sagen. Ich habe mit dem für den Südteil des Mato Grosso zuständigen Gesundheitsminister gesprochen, den ich persönlich kenne. In seinem Ministerium hat man eine ungefähre Vorstellung davon, wo die Missionare tätig sind. Außerdem habe ich Kontakt mit einem Vertreter der FUNAI aufgenommen, unserer für Indianerfragen zuständigen Behörde.« Valdir wies auf zwei der Kreuze. »Hier leben Guato. Wahrscheinlich leben dort Missionare.«
»Und sind ihre Namen bekannt?« fragte Nate, doch hätte er sich die Frage ebenso gut sparen können. Einer weiteren Aktennotiz Joshs zufolge war Valdir der Name Rachel Lane nicht mitgeteilt worden. Man hatte ihm lediglich gesagt, dass die gesuchte Frau für World Tribes Missions arbeitete.
Valdir schüttelte lächelnd den Kopf. »Das wäre zu einfach. Sie müssen verstehen, dass mindestens zwanzig
verschiedene amerikanische und kanadische Organisationen Missionare nach Brasilien entsandt haben. Es ist nicht schwer, in unser Land zu gelangen, und jeder kann sich hier ungehindert bewegen. Das gilt vor allem in den unentwickelten Gebieten. Niemand kümmert sich so recht darum, wer sich da draußen aufhält und was die Leute da treiben. Wir sind der Ansicht, wenn es Missionare sind, kann es nichts Schlechtes sein.«
Nate zeigte auf Corumba und dann auf das dem Ort am nächsten liegende rote Kreuz. »Wie lange dauert es von hier bis da?«
»Kommt drauf an. Mit dem Flugzeug etwa eine Stunde. Mit dem Boot zwischen drei und fünf Tagen.«
»Und wo ist dann mein Flugzeug?«
»So einfach ist das nicht«, sagte Valdir und holte eine weitere Karte hervor. Er entrollte sie und legte sie auf die erste. »Das ist eine topographische Karte des Pantanal, und das hier sind fazen-das.«
»Was ist das?«
»Fazendas? Große landwirtschaftliche Betriebe.«
»Ich dachte, das ist alles Sumpf.«
»Nein. Viele Gebiete liegen gerade hoch genug, dass man auf ihnen Viehzucht treiben kann. Die Fazendas hat man vor zweihundert Jahren angelegt. Sie werden nach wie vor von den pan-taneiros betrieben. Nur wenige von ihnen sind mit Booten zu erreichen, weshalb die Leute Kleinflugzeuge benutzen. Die Start-und Landepisten sind blau gekennzeichnet.«
Nate sah, dass es in der Nähe der Indianergebiete nur sehr wenige solche Pisten gab.
Valdir fuhr fort: »Selbst wenn Sie dahin fliegen würden, müssten Sie anschließend mit einem Boot weiterfahren, um zu den Indianern zu gelangen.«
»Wie sehen diese Pisten aus?«
»Es sind Grasbahnen. Manchmal werden sie abgemäht, manchmal nicht. Die Kühe bereiten die größten Schwierigkeiten.«
»Wieso das?«
»Nun ja, sie fressen gern Gras. Manchmal ist eine Landung schwierig, weil sie gerade die Landebahn abfressen.« Er sagte das ohne die geringste Absicht, witzig zu sein.
»Kann man die denn nicht verscheuchen?«
»Ja, wenn man weiß, dass jemand kommt. Aber es gibt keine Telefone.«
»Auf den Fazendas gibt es keine Telefone?«
»Nein. Sie liegen sehr abgeschieden.«
»Ich könnte also nicht einfach ins Pantanal fliegen und mir dann ein Boot mieten, um die Indianer zu suchen?« »Nein. Alle Flussboote sind hier in Corumba, und auch die Führer. «
Nate betrachtete aufmerksam die Karte, vor allem den Paraguay, der sich nordwärts in Richtung auf die Indianersiedlungen zuschlängelte. Irgendwo an diesem Fluss, hoffentlich in seiner Nähe, lebte inmitten dieses ungeheuer großen Schwemmlandes eine einfache Dienerin Gottes tagein, tagaus in Frieden und Ruhe vor sich hin, beschäftigte sich nur wenig mit der Zukunft und hütete still ihre Herde.
Sie musste er finden.
»Ich würde das Gebiet zumindest gern mal überfliegen.«
Valdir rollte die Karte wieder zusammen, die sie zuletzt betrachtet hatten. »Ich kann ein Flugzeug und einen Piloten besorgen.«
»Und was ist mit einem Boot?«
»Ich versuche es. Wir befinden uns mitten in der Zeit des Hochwassers, da werden die meisten Boote gebraucht. Um diese Jahreszeit herrscht mehr Verkehr auf dem Fluss.«
Wie aufmerksam von Troy, sich während der Regenzeit umzubringen. Soweit er aus den ihm von der Kanzlei zur Verfügung gestellten Unterlagen wusste, begannen die Regenfälle im November und dauerten bis Februar. Während dieser Zeit waren alle tiefliegenden Gebiete und viele der Fazendas überschwemmt.
»Ich muss Sie aber darauf hinweisen«, sagte Valdir, während er sich eine weitere Zigarette ansteckte und auch die erste Karte zusammenfaltete, »dass das Fliegen nicht ungefährlich ist. Die Flugzeuge sind klein, und wenn es Ärger mit den Motoren gibt, nun ja... « Er verstummte, während er die Augen rollte und die Achseln zuckte, als sei alle Hoffnung dahin.
»Was heißt das?«
»Nun ja - es gibt nirgends eine Möglichkeit zur Notlandung. Vorigen Monat musste eine Maschine runter. Man hat sie in der Nähe eines Flussufers gefunden, inmitten von Kaimanen.«
»Was war mit den Fluggästen?« fragte Nate und fürchtete die Antwort.
»Fragen Sie die Kaimane.«
»Lassen Sie uns von etwas anderem reden.«
»Noch etwas Kaffee?«
»Ja, gern.«
Valdir gab seiner Sekretärin Anweisung, weiteren Kaffee zu bringen. Dann traten er und Nate ans Fenster und sahen auf den Verkehr hinaus. »Ich glaube, ich habe einen Führer für Sie gefunden«, sagte er.
»Gut. Kann er Englisch?«
»Ja, sogar sehr gut. Er ist noch jung, hat kürzlich den Militärdienst hinter sich gebracht. Ein prächtiger Junge.
Sein Vater war Flusslotse.«
»Wie schön.«
Valdir trat an seinen Schreibtisch und nahm den Hörer ab. Die Sekretärin brachte Nate ein weiteres Tässchen cafezinho, das er am Fenster stehend schlürfte. Auf der anderen Straßenseite lag ein kleines Lokal, vor dem unter einer Markise drei Tische auf dem Gehweg standen. Eine rote Reklame pries Antartica-Bier an. Zwei Männer, die zwar ihre Jacketts abgelegt hatten, nicht aber ihre Krawatten, saßen vor einer großen Flasche Antartica an einem Tisch. Es war eine vollkommene Situation - ein heißer Tag, festliche Stimmung, ein kaltes Getränk, das zwei gute Freunde im Schatten sitzend gemeinsam einnahmen.
Mit einem Mal überkam Nate ein Schwindelgefühl. Die Bierreklame verschwamm ihm vor den Augen. Das Bild, das er gesehen hatte, verschwand, kam dann wieder. Sein Herz hämmerte, und sein Atem stockte. Er hielt sich an der Fensterbank fest, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Da seine Hände zitterten, stellte er die Kaffeetasse auf einen Tisch. Valdir stand hinter ihm und sagte etwas in schnellem Portugiesisch, ohne etwas zu merken.
Der Schweiß lief ihm in Strömen von der Stirn in die Augen. Er konnte das Bier schmecken. Er kam ins Rutschen. Ein Riss in der Rüstung. Die Mauer der Entschlossenheit, die er in den letzten vier Monaten gemeinsam mit Sergio aufgebaut hatte, begann zu wanken. Nate holte tief Luft und konzentrierte sich. Der Moment würde vorübergehen, das wusste er. Er hatte das schon oft erlebt.
Er nahm die Tasse und trank entschlossen den Kaffee, während Valdir auflegte und ihm mitteilte, dass der Pilot keine rechte Lust habe, am Heiligabend irgendwohin zu fliegen. Nate setzte sich wieder auf seinen Stuhl unter dem quietschenden Ventilator. » Bieten Sie ihm mehr Geld an«, sagte er.
Der nordamerikanische Anwalt Mr. Josh Stafford hatte Valdir bereits gesagt, dass bei diesem Unternehmen Geld keine Rolle spiele. »Er ruft mich in einer Stunde zurück«, sagte er.
Nate war zum Aufbruch bereit. Er nahm sein nagelneues Mobiltelefon heraus, und Valdir half ihm, einen Angestellten der Telefongesellschaft AT & T aufzutreiben, der Englisch sprach. Um das Telefon auszuprobieren, wählte Nate Sergios Nummer und landete auf dessen Anrufbeantworter. Dann rief er seine Sekretärin Alice an und wünschte ihr fröhliche Weihnachten.
Das Telefon funktionierte glänzend. Nate war sehr stolz darauf. Er dankte Valdir und verließ das Büro. Sie hatten vereinbart, vor dem Abend noch einmal miteinander zu reden.
Er ging auf den Fluss zu, der nur wenige Häuserblocks von der Kanzlei entfernt lag. In einem kleinen Park stellten Arbeiter Stühle für ein weihnachtliches Konzert auf. Der Spätnachmittag war schwül; Nates Hemd klebte ihm schweißnass auf der Brust. Der kleine Vorfall in Valdirs Kanzlei hatte ihm mehr Angst eingejagt, als er sich eingestehen mochte. Er setzte sich auf die Kante eines Picknicktischs und starrte auf das große Pantanal, das vor ihm lag. Ein verwahrlost wirkender Halbwüchsiger tauchte aus dem Nichts auf und wollte ihm Marihuana verkaufen. Er hatte es in winzigen Tütchen abgepackt, die er in einem kleinen hölzernen Kasten bei sich trug. Nate winkte ab. Vielleicht in einem anderen Leben.
Ein Musiker begann seine Gitarre zu stimmen, und langsam sammelte sich eine Menschenmenge um ihn, während die Sonne hinter den nicht besonders fernen Bergen Boliviens versank.